Tuesday, May 29, 2007

Jerusalemtag 2007

40 Jahre: Wiedervereinigung Jerusalems

Israel feiert gern. Es gibt religiöse und politische Festtage, die beide sehr bewegend und intensiv gefeiert werden. Beide trennen aber Israelis von Palästinensern, wie auch die moslemischen Feiertage Ost-Jerusalem verändern und West-Jerusalem unberührt lassen. Ein politischer Festtag Israels fand eben am 16. Mai statt: "40 Jahre Wiedervereinigung Jerusalems". An manchen Stellen hieß es auch „Befreiung Jerusalems“. Nach dem Sechstagekrieg (1967) wurden die beiden Teile Jerusalems vereinigt, die Flagge mit dem Davidsstern auf dem Tempelberg gehisst. Juden konnten ungehindert zur Klagemauer ziehen um dort zu beten.
Für die Palästinenser, die in Jerusalem und in den annektierten Gebieten der erweiterten Stadt wohnen, für die Flüchtlinge und Vertriebenen in der Westbank und in den Nachbarstaaten ist es der Beginn der Okkupation Ostjerusalems und Palästinas. Es ist nicht nur die Erinnerung an eine Niederlage, sondern der Beginn eines Zustandes, den sie als unerträglich empfinden. Die Kontrollpunkte um Jerusalem herum sind an solchen „Feiertagen“ für jüngere Männer aus Palästina gesperrt, alle Tore der Altstadt gesichert, so dass auch dort jüngere Männer kontrolliert und abgewiesen werden können. Und die Zufahrtsstraßen zur Altstadt sind von Ost-Jerusalem her für den Verkehr blockiert.
Für Palästinenser aus Ostjerusalem ist dies ein Tag voller Stress. Am frühen Abend verschließen auch die letzten Händler im christlichen und muslimischen Viertel der Altstadt ihre Läden, weil gleich die Horden der Siedlerjugend Israels durch die engen Gassen der Altstadt stürmen und krakeelen werden. Aber das wusste ich nicht. Keiner konnte genau sagen, wann und von wo der angekündigte Zug auf die ummauerte alte Stadt beginnen würde. Ich hielt mich den ganzen Nachmittag lang vor den Toren der Altstadt auf. Anlass war eine handfeste Auseinandersetzung gewesen, bei der Soldaten einen Mann abgewiesen und dann festgenommen hatten. Leider war ich allein, weil meine beiden Kolleginnen wie immer Mittwoch nachmittags im Beduinenlager waren. Wegen der gesperrten Zufahrtsstraßen saßen sie dann 1 ½ Stunde im Bus, der, wie sie sagten, „fast bis Jericho“ ausweichen musste. Ich stand also am Jaffator. Der heftige Regenguss war abgeklungen, ich war nass, mir wurde kalt und es war doch erst vier Uhr.

Zunächst sah das alles ganz friedlich aus. Die Familien und kleinen Gruppen festlich gestimmter Pilger nutzten das alte Tor mit dem arabischen Namen Bab Al Khalil, um durch die Altstadt zur Klagemauer zu laufen. Soldaten waren in größerer Zahl aufgezogen. Dann kamen die ersten Jugendgruppen, eher kämpferisch gestimmt. Sie sammelten sich vor dem Tor, bildeten einen Kreis, tanzten und zogen dann laut in die alte Stadt. Und schließlich, da war ich zum Damaskustor gegangen, um meine beiden Kolleginnen zu treffen, und es war schon dunkel, so dass ich keine Fotos mehr machen konnte, ohne mich zu gefährden – schließlich kamen die Jugendlichen in regelrechten Trupps, begleitet und angefeuert von Erwachsenen, teilweise ehrwürdigen Rabbinern im schwarzen Habbit und mit langem Bart. Sie stampften mit den Beinen einen harten Rhythmus, skandierten Rufe, die offensichtlich der anhaltenden "Befreiung" Jerusalems galten, und stürmten dann mit Gebrüll durch das Tor. Soldaten hatten vorher das Tor frei geräumt, alle Palästinenser abgedrängt und zum nächsten, weiter östlich gelegenen Tor geschickt, weil sie in akuter Gefahr waren. Die Soldaten, in Kampfuniform und bewaffnet, haben praktisch das Tor freigemacht für die Jugendlichen, die den Kampf um Jerusalem, der vor 40 Jahren stattgefunden hat, nachzuspielen.
Auf der anderen Straßenseite, wohin sich die letzten Fußgänger geflüchtet hatten, standen einige Palästinenser mit verschlossenen Gesichtern: Ihre Stadt fiel wieder in die Hände dieser von ultrarechten Rabbinern aufgehetzten Jugendbanden.Was für ein unheiliger Festtag in der Heiligen Stadt!

