Sunday, November 26, 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem

Wenn du eine Schule schließt

Ich muss meine Notizen auswerten, die vielen kleinen Zettel verarbeiten und vernichten, weil die Zeit knapp wird.

„Wenn du eine Schule schließt, machst du ein Gefängnis auf“ – mit diesem arabischen Sprichwort hat mir ein ehemaliger Lehrer der Martin-Luther-Schule in der Altstadt von Jerusalem seinen Zorn darüber beschrieben, dass diese Schule vor 7 Jahren geschlossen worden ist. Das Problem: Die wenigen lutherischen Familien, die in Ost-Jerusalem leben, müssen ihre Kinder jetzt in die lutherischen Schulen in Bethlehem schicken und weitere Wege und den Stress der Grenzkontrollen in Kauf nehmen. „Machst du ein Gefängnis auf?“. Die Perspektive für die lutherischen Kinder ist nicht die kriminelle Karriere im Gefängnis, wie die Redensart meint, sondern die Abwanderung nach Europa und Amerika. Gespräche mit Lutheranern enden oft damit, dass die Eltern mit leuchtenden Augen von ihren Kindern erzählen, die dort sind. Warum bleiben sie dort und kommen nicht zurück? Weil sie aus diesem Gefängnis raus wollen, ist die spontane Antwort. Gemeint ist Palästina und es muss für mich so klingen wie die ideologisierte Begriffswelt zur Zeit des Kalten Krieges, wo auch die DDR als Gefängnis beschrieben wurde. Darum frage ich nach: Was macht dieses Land zum Gefängnis? Wir sind hier eingeschlossen, wir brauchen Genehmigungen für den Weg zur Arbeit, für die Fahrt in das Krankenhaus, wir werden kontrolliert, wenn wir von einer Baracke zur nächsten gehen, wir sind Gefangene im eigenen Land.

Von einem Sohn habe ich gehört, der sich in eine junge Deutsche verliebt hat. Aber eine nicht genau so junge Engländerin hat ihm angeboten, ihn zu heiraten. Diese Gelegenheit hat er genutzt. Der Vater hat einen israelischen Pass, in dem als Nationalität für in angegeben ist: Jordanier, weil er zu Zeiten der jordanischen Hoheit über Ost-Jerusalem seinen ersten Pass erhalten hat. Nun hat sein Sohn Aussicht auf einen britischen Pass, in dem dann als Nationalität stehen wird: Palästinenser. Und das ist doch besser als dieses Gefängnis hier, sagt sein Vater und meint das Leben im annektierten Ost-Jerusalem.

Die nächsten Zettel. Zwischen Telefonnummern und Verabredungen stehen die kurzen Notizen. Wenn ich hier ein Gespräch anfange, stoße ich fast immer auf diese unglaublichen Geschichten…

Der Bus, in dem ich von Nablus nach Ramallah fahre, also innerhalb der Westbank unterwegs bin, wird bei einer der Straßenkontrollen, die die Armee überall im Land errichtet hat, zur Seite gewinkt. Alle Ausweise werden eingesammelt und zum Computer-Abgleich gebracht. Das kann einige Zeit dauern. Zwei Männer steigen aus und zünden sich eine Zigarette an. Ich vertrete mir die Beine und beginne ein Gespräch. Eigentlich will er nicht sprechen, er ist zu zornig, der Mann mit der Lederjacke. Dann erzählt er, dass er viermal im israelischen Gefängnis war. Es hat ihn viel Geld und Zeit und einen guten Anwalt gekosten, um von der schwarzen Liste gestrichen zu werden. Warum war er im Gefängnis? Das hat man ihm nie gesagt. Tatsache ist, dass er das erste Mal mit 14 Jahren und für ein Jahr dort war.

Einer der Studenten, die uns durch den Campus der Universität von Nablus führen, erzählt, dass bei den Kontrollen der Ausweise zunächst die letzten drei Ziffern kontrolliert werden. Seine letzten drei Ziffern sind identisch mit denen eines Mannes, den die israelische Polizei sucht. Regelmäßig wird er festgehalten, gründlich kontrolliert und aufgehalten, bis das Missverständnis geklärt ist. Weil er das nicht mehr ertragen konnte, ist er auf Umwegen von seinem Dorf in die Uni gelaufen, statt 7 km und mit 2 Busfahrten musste er nun einen mehrstündigen Umweg über 4 Dörfer nehmen, um durch einen harmlosen Kontrollpunkt in die Stadt zu kommen. Auch das hat er nicht mehr ausgehalten. Jetzt wohnt er bei Verwandten, am Stadtrand. Das Problem ist jetzt, dass die beiden Gasteltern schon alt sind und sich nicht vertragen und auch nicht streiten können… Erst hat der Student gelacht. Dann merke ich dass er richtige Probleme hat und am Ende seiner Kräfte ist. Er kann erst wieder lachen, als er bei dem Gedanken ankommt, dass er im Stillen wünscht, der Mann mit der ähnlichen Ausweisnummer möge doch bald erwischt werden, damit er diese Verwechslung los ist.

Der Barbier von Al Khalil, der mir Haare und den Bart stutzt, zeigt mir stolz seine Diplome, die ihn als Barbier und als Karatelehrer ausweisen. Auch seine Töchter – die Fotos zeigen sie in eindrucksvollen Posen – haben seine Kunst aufgenommen. Sie haben den schwarzen Gürtel. Eigentlich will ich ihn nur für seine schnellen und erfahrenen Hände loben. Aber nun zeigt er mir mehr von seinem Leben. In der Ecke, so dass ich während der Behandlung zusehen konnte, war der Bericht von der Trauerfeier für den libanesischen Industrieminister über den Bildschirm geflimmert. Nun stehe ich mit meinem Barbier in der Ecke, weil hinter dem Fernseher die Fotos aus dem Libanon zu betrachten sind. Er war im Libanon? Ja, erzählt er, aber nicht freiwillig. Ob ich nicht die Zelte dort auf dem Foto sehen kann. Tatsächlich ist ein Berghang zu sehen, Nebel, Zelte und ein Hocker, ein Kunde mit einem Handtuch um die Schultern darauf und dahinter mein Barbier, jünger als jetzt. Die Israelis haben uns – er macht mit zwei Händen eine schiebende Bewegung – nach Libanon. Warum? Krieg! Wann? Libanon-Krieg. Die rechte Hand macht eine rollende Bewegung, also der erste Libanonkrieg. Die Zelte hier: UNO, erläutert er. Jedenfalls macht der Meister seine Arbeit seit 26 Jahren. Und ich lobe ihn noch einmal für seine guten Augen, weil er sehen konnte, welchen Haarschnitt mein Kopf gebraucht hat und für seine schnellen sicheren Hände. Und bezahle einen guten Preis.

Der Soldat, der unterhalb der Treppe steht, von der die Schulkinder kommen, will mit uns sprechen. Die Schulkinder und die Lehrerinnen, die auf diesem Weg oft von den Kindern der jüdischen Siedler angegriffen werden – erst vor einigen Tagen ist dabei eine junge schwedische Friedensaktivistin böse verletzt worden – sind heute heil und unbeschadet diese Treppe runter gegangen. Der Soldat steht unten, er hat die Begleitaktion unserer Freiwilligen beobachtet. Ich lese die Gedenktafel, auf der die Geschichte eines Massakers an Juden der Gemeinde von Hebron vor 77 Jahren beschrieben wird. Ich verpasse den Anfang des Gesprächs, will mich auch nicht neugierig einmischen. Der Soldat kennt die beiden anderen Freiwilligen, die zum Hebron-Team gehören. Ich bin fremd. Schließlich aber muss ich doch zuhören. Er ist nicht glücklich in seiner Uniform. Er sei sehr links eingestellt, beschreibt er sein Problem. Er arbeite in seiner Freizeit in einer Organisation, die Bildungsangebote für palästinensische Kinder macht. Und hier muss er stehen und die radikal-zionistischen Siedler beschützen. Dabei brauchen doch die palästinensischen Kinder Schutz. Wir wollen fragen, wie seine Kameraden sein politisches Engagement sehen. Aber der Soldat muss zum Feldtelefon gehen, das laut klingelt. Wir finden, es ist nicht passend, wenn wir stehen bleiben und auf einer Fortsetzung des Gespräches bestehen und gehen weiter.

Abu Tobi hat mir eine Mail geschrieben. Er heißt nicht Abu Tobi, das wäre sein Name, wenn er Araber wäre. Abu Tobi ist aber Israeli. Ich muss ihm antworten und werde dann auch mit Abu Tobi unterschreiben. Denn das ist es, was wir gemeinsam haben: Unser erster Sohn heißt Tobi und das würde uns in der arabischen Gesellschaft den Ehrennamen „Vater von Tobi“ eintragen. Der Unterschied ist, dass sein Sohn im letzten Libanon-Krieg gefallen ist. Meiner lebt und hat gerade eben seine Arbeitserlaubnis in Israel gekriegt. Abu Tobi, nicht ich, der israelische, ist in einer der Friedensgruppen aktiv und fest entschlossen, seine Aktivität dort fortzusetzen. Er arbeitet mit anderen Eltern, israelischen und palästinensischen, die ebenfalls einen Sohn oder andere Tote in ihrer Familie zu beklagen haben. Abu Tobi, ich bleibe für diese kurze Notiz bei dem Synonym, beanstandet an unserem Programm, dass es einseitig die Position der Palästinenser aufnehme; dass es von der “illegalen Besatzung“ und der „Gewalt der Besatzung“ spreche, die sichtbar gemacht werden solle. Ich werde mir Mühe geben und die Gewalt aufspüren, die von den militanten Palästinensern ausgeht.

Gutä Aben!, begrüßt mich der Taxifahrer, ich meine den Fahrer eines Sammeltaxe, Servis genannt. Er hat an der Bushaltestelle angehalten und mich eingeladen. Zwei Fahrgäste sitzen schon drin. Ich reiche die drei Schekel rüber, die in diesem Fall zu entrichten sind. Wie kommen Sie darauf, dass ich Deutscher bin?, frage ich. Ich habe Sie doch schon einmal gefahren… Wir werden öfter so angesprochen. Einmal habe auch ich einen Busfahrer wieder erkannt, weil er über der Frontscheibe Banknoten aus verschiedenen Ländern, eine besonders große mit dem Porträt von Saddam Hussein hatte. Dieser Taxifahrer stellt mir die Mitfahrer vor. Rechts von ihm sitzt sein Neffe, der in der Al Aqsa Moschee als Wärter arbeitet. Ich nehme das Gesprächsangebot an und frage ihn darüber aus. Aber ich mache einen Fehler. Ich biete dem Wächter an, ihn in meine Kirche mitzunehmen. Jetzt werden sie alle lebhaft. Hier kannst du in jede Moschee gehen und beten oder still sitzen! Das ist nicht der Punkt. Aber die Al- Aqsa Moschee ist Ziel der radikalen Juden, die uns die Moschee nicht lassen wollen... Ich kriege eine ganze Salve von Ereignissen und Befürchtungen zu hören, warum die Al-Aqsa Moschee zu Gebetszeiten nur für Muslime zugänglich ist. Und natürlich kann ich rein, wenn ich will: am frühen Vormittag, außer an Freitagen. Der Taxifahrer will mich zum Neuen Tor bringen, weit über seine Tarifzone hinaus. Er will weiter reden. Aber ich will beim Damaskus Tor raus und er verabschiedet mich mit drei Handschlägen, um den heftigen Disput auszugleichen. Gutä Aben! Masa lkheer!

So, ich kann wieder einige Zettel, die ich nur wegen der an die Ränder geschmierten Stichworte aufgehoben habe, wegschmeißen. Aber was mache ich mit den Bildern und den Gedankensplittern, die sich im Kopf festsetzen; die mich bis in meine Träume begleiten. Was meinst Du, Leser, soll ich damit machen?

26.11.2006

Thursday, November 23, 2006

Ein voller Tag - Zu Besuch in Bethlehem

Ein voller Tag – zu Besuch in Bethlehem
19. November 2006

Es ist Sonntag. Ich bin zu Gast beim Bethlehem-Team. Am Abend davor war Zeit, die Wohn- und Arbeitsverhältnisse des Teams in Bethlehem kennen zu lernen. Monique hatte mich von Jerusalem aus, wo sie zu tun hatte, mitgenommen. Carl, der auch im Bethlehem-Team arbeitet, war später am Abend gekommen, mit Asa, die wie ich die-sen Besuch gemacht hat. Asa arbeitet normalerweise in Yanoun, einem kleinen Dorf, das südlich von Nablus liegt und von israelischen Siedlern bedroht ist. Die gegensei-tigen Besuche der Freiwilligen gehören zum Programm dazu. Sie sollen uns ermögli-chen, die anderen Einsatzorte kennen zu lernen, auch die unterschiedlichen Arbeits-weisen der Teams. Danach sieht jeder seine eigene Situation wieder anders, also ich meine Situation in Jerusalem, mit dem anonymen urbanen Stadtleben, den vielen öffentlichen Ereignissen und den Kontakten zu beiden, palästinensischen und israeli-schen Friedensgruppen bzw. Kooperations-Zentren; aber auch mit den geringeren sozialen oder familiären Kontakten.

Es ist also Sonntag. Wir sind früh aufgestanden, kurz nach 4 Uhr. Viertel vor 5 Uhr waren wir schon am großen Kontrollpunkt, der entweder mit der Nummer 300 angegeben wird oder mit dem Namen der nächsten israelischen Siedlung, „Gilo-Kontrollpunkt“. Den Kontrollpunkt kannte ich, ich bin schon einige Male dort durch gegangen. Jetzt war es noch dunkel. Und schon lange vor der Mauer, die hier 8 Me-ter hoch ist, standen die Männer in Arbeitskleidung, die nach Jerusalem „hinüber“ wollten. Es sind meist Männer, Frauen gehen hier offensichtlich nur in geringer Zahl über die Grenze. Wir haben die Zahl der Wartenden auf ca. 800 geschätzt. Sie ste-hen dicht, zu zweit oder dritt hintereinander, nach 100 Metern beginnt ein doppelter Gang, mit festem Metallgitter eingezäunt, für jede Richtung, nach und von Jerusa-lem. Es ist ein Gang, ein Meter breit, in dem man sich wie Vieh fühlt, das zur Schur, oder zur Waage oder zur Schlachtung geführt wird. Menschen mit Klaustrophobie müssen diese Gitter-Tunnel, die etwa 400 Meter lang sind, fürchten. Jetzt, vor 5 Uhr, ist der Weg in das Terminal hinein voll von Wartenden. Wir gehen an ihnen vorbei und stellen uns am Ende auf, wo dieTür, die in das Terminal hinein führt, geschlos-sen ist und warten. Schon bei diesem Gang an den Wartenden vorbei grüßen uns einige der Männer oder rufen uns etwas zu. Viertel nach 5 Uhr, 15 Minuten über die Zeit des Abfertigungsbeginnes hinaus, ist die Tür immer noch verschlossen. Monique telefoniert mit der Verbindungsstelle der Armee. Wieder 5 Minuten später – die Män-ner werden laut und verlangen, dass geöffnet wird – telefoniert sie mit der Komman-dozentrale im Grenzpunkt. Und da kommt ein Soldat, setzt sich in das Wachhäu-schen, das wir drinnen sehen können, und öffnet die Tür.

Wir haben uns dann auf verschiedene Abschnitte aufgeteilt. Wenn man die erste Tür in der Mauer und die Drehtür gleich dahinter mit einrechnet, muss der Passant durch fünf Türen bzw. Drehtüren gehen, die dritte ist die Sicherheitskontrolle mit den scharf eingestellten Metall-Detektoren und die fünfte ist die Personenkontrolle. Der Passant muss über einen großen Hof gehen, mit der Mauer im Rücken und dem eigentlichen Terminal vor sich. Auf der Mauer, steht in Riesenlettern: „Willkommen im Heiligen Land!“, das sieht aber nur der nach Bethlehem Reisende bzw. die zurück kehrenden Arbeiter am Abend, wenn sie nach Hause, nach Bethlehem wollen. Vor dem Termi-nal hängen nun die ersten Schilder mit Anweisungen, in der Sprache freundlich gehalten, als handle es sich um einen Gang durch ein Einkaufszentrum. Im Terminal selber „hängen“ über den Kontrollanlagen Metallgänge, auf denen gelegentlich Sol-daten stehen oder patrouillieren, schwer bewaffnet, allein oder zu zweien. Überall hängen Kameras. Der Effekt ist: dass man unvermittelt über seinem Kopf einen Sol-datenstiefel wahrnimmt und dann erinnert wird, dass die ganze Anlage eine Militäran-lage ist. Und manchmal wird man angerufen, immer in diesem überdrehten Lautsprecherton, der einen zusammen fahren lässt: Weitergehen! Zieh deine Schuhe aus! Geh zurück! Halt deinen Ausweis hoch! Und so fort.

Die Atmosphäre, die ein solches „Terminal“ ausstrahlt, ist bedrohlich und feindselig. Manchmal äußert sich einer der Palästinenser dazu. Ich werde die Studentin, die das zum ersten Mal in gutem Englisch und in sehr zurückhaltenden Worten getan hat, nicht vergessen: „Hier gehen wir von einem Teil unseres Lebens in einen anderen, von einem Teil unseres Landes in einen anderen. Bethlehem ist auch unsere Ge-burtsstadt, nicht nur die von Jesus. Und Jerusalem ist unsere Hauptstadt. Warum zwingt man uns durch diese schreckliche Anlage, die uns klein und furchtsam macht?!“

Wir zählen die offenen Fenster, die Personenkontrollen, hinter denen Ausweis und Arbeitsgenehmigungen überprüft werden. Heute sind es zwischen vier und fünf (von insgesamt acht). Manchmal wird eines geschlossen, wenn eine der meist jungen weiblichen Beamtinnen der Grenzpolizei, das Gewehr umgehängt, ihre Kabine ver-lässt, vielleicht für einen Kaffee, vielleicht für den Gang zur Toilette. Für die „Passan-ten“, die hier jeden Tag durch müssen, ist beides undenkbar, hier gibt es weder Kaf-fee noch eine Toilette. Viele trinken erst an ihrem Arbeitsplatz, weil jedes Bedürfnis, das innerhalb dieser unfreundlichen Anlage auftaucht, sehr lästig werden kann. Wenn eine Beamtin ihre Arbeit unterbricht, rennen alle aus dieser Schlange nach links oder rechts und dann beginnt ein Drängeln, Streiten und manchmal, oder eher selten, auch ein Handgemenge. Und immer ist jemand da, der einen der Streitenden zu sich heran zieht, komm hierher, sagt der dann wohl, hält den Widerstrebenden fest oder nimmt ihn besänftigend in den Arm. Das habe ich einige Male gesehen und sehr bewundert. Man kann sich dem Stress, der den Durchreisenden hier über-kommt, kaum entziehen. Die Luft war schon nach der ersten Stunde schlecht, in der die Beamten der Grenzpolizei die weit über tausend Passanten zählende Schlange abgearbeitet hat (nachdem wir gekommen waren, war ja der Strom der neu eintref-fenden Grenzgänger weiter angewachsen). Manchmal hatte man das Bedürfnis, ein-fach irgendwie raus zu rennen, nur um an frische Luft zu kommen. Dann, nach dieser Stunde, öffnete einer der Soldaten, die zum Schutz der Abfertigungs-Beamten da sind, eine Seitentür, die für die Abgewiesenen da ist. Wir zählen auch die Leute, die pro Beamtin und pro Minute abgefertigt werden.

Einer der Männer hat mir dabei erzählt, dass nach seiner Erfahrung hier sehr unter-schiedlich gearbeitet wird: Zügig, wenn der Kommandant anwesend ist, und sehr nachlässig, mit manchmal nur zwei Durchlässen, wenn er nicht anwesend ist. Es ist gut, dass ihr da seid. Da geben sie sich mehr Mühe. Überhaupt hören wir oft, auch an diesem Morgen, so etwas wie Dank und die Einschätzung, dass unsere Anwe-senheit hier wichtig ist. Dazu muss ich auch sagen, dass es erstaunlich und gar nicht selbstverständlich ist, dass wir überhaupt hier mitten in der Anlage stehen, beobach-ten und Notizen machen, oder unsere Handys für Anrufe bei der Hotline benutzen dürfen. Das wäre doch z.B. in den DDR-Grenzkontrollstellen undenkbar gewesen.

Punkt 7 Uhr tauchen auf der Jerusalemer Seite, für uns hinter der letzten Barriere der Personenkontrolle, drei Frauen von Machsom Watch auf. Tatsächlich haben wir auch den ersten Fall einer Abweisung, Geschrei der jungen Beamtin, das Eingreifen eines Offiziers und der drei israelischen Frauen. Für einige Minuten können wir noch ver-folgen, was dort geschieht, dann sind alle verschwunden: Der junge Palästinenser, die schimpfende Beamtin, der ruhige Offizier und die israelischen Mütter, die hier jeden Morgen für eine Stunde diese Aufgabe auf sich nehmen, „ihre Söhne“, wie sie sagen, bei der Kontrolle der Palästinenser zu beobachten. Später erfahre ich durch einen Anruf bei einer der Frauen die Geschichte dazu. Es ging um einen Studenten, der in der Bethlehemer Zweigstelle der Al-Quds-Universität ein Examen schreiben wollte; der aber mit seinem Jerusalemer Ausweis nur nach Abu Dis, nicht nach Beth-lehem „ausreisen“ durfte. Die Frauen haben ihn an einer Straße abgesetzt, wo er ohne großes Risiko eine Lücke im System nutzen konnte. Ein Lob also für die israeli-schen Mütter, die sein Problem mit Rat für die grundsätzliche Lösung und mit Tat erstmal für diesen Tag gesorgt haben.

Eine Geschichte am Rand: Mit einem Mann habe ich mich unterhalten, weil er mich zweimal am Ärmel gezupft und angesprochen hat: Ich soll doch bitte die schnellere Abfertigung an diesem Fenster bewerkstelligen. Er hatte schon 20 Minuten dort in der Reihe gestanden. Dann kam er aufgeregt und wollte sich beschweren. Mann hat-te ihn nicht durch gelassen, sondern zurück geschickt. Die Umstehenden konnten ihn überzeugen, dass ich nicht der richtige Ansprechpartner für seinen Zorn sei. Abrupt wandte er sich ab. Er war groß und trug die Burka und die Keffiya mit schwarz-weiß gewürfeltem Muster. Das Tuch nahm er nun ab und verstaute es in seiner Burka. Dann ging er auf eine benachbarte Schlange Wartender zu und bat darum, vorgelas-sen zu werden. Viele der Wartenden, die seine zornigen Reden gehört hatten, ver-folgten aus dem Augenwinkel, ob er Erfolg haben würde und zwinkerten mir ohne eine Regung im Gesichtsausdruck zu. Schließlich verschwand er und ich konnte an-erkennendes Murmeln hören und vorsichtiges Lächeln in meine Richtung. Einer, der Englisch konnte, sagte leise: He has made it, er hat’s geschafft. Die Geschichte zeigt, dass die Kontrollen nicht neutral vorgenommen werden, sondern manchmal auch ein Moment der subjektiven Einschätzung oder Schikane enthalten.

Nach drei Stunden, als die Schlangen der Wartenden „abgearbeitet“ waren, sind wir gegangen. Draußen war gute Luft. Die Taxen auf der Bethlehemer Seite warteten auf die ersten Besucher. Der Teeladen war offen, die Männer an der Imbissbude mit Fa-laffeln und die Andenkenverkäufer hofften auf einen guten Tag, immerhin Sonntag, mit der Aussicht auf mehr Pilger, die die Heiligen Stätten und Kirchen der Stadt auch auf diesem Weg besuchen würden.

Für uns war Frühstück angesagt. Und dann der erste Kirchenbesuch.

Mit Carl, dem Schweden, war ich im Gottesdienst der lutherischen Gemeinde von Beit Jala. Am späten Nachmittag waren wir dann alle vier mit Asa, der baptistischen Kollegin aus Finnland, in der Baptistischen Kirche. Die Gottesdienste waren sehr un-terschiedlich. Beim ersten hatte ich das Vergnügen, dass ich, obwohl der Gottes-dienst ja in Arabisch gehalten wurde, immer wusste, wo wir im Ablauf waren; auch darum, weil der Pfarrer immer wieder ein Stück Liturgie auf Deutsch für die Gäste-gruppe sagte. Allerdings sind wir als Ökumenische Begleiter – immerhin auf Anfrage der hiesigen Kirchen hier – nicht begrüßt oder beachtet worden. Im zweiten Gottes-dienst konnten wir uns alle wohl fühlen, vor allem weil dort wunderschön gesungen wurde, eigene Gesänge, keine übersetzten deutschen Choräle. Und weil der Predi-ger uns ausführlich vorgestellt hat und seine sehr lange und lebhafte Predigt immer wieder für uns unterbrochen und mit drei Sätzen auf Englisch zusammengefasst hat.

Dabei hatte ich das ganz eigene Vergnügen, mit meinen Kollegen leise eine Wette darauf abzuschließen, über welchen Text der Prediger predigte. Er sagte zwar mehr-fach an, er predige über Lukas 15, die Verse 17 und 18. Aber seine Übersetzung war ganz klar kein biblisches Wort: „Der erste Schritt, um ein Problem zu lösen, ist der, zu erkennen und anzuerkennen, dass da ein Problem ist“. Diesen Satz hat er so oft ge-sagt, dass er wie ein neues Gebot klang. Aber Lukas 15? Meine Schätzung war, dass er die Verse vor sich hatte, in denen der Verlorene Sohn erkennt, dass er falsch gehandelt hat und bei seinem Vater zuhause besser aufgehoben wäre, als bei den Schweinen in der Ferne. Meine Schätzung hat sich hinterher, jeder kann das nun in der Bibel selber nachschlagen, als richtig erwiesen. Nach diesem Gottesdienst hat jeder von uns Gespräche mit den interessierten Gemeindegliedern geführt. Und das war’s doch, was wir wollten.

Das schönste Erlebnis dieses Tages war aber der Besuch im Kulturzentrum des Flüchtlingslagers von Ayda. Und das muss ich natürlich wiedergeben.

Bethlehem hat drei Flüchtlingslager. Man darf sich keine Zeltstädte vorstellen, son-dern mehrstöckige Häuser, die dicht gedrängt zwischen die älteren Wohngebiete ge-setzt sind. Darüber hängen die Gerüche der Armut. Das Kulturzentrum ist von Irland gespendet worden. Unsere Teamer treffen hier jeden Sonntag eine Gruppe von Ju-gendlichen, die als „Englisch-Klasse“ zusammen kommen. Heute singen sie nicht, weil Eirik, der Freiwillige aus Norwegen, mit der Gitarre nicht bei uns ist. Wir machen Spiele und die Jugendlichen spielen, wie bei uns, wenn sie zuerst so tun, als seien sie viel zu alte für so was und dann sind sie voll bei der Sache. Beim zweiten Spiel mussten sie zeichnen. Und das war das Stichwort.

Draußen, gegenüber der Eingangstür, war eine lange Gartenmauer mit einer ganzen Serie von Bildern aus der jüngeren Geschichte Palästinas bemalt, teilweise mit Mo-saiken gestaltet. Es war naive Malerei, offensichtliche von Laien gemalt. Bilder vom ländlichen Leben, wie es einmal war ; dann vom Eindringen der israelischen Panzer und Soldaten; ein Bild mit den Namen der zerstörten und mit jüdischen Siedlungen überbauten Dörfer, mit dem großen Schlüssel, Symbol der vernichteten Häuser, bzw. der alten Schlüssel, die in jeder Flüchtlingsfamilie neben der Tür hängen. Weiter zeigt die Gartenmauer Bilder von der Intifada; und vom täglichen Stress der Okkupa-tion. Jetzt begann Carl ein Gespräch über das Bemalen von Mauern mit den Jugend-lichen. Linda übernahm die Sprecherrolle: Ja, die Bilder haben wir mit den Künstlern zusammen gemalt. Wir haben darüber diskutiert, was sie malen sollen. Und in der Intifada-Szene haben wir uns hingestellt und Hände gehalten. Sie reden über die Bil-der und darüber, wie sie die Geschichte ihres Volkes sehen. Dann leitet Carl über: Was ist mit den Graffiti und Sprüchen an der Sperr-Mauer? Er zeigt rüber, wo wenige hundert Meter entfernt die hohe Trenn-Mauer zu sehen ist. Wir lesen dort die Slo-gans, wenn wir am Kontrollpunkt zu tun haben. Ja!, kommt wieder die Antwort, das waren wir. Und wieder erzählen sie, dass sie manchmal dorthin gehen und ihren Zorn dort in Sprüche umsetzen, wie „We don’t want the Wall!“ oder „Free Palestine“. Und die Graffiti in fremden Sprachen?, fragen wir. Ja, das waren wir mit unseren Freunden und sie erzählen vom Jugendlager im Sommer, wo Jugendliche aus Euro-pa da waren und in ihren Sprachen, portugiesisch, griechisch, polnisch usw., ihren Protest an die Mauer geschrieben haben. Ich erinnere mich and die folgenden: „War-saw Ghetto1943 – Bethlehem Wall 2006“ und „Gott ist zu groß für nur eine Religion“ und „Jesus hat über Jerusalem geweint – wir weinen über Palästina“, steht da z.B. auf Englisch. (Und der das geschrieben hat, war kein guter Bibelkenner, denn in den Evangelien wird erzählt, wie Jesus über das Unrecht weint, das die Jerusalemer tun und dulden; nicht darüber, was sie erleiden.) Die Jugendlichen lachen, jetzt sind es vor allem die Jungs, die von ihren Ausflügen an die Mauer reden.

Carl nimmt eine letzte Wendung. Er zeigt auf mich und sagt, Gottfried kommt aus Berlin und kennt auch eine Mauer. Sofort gehen die Jugendlichen darauf ein. Ja, von der Berliner Mauer wissen sie. Und ich muss von der Nacht erzählen, in der die Mauer geöffnet und nie wieder geschlossen wurde. Wie die Menschen oben auf die Mauer geklettert waren und zu tanzen angefangen hatten. Wie die Soldaten, das Gewehr umgehängt, hilflos und ohne brauchbare Befehle, wie zu reagieren sei, daneben standen. Wie der Offizier, fassungslos vor diesem Chaos in seinem Ver-antwortungsbereich, den singenden und tanzenden Menschen auf der Mauer zurief: Vorsichtig, fallt nicht runter! Wie die ersten Menschen Werkzeug zur Hand hatten, mit dem sie die Mauer bearbeiteten. Und wie später die Menschen Bruchstücke der Mauer als Erinnerung in ihre Regale legten oder verschenkten. – Die Jugendlichen im Flüchtlingslager Ayda hören zu, sie lachen aber nicht. Ob sie glauben, dass sie so eine Nacht oder so einen Tag erleben werden? Nein, das können sie nicht. Ich er-zähle von Berlin und dass damals niemand im Ernst daran gedacht hat, was sich dann so überraschend und folgenreich abspielen würde. Ob ich glaube, dass ihre Mauer fallen werde. Ja!, sage ich ohne Zögern und hoffe, dass ich überzeugend klin-ge. Ich kann an ihren Augen sehen, dass sie den Gedanken aufnehmen, aber nicht richtig unterbringen können. Eines wissen sie aber genau: Nein, Bruchstücke der Mauer würden sie nicht sammeln und nicht verschenken. Die Mauer ist schrecklich, sagen sie, wir wollen sie weg haben und nichts mehr davon sehen…

Nächste Woche wollen die Jugendlichen wieder kommen und singen und reden.

Unser Sonntag war lang. Er war ja der erste Arbeitstag für die Palästinenser und hat uns ein Stück ihres Alltags morgens, auf dem Weg zur Arbeit gezeigt. Er hatte uns mit Christen zusammengebracht und an ihrem Feiertag teilnehmen lassen. Er hatte uns mit den Jugendlichen im Flüchtlingslager zusammen geführt und mit ihrer Suche nach Hoffnung. Und vielleicht waren wir einigen Menschen aus Bethlehem dabei sel-ber als Zeugen aus einer Welt erschienen, in der es doch Zukunft und Hoffnung gibt.

Saturday, November 18, 2006

Ausflüge in die Vergangenheit

Berichte aus Jerusalem

Ausflüge in die Vergangenheit
12. November 2006

Nini war zu Besuch. Tobias und Yaara haben mit uns Ausflüge gemacht: In die Vergangenheit Israels.

Zuerst waren wir in Cäsarea, der Stadt, die Herodes zu Ehren von Kaiser Octavian Augustus gebaut hat, eine planvoll angelegte, moderne Stadt. Das war um die Zeitenwende. Die Ruinen legen noch heute Zeugnis ab von der Pracht und Lebensart in dieser Stadt. Herodes hat hier Hof gehalten. Alle vier Jahre hat er große Spiele mit Pferderennen und Tierkämpfen veranstaltet und große Lebensart gezeigt. Später war die Stadt Teil des Byzantinischen Reiches und verlor an Glanz. Einige Jahrhunderte haben Menschen in dieser Stadt gelebt, es wurde aramäisch, lateinisch und griechisch gesprochen. Heiden, Samariter, Juden und Christen haben hier gelebt. Griechische Mosaik-Inschriften im Pflaster einiger Innenhöfe lassen ahnen, wie das Leben in dieser Stadt am Mittelmeer verlaufen ist. Und aus sehr später Zeit ist ein Minarett übrig geblieben. Übrigens: Paulus ist hier dem römischen Statthalter vorgeführt worden, hat auf einem fairen Prozess in Rom bestanden und ist dorthin überführt worden. Das alles ist genug, um die Ruinen und Ausgrabungen unter die bedeutenden historischen Stätten dieser Region einzuordnen.

Aber es geht um mehr. Die Stadt Cäsarea spricht aus der Zeit, in der das Land jüdisch war, wenn auch von Römern beherrscht und von einem Nicht-Juden, Herodes, verwaltet. Es spricht aus der Zeit, in der die Einwohner dieses Landes zur Minderheit wurden und aus der abgelegenen Provinz, die keine eigene, keine jüdische Identität mehr hatte, in alle Himmelsrichtungen wegzogen. Es spricht vom Ende des Alten Israel.

Am nächsten Tag sind wir nach Zikhrov Ya’kov gefahren, das auf einem Hügel über dem Meer liegt. Hier haben Siedler der ersten Alija ein Moschaf gegründet. Sie haben hier getan, was sie in Europa nicht durften: Land gekauft und als Ackerbauern gelebt. Und sie haben eine erfolgreiche Landwirtschaft aufgebaut, die in dieser Region neu war. Das Dorf ist stolz auf eine für das Neue Israel entscheidende Geschichte: Leute haben hier Widerstand gegen die Türken geleistet, junge Frauen haben als Spione gegen das Osmanische Reich gekämpft und sind hingerichtet worden. Jetzt ist das Dorf eine touristische Attraktion, weil hier der Beginn des Neuen Israel dargestellt ist. Die Häuser und Höfe dieser ersten Alija sind noch erhalten, die Synagoge aus der Zeit, als das Dorf ein ansehnlicher Marktflecken wurde. Die Strassen tragen die Namen der Gründer. Sie sind voller Boutiquen und Kaffees. Und der Blick auf die Ebene nach Süden, auf das Hügelland unter dem Karmel und auf das Mittelmeer macht was her. Das Städtchen war voll von Menschen, die wie wir das schöne Wetter und diesen Ausflug in die Geschichte des Neuen Israels genießen wollten.

Zurück in Jerusalem habe ich, zusammen mit allen Freiwilligen vom Ökumenischen Friedensprogramm die Israel-Woche angefangen. Wir waren im Holocaust-Museum. Darüber kann ich nicht berichten, das geht mir zu nahe. Die Gruppe hat sich nach dem Besuch zusammengesetzt und über die Gefühle, die jeder hatte, ausgetauscht. Solange habe ich mich abseits in den Schatten eines Baumes gesetzt. Dieses Stück Geschichte, obwohl ein halbes Jahrhundert alt, ist mir so nahe und so schwer auf der Seele, dass jedes Wort darüber schmerzt.

Danach waren wir in einem kleinen Dorf, nicht weit von der Gedenkstätte. Das Dorf heißt Lifta. Es liegt zwischen den Hügeln, auf denen der Westen Jerusalems ausläuft und die Berge nach hinunter ins flache Land am Meer abfallen. Das Dorf Lifta ist nicht mehr bewohnt. Die Häuser haben keine Fenster und Türen mehr, Bäume wachsen aus Treppen und Terrassen. Die Natur erobert sich diese einstige Ansiedlung zurück. Die Moschee ist von außen nicht mehr zu erkennen. Die Ölmühle, die vor einem Jahr noch zu sehen war, ist vom herab gestürzten Dach begraben. Kein Schild zeigt den Namen des Ortes. Kein Zeichen würdigt diesen Ort der jungen Geschichte des Neuen Israel eines Gedenkens. Eine Schnellstraße führt darüber und der Bus, der uns bringt und abholt, muss einen großen Umweg fahren, um in dieses abgelegene Tal zu finden. Lifta ist ein Dorf, das im Krieg von 1948, den die Palästinenser Al Naqba, das Verhängnis, nennen, von israelischen Truppen erobert worden. Seine Einwohner sind vertrieben worden. Das Land gehört zu Israel. Aber der Besitz an Boden und Gebäuden liegt bei den Bewohnern, die zum Teil noch am Leben sind. Sie wohnen jetzt in Flüchtlingslagern in Israel oder in Jordanien und versuchen, ihre Rechtstitel durchzusetzen. Die Stadt hat Pläne für eine neue Bebauung des Berghanges, auf dem das Dorf und seine Oliventerrassen liegen, immer wieder in die Schublade gelegt. Hat das Dorf Lifta, gegen den Trend, dem alle anderen Dörfer verschwunden sind, noch eine Chance? Kann es wieder zum Leben erwachen? Oder kann es eine Gedenkstätte für das Schicksal vieler Dörfer in Israel werden, wo der Flüchtlinge und Vertriebenen und ihrer Kultur, die sie hier Jahrhunderte lang gelebt haben, gedacht wird? Es gibt Israelis, die genau das wollen, unsere Führerin gehört zu ihnen.

Auf dem Rückweg aus dem Dorf zu der Straße, auf der der Bus wartet, treffen wir am eingefassten Dorfbrunnen einige junge Männer. Sie tragen die Tracht der Orthodoxen Juden und vollziehen ein Reinigungsbad im alten Brunnen von Lifta. Dann laufen sie davon, es sind Hippies, erklärt uns die Führerin, sie wollen nicht, dass wir sehen, in welchem Haus sie wohnen. Es ist eine wunderliche Szene: Die Jungs im schwarzen Habit mit den wehenden weißen Hemdschößen und die hellen Ruinen der Häuser, deren Bewohner hier nicht wohnen dürfen oder die Bäume und Sträucher, die vom Regen ermutigt, grün und stark über Straßen und Balkone wachsen.

Ausflüge in die Vergangenheit sind in diesem Land immer politisch. Sie sollen etwas beweisen oder sie dürfen es nicht.

Friday, November 17, 2006

Frauen in Schwarz

Berichte aus Jerusalem: Berichte aus Jerusalem

Frauen in Schwarz
Es ist Freitag, mittags ein Uhr. Wir sind in West-Jerusalem. Wir sind drei Ökumenische Freiwillige, wir stehen mit den Frauen in Schwarz an dem kleinen Platz zwischen King-George-Straße und den Ramban und Ben-Maimon Boulevards. Hier stehen die Frauen an jedem Freitag, sie stehen hier für eine Stunde, schwarz gekleidet. Sie halten schwarze Schilder hoch, auf denen in drei Sprachen steht: Beendet die Besetzung. Manchmal stehen auch Männer bei ihnen. Heute stehe ich neben einem von ihnen. Er hilft mir, zu verstehen, was die Autofahrer, die an der Ampel stehen bleiben müssen, herüber rufen.

Ein Motorradfahrer spricht mit meinem Nachbarn, ich kann nicht herausfinden, ob er unfreundlich ist; die beiden scheinen sich zu kennen. David, mein Nachbar, erklärt: Mit diesem Mann hat er öfter zu tun gehabt, er pflegte die Demonstranten heftig zu beschimpfen. Einmal hat er ihn aber zufällig bei einer mehr privaten Gelegenheit getroffen. Zunächst hatte der Mann ihn wieder Vaterlandsverräter als beschimpft, hat sich aber dann auf eine Diskussion eingelassen. Jetzt kommt er auch regelmäßig vorbei, es ist genau die Zeit, wo er hier auf Weg nach Hause ist, und fühlt sich verpflichtet, gesittet zu reden. Steht ihr immer noch hier, fragt er. Und: Wie viel Land wollt ihr ihnen (den Palästinensern) denn geben? Wenn ihr ihnen ein bisschen zugesteht, wollen sie das ganze…

Ein Taxifahrer fährt vor, die Ampel wird aber grün, er ruft etwas, fährt aber weiter. Es hat sich freundlich angehört. Ja, sagt David und lacht. Er ist ein Araber, jeder arabische Taxifahrer, der vorbei kommt, grüßt freundlich oder winkt uns zumindest zu.

Ein Autofahrer lässt sein Fenster runter und beginnt eine unfreundliche Unterhaltung. Es geht um die Grenzen. Welche Grenzen wollt ihr ihnen (den Palästinensern) geben? Die Grenzen von 48, antwortet ihm David. Warum nicht die von 67, ruft der Taxifahrer, was macht das für einen Unterschied, 19 Jahre? Die Ampel wird grün, kopfschüttelnd fährt er los.

Ein Polizeibeamter kommt dicht heran, macht einige Notizen und geht weiter. Keiner beachtet ihn.

David sieht meinen Notizblock mit dem südafrikanischen Aufkleber. Er will wissen, was ich mit Südafrika zu tun habe. Dann erzählt er mir. David ist im Alter von 15 Jahren nach Israel gekommen. Das war 1977, einige Wochen, nachdem Steve Biko umgebracht worden ist. Seine Eltern haben ihn hierher geschickt, damit er in Südafrika nicht zum Militärdienst eingezogen wird. Seine Eltern ihrerseits waren 1936 aus Deutschland ausgewandert. Dort waren sie als Juden bedroht. Irgendwann ist ihnen klar geworden, dass sie in Südafrika Nutznießer eines rassistischen Systems waren. Sie wollten nicht, dass der Sohn als Weißer gegen die Schwarzen kämpfen muss. David hat seine Jugend weit weg von seinen Eltern, in Israel verbracht, ist zur Schule gegangen, hat studiert – und sollte zum Militärdienst eingezogen werden. Er hat den Dienst verweigert und ist dafür ins Gefängnis gegangen. Jetzt stellt er sich manchmal zu den Frauen in Schwarz und unterstützt ihre Forderung nach einem Ende der israelischen Besatzung der Palästinenser-Gebiete.

Ava, zu meiner Rechten, spricht zu mir über Freundinnen in Deutschland. Sie hat sie erst vergangenes Jahr wieder besucht. Ihre Eltern sind, ebenfalls in den dreißiger Jahren, aus Deutschland hierher gekommen. Sie haben sich nicht vorstellen können, dass ihre Tochter hier eines Tages im Protest gegen die Gewaltanwendung gegen Palästinenser stehen und den Unwillen der vorbeifahrenden Israelis erregen würde, sagt Ava lachend. Ava ist älter, als ihre Eltern damals waren, als sie nach Israel gekommen sind. Ich frage sie nach ihren Gefühlen gegenüber Deutschen und in Deutschland, mit all den Erinnerungen an die Familienmitglieder, die den Holocaust nicht überlebt haben. Sie erzählt mir, dass schon ihr Vater seinen Frieden mit den Deutschen gefunden und mit einigen Deutschen Freundschaft geschlossen habe.

Uri, ein junger Mann, steht unterhalb der Mauer, auf der wir stehen und die schwarzen Schilder zeigen. Er ist hier, um seine Mutter zu unterstützen. Er war als Militärdienstverweigerer zwei Jahre lang im Militärgefängnis. Ich spreche ihn auf die Demonstration von Kriegsdienstverweigerern vor einigen Tagen an, bei der ich gewesen war und unter roten Fahnen gestanden hatte. Die Kommunistische Partei, erklärt er mir, sei die einzige, die von jeher gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete gewesen sei. Es sei eine kleine Partei, die dem anti-zionistischen Block angehöre. Uri gehört dieser Partei nicht an, aber er findet, ich sollte eine gute Meinung von ihr haben.

Die eine Stunde der Demonstration ist um. Die Frauen verabschieden sich voneinander und von uns. Sie sagen: Also dann, bis nächste Woche!

Routine am Checkpoint

Berichte aus Jerusalem
Routine am Kontrollpunkt
Dienstag, 7. November, 6 Uhr. Es ist ein Routinebesuch. Aber einige Details nehme ich in den Wochenbericht auf.

Irgendwann scheint der Polizist, der die Drehtüren bedient, eingeschlafen zu sein. Die Leute, die aus Jerusalem kommen und nach Ramallah wollen, stehen ratlos vor der Drehtür, die normalerweise offen ist. Sie befinden sich jetzt im Käfig zwischen Eingangs- und Ausgangs-Drehtür. In ihrer Richtung, wenn sie Jerusalem verlassen, findet keine Kontrolle statt, sie schieben sich zweimal durch dieses kleine Karussell. Es werden immer mehr. Der Wachmann reagiert auf kein Winken mit den Armen. Kristina drückt auf den Klingelknopf. Der Polizist schreckt auf und drückt seinerseits auf einen Knopf. Wir stehen auf der Ramallah-Seite und glauben an einen Scherz: Die Drehtür zeigt auf unserer Seite grün. Auf der anderen Seite zeigt sie rot und ist geschlossen. Die Leute, die aus dem Terminal raus wollen, können immer noch nicht raus. Die Palästinenser auf unserer Seite erkennen die Situation. Sie gehen ruhig auf die Drehtür zu und gehen, einer nach dem anderen, durch. Sie gehen an den Kopf schüttelnden Gegen-Passanten vorbei und auf die andere Drehtür zu, die sie endgültig und ohne Kontrolle auf die Jerusalemer Seite entlassen würde. Diese Drehtür ist natürlich nicht zu, sie funktioniert, wie sie soll, ausschließlich in unsere Richtung. Da stehen sie nun alle, ein Haufen Frühaufsteher vor der Tür, die ihnen Jerusalem verschließt und ein Haufen Nachtarbeiter vor der Tür, die ihnen ihr Zuhause in Ramallah verschließt. Irgendeiner bemerkt den Fehler, und die Drehtