Am 6. September, dem ersten Freitag im Ramadan
Lieber Jürgen,
Vielen Dank für Deine aufmunternden Worte für meinen Abschied aus der Heiligen Stadt. Du setzt die Heilige Stadt in Anführungszeichen und schreibst in Klammern, immer noch hieltest Du an diesem Titel fest. Dazu hatte ich Dich zwar meinerseits nie ermuntert. Aber jetzt will ich darauf eingehen.
Zuerst schulde ich Dir Dank! Du hast mich auch dieses Jahr treu begleitet, bist mir auf meinen Wegen und zu den Begegnungen in Bethlehem und seinen umliegenden Dörfern und in Yanoun, dem kleinen Bergdorf gefolgt. Du hast mir geholfen, die kleinen Schrecken des Alltags und das große Entsetzen über die Folgen der Besetzung Palästinas für beide, Besetzte und Besatzer, zu reflektieren und zu ertragen. So warst Du mit mir in Bethlehem und in Yanoun. Und immer waren wir zwischendurch auch in Jerusalem, wo unser Büro ist und wo ich auch eingesetzt wurde, wenn kein anderer da war. Das war oft eine zusätzliche Last, vor allem für die Seele. Denken wir also, weil es Dir ja um die „Heilige Stadt“ ging, an Jerusalem.
In Jerusalem musste ich Hausabrisse und Vertreibung von Familien begleiten. Aber ich hatte auch Zeit, mich durch die Stadt zu bewegen, zu sitzen und auf jemanden zu warten, Teil der Menschen zu werden, die in Jerusalem leben oder sie als Ziel einer Reise erleben, als Geschäftsleute, Pilger oder Touristen. Und dann wieder die Beobachtung von Hausabrissen, von Besetzung und Raub dieser Häuser durch jüdische Siedler und Vertreibungen. Was für eine schreckliche Aufgabe! Und was für ein Abschied jetzt, zu sehen, dass sich in den drei Jahren, in denen ich diese Aufgabe wahrnehme, nichts verändert, nichts verbessert hat und dass der Mut, an eine gerechte Lösung zu glauben, gesunken ist, vor allem bei Palästinensern. Sie haben begriffen, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Die Welt sieht und sieht doch nicht, aber sie gewöhnt sich an die Zustände in Palästina und Israel. Und sie lässt das Übel gewähren. So sehen die Palästinenser das. Und halten immer noch daran fest, dass Jerusalem ihre Heilige Stadt und Palästina ihr Land ist, ein magisches Land, geschaffen für Träume und Visionen.
"Eine Frau trägt Jerusalem", Bild von Sliman Mansour
Ich stehe auf der Dachterrasse des Hotels, in dem ich die letzten zwei Nächte verbringe. Die Stadt ist nur an ihren Lichtern zu erkennen, ganz nah der so genannte Davidsturm, rundum die alte Festungsmauer aus der Glanzzeit des Osmanischen Reiches, die Altstadt mit ihren Türmen und Kuppeln, im Westen die neue jüdische Stadt und weiter an den Rändern die Siedlungen, die die Sieger der vergangenen Kriege in das ehemalige Umland gelegt haben. Dort waren früher die Dörfer der Palästinenser. Was immer man sieht, in dieser Nacht und in allen Nächten hier, es ist von diesem traumatischen Szenario bestimmt: Die Sieger übernehmen rund um die palästinensische Stadt Land um Land und mitten in ihr Haus um Haus. Es ist ihre Heilige Stadt, die Stadt unter dem Heiligen Zion. Sie haben ein Gesetz und danach ist Jerusalem die ungeteilte Hauptstadt Israels auf ewig.
Heute ist der erste Freitag im Fastenmonat. Vor vier Tagen hat der Ramadan begonnen. Ein Freitag im Fastenmonat bietet allen Muslimen im Land die Möglichkeit, ihrer Pflicht nachzukommen und in der Al Aqsa Moschee oder auf dem großen Platz vor ihr, dem Haram as-Sharif zu beten. Viele haben ihre festlichen Kleider an, weiße Gewänder und die weißem Keffiyas
Heute Abend werde ich eine Freundin in Westjerusalem besuchen. In der Synagoge nicht weit von ihrem Haus war ich schon zweimal, sie ist orthodox und gleichzeitig politisch aufgeschlossen, aber Männer und Frauen sitzen noch getrennt. Unsere Gastgeberin geht gern in eine andere, ganz kleine Synagoge, wo diese
Zwischen meinem morgendlichen Einsatz am Checkpoint und meinem Besuch im jüdischen Jerusalem hatte ich Zeit – nicht nur diesen Brief anzufangen – sonder für einen Spaziergang in der Altstadt. Ich habe eine Künstlerwerkstatt für Keramik besucht. Es ist schön, sich die großen Schalen und Vasen, die kleinen Gegenstände und Kacheln anzuschauen. Anders als die Läden, die überall in den Souks Andenken und Gebrauchskeramik mit Motiven Jerusalems anbieten, ist hier alte armenische Kunst zu sehen.
Die Heiligkeit einer solchen Vision, wie der auf der armenischen Kachel, kann ich gerne annehmen. Sie zeigt die Stadt Gottes, nicht der Menschen, wie Gott sie vorgibt und wie sie das Treiben der Menschen zum Guten wenden könnte. Diese Vision hilft mir, die Hoffnung auf ein Ende der Angst, ein Attentäter könnte sich unter die Betenden mischen, ein Ende der Angst, die Mauern und Scharfschützen braucht, ein Ende der Ohnmacht, mit der die Verlierer der Kriege Israels hier ihre Ansprüche erheben und ein Ende der Ignoranz, mit der christliche Pilger tote Steine in diesem Land anbeten und ein Ende der Besitzansprüche,– sie hilft mir, die Hoffnung auf ein Ende dieser heillosen Zeit zu bewahren.
Also, mein lieber Freund, Du hast noch in der kommenden Woche Geburtstag. Und dies hier ist mein Gruß für Dich. Die Kachel nehme ich mit auf meinen Heimweg. Wir werden uns bald sehen, aber Du sollst auch wissen, dass Du mich auf meinem letzten Gang durch die Stadt begleitet hast. Ich werde noch ein paar Fotos machen und Dir mitschicken – von der „Heiligen Stadt“, wie Du nicht lassen kannst, zu sagen.
Salaam maleikum! Und Shabbat Shalom! wie man ab heute Abend hier sagen wird! Friede sei mit Dir, wie die Anfänger unseres christlichen Glaubens sich noch begrüßt und verabschiedet haben!
Dein Gottfried