Mit den Augen der anderen sehen oder: Wo ich zuhause bin

Am ersten der Tage, an denen unsere Vorgänger uns in die Aufgaben des Jerusalem Teams einweisen sollten, sind wir abends ins Kino gegangen. Kino ist nicht der richtige Ausdruck, Palästinensisches Nationaltheater muss ich sagen. Und es war auch kein Spielfilm, sondern ein Dokumentarfilm über Palästinenser, die 40 Jahre nach ihrer Flucht oder Vertreibung aus Jerusalem in ihre ehemaligen Häuser oder Wohnungen zurückkehren, als Besucher. Wie sie das erleben, wie die neuen Besitzer, die in diesen Häusern oder Wohnungen längst zuhause sind, auf sie reagieren, wie der Zuschauer das nachvollzieht und hinein genommen wird in die Blicke und Erzählungen und Gespräche der alten und neuen Besitzer, das war auf der Leinwand des Nationaltheaters zu sehen und zu hören.
Gestern war ich in einem wunderschönen Konzert, in dem palästinensische Musiker klassische Musik aus Tradition und Moderne gespielt haben. Auch das war in diesem Nationaltheater, diesmal auf der Bühne, zu sehen und zu hören. Wir waren dort, die drei Jerusalemer Freiwilligen aus dem Friedensprogramm, wir haben Bekannte getroffen, Jerusalemer und Leute aus der internationalen Szene. Wir haben die Musik unterschiedlich gehört. Und das hat mich an den Dokumentarfilm vor drei Wochen erinnert.
Vierzig Jahre Flucht und Vertreibung oder Eroberung und Aufbau einer neuen Nation – wie unterschiedlich erleben Palästinenser und Israelis dieses Jahr mit der Erinnerung an die vierzig Jahre, ja, wie muss ich hier sagen, ein neutrales Wort gibt es ja nicht: 40 Jahre Wiedervereinigung, manche sprechen von Befreiung Jerusalems oder 40 Jahre Okkupation, manche sagen: Kolonialismus.


Hausabriss in Ostjerusalem


Es ging in dem Film um Palästinenser, die 1948 oder 1967 das Land verlassen hatten, oder während der Kriege im Ausland waren und danach nie mehr in ihre Heimatstadt Jerusalem zurück gelassen wurden. Ein Israeli hatte einige von ihnen ausfindig gemacht und die heutigen Besitzer oder Bewohner ihrer Häuser bzw. Wohnungen dazu überredet, sie einzuladen und ihnen ein Wiedersehen mit ihrem früheren Zuhause zu ermöglichen. Der Film wurde mit englischen Untertiteln gezeigt. Aber bei den Dialogen, die auf arabisch oder hebräisch geführt wurden, habe ich oft nur auf die Gesichter geachtet und nicht auf den Text. Besonders eindrucksvoll war die folgende Szene: Ein älteres Ehepaar, Palästinenser, die aus Jordanien angereist waren, fand mit großem Erstaunen, dass Lampen und andere Einrichtungsgegenstände noch die gleichen waren, wie zu ihrer Zeit, als das Haus ihnen gehört hatte. Sie saßen beim Tee und redeten vorsichtig und höflich miteinander, Besiegte und Sieger, Vertriebene und neue Bewohner. Der neue Hausherr, der wohl zu schätzen wusste, was für eine geschmackvolle Einrichtung er damals übernommen hatte, zeigte an dieser Stelle eine Art Schrecksekunde, in der er still war. Dann sah er sich erneut im Wohnzimmer um, als sehe er alles zum ersten Mal. Schließlich fand er seine Sprache wieder und er fragte seinen Gast, dann sei das jetzt für ihn sicher ein ganz schmerzliches Wiedersehen mit seiner Kindheit und Jugend. Ja, sagte der, und hatte Tränen in den Augen. Der Blick des neuen Besitzers, der 4 Jahrzehnte lang ohne viele Gedanken an die Bewohner und Eigentümer dieses Haus bewohnt hatte, erkannte mit einem Mal die befremdliche Situation: Hier war ein weiteres Ehepaar, das dieses Haus als ihr Zuhause ansah. In den Augen der beiden Palästinenser dagegen war Schmerz, Verlust und Demütigung zu sehen, neben der kleinen Genugtuung, dass ihre kostbare Einrichtung geehrt und gepflegt worden war.
Beide Augenpaare verrieten etwas von der Widersinnigkeit des Kampfes um dieses Land Palästina/Israel: Es ist das Zuhause zweier Völker. Die Palästinenser haben die Vergangenheit auf ihrer Seite, die Israelis die Macht.
Der Film zeigte viel von der Ausweglosigkeit, in der Menschen sich begegnen konnten, ohne das geschehene Unrecht zu leugnen oder einzuklagen.
Groß war die Trauer, die in den Augen der Verlierer ihrer Vergangenheit stand.
Schön war in diesem Film, dass die Wahrheit sichtbar werden konnt, auch wenn keine Lösung in Sicht war.
Nachlese 1: Ich war mit Tlago im Film, der Freiwilligen aus Südafrika. Ich erzählte ihr von dem Buch, das ich gerade verschenkt hatte und selber lesen wollte, das genau von diesem Moment der Erkenntnis ausgeht. Angelika Schrobsdorff („Jerusalem war immer eine schwere Adresse“) fängt ihre Erzählung der Zeit des Palästinenseraufstandes damit an, dass sie erkennt, dass das Haus, in dem sie in Jerusalem wohnt, vertriebenen Palästinensern gehört. Sie ist mit ihren Eltern aus Deutschland vertrieben worden, das Haus ihrer Kindheit ist damals von Deutschen in Besitz genommen worden, Nutznießern des Faschismus. Die Erkenntnis öffnet ihr die Augen für die beklemmende Situation ihrer neuen Heimat. Im Film war eine ähnliche Szene gezeigt worden, wo ein altes Ehepaar offensichtlich aus Deutschland kommend, damals glücklich in das Haus gezogen war, ohne zu ahnen, warum die Besitzer verschwunden waren. Wir sind enteignet und vertrieben worden, sagt der Palästinenser. Aber sie haben doch eine Wiedergutmachung erhalten, sagt die Frau, die dem Faschismus in Deutschland entkommen ist. Nein, sagt der Palästinenser, anders als sie haben wir keine Entschädigung bekommen.
Wir laufen während dieses Nachgespräches durch die Altstadt von Jerusalem. Es ist dunkel. Die Läden sind längst geschlossen. Die Gassen leer. Wir reden leise, weil man das Gefühl hat, dass die ganze Altstadt schläft.
Nachtrag 2: Tlago hat mir mit Ungeduld zugehört. Ihre Eltern sind auch vertrieben worden, in den 50iger Jahren aus Johannesburg, in die Townships von Soweto raus. Ich frage nach, wie weit die Verhandlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission gekommen ist, bei denen es um die Entschädigung der Apartheidsopfer gehen sollte. Gar nicht weiter, sagt Tlago. Und erzählt von einer Gruppe junger Schwarzer, die sich organisiert haben, um mehr Druck auf die Regierung zu machen und Entschädigungen einzuklagen. Und die sind verhaftet und verklagt worden, bricht es aus ihr heraus. Was?! Von der Regierung des Neuen Südafrika. Ja, sagt sie, genau von der. Und im Vergleich zu der Situation, die im Film gezeigt worden war, fügt sie hinzu: Unser Land gehört uns immer noch nicht.



Lifta, ein palästinensisches Dorf, aus dem die Bewohner 1947 vertrieben worden sind. Die Häuser sind immer noch ihr Eigentum, aber sie dürfen nicht nach Jerusalem kommen, schon gar nicht hier wohnen


Mit meinen Augen möchte ich für Palästina/Israel eine baldige Lösung des Streites um dieses Land sehen; ich bin ungeduldig. Tlago sieht einen langen Weg für die Palästinenser, die mehr verloren haben, als man ihnen kurzerhand wiedergeben könnte; bei ihr überwiegt der Zorn.

Zurück in Jerusalem

Mai 2007, ich bin zurück in Jerusalem. Bevor das Vorbereitungsseminar für unser Ökumenisches Friedensprogramm beginnt, habe ich Zeit für einen Spaziergang. Der führt mich durch die Märkte der Altstadt, an verschiedenen Kirchen vorbei zu den zwei Heiligen Stätten, die untrennbar voneinander den Mittelpunkt des Konfliktes darstellen: Die westliche Mauer des Tempelberges und der Heilige Bezirk mit Al Aqsa Moschee und Felsendom. Ich sehe auch auf die Ausgrabungsarbeiten, von denen wir einige Wochen zuvor gehört hatten: Sie haben Proteste und Unruhen ausgelöst, weil zu befürchten war, dass sie Schäden an der Al-Aqsa-Moschee verursachen könnten. Diese Stadt leidet unter der falschen Fragestellung: Wem gehört dieser Heilige Ort?

An einem der nächsten Tage machen wir eine Rundfahrt durch Jerusalem, immer wieder stoßen wir an die Barriere, die hier als 12 Meter hohe Mauer das annektierte Ostjerusalem vom besetzten Palästinensergebiet, Wohngebiete, die früher zusammengehört haben und auch Familien trennt.
Wieder einige Tage später beginnen wir unsere Arbeit. Wir stehen bei den Kontrollpunkten und beobachten den Transitverkehr von Palästinensern, die zur Arbeit, zur Schule, in die Krankenhäuser wollen, oder, am Freitag zum Gebet in der Al Aqsa Moschee oder zu Familienbesuchen unterwegs sind. Tina erzählt die Geschichte, die sie in Hebron gesehen hat, von dem Bauern, der seinen schwer bepackten Esel durch den Metalldetektor zwängen musste. Ich selbst werde meinem Lieblings-Kontrollpunkt wieder zum Narren gemacht, weil jedes Mal, wenn ich vor dem Drehgitter stehe und passieren will, das rote Licht erscheint und das Drehgitter gestoppt wird; das geht eine viertel Stunde lang, dann sehe ich einen Offizier lachend um die Ecke verschwinden und ich darf durch.

Später in der Woche, am 16. Juni, wird Israel seinen Jerusalem-Tag zur Erinnerung an die Eroberung und Befreiung Jerusalems feiern. Israelische Friedensgruppen protestieren gegen diesen Feiertag, weil sie es als feindselig gegenüber den Palästinensern empfinden, für die dieser Tag Niederlage und Verlust der Kontrolle über ihre Stadt bedeutet. Wir nehmen an einer Veranstaltung von Peace Now teil, die den Jerusalem-Tag alternativ feiern, mit der Losung: Zwei Staaten – zwei Hauptstädte. Wir treffen unter den Israelis mehrere Freunde, die sich hier kritisch gegen die offizielle Politik Israels engagieren.
An diesem Tag, dem 12. Mai, liegt ein rötlicher dichter Dunst über der Stadt. Später erfahre ich, dass dies der Chamsin war, der den Wüstenstaub über die Stadt auf dem Berge legt, das Foto zeigt es.

Wir machen einen Ausflug nach Lifta. Dieser Ort, einst größtes Dorf der Palästinenser vor Jerusalem, ist längst von den Karten Israels verschwunden. Seine Bewohner sind im Krieg von 1948 vertrieben worden und leben jetzt in Flüchtlingslagern in Palästina oder in Jordanien. Ihnen gehören die Grundstücke und die Ruinen, aber sie dürfen nicht zurück. Die Stadtverwaltung hat verschiedene Pläne, wonach hier ein Wohngebiet oder ein Park entstehen sollen. Wir sind hier mit einer israelischen Freundin, die ehrenamtlich für die Organisation Zochrot arbeitet und unter anderem mithilft, dass die Erinnerung an dieses palästinensische Dorf, sein früheres Leben und die Geschicke seiner vertriebenen Bewohner nicht verloren gehen. Die Kaktusbüsche blühen, als ob sie zeigen wollten, dass die Hoffnung nie enden sollte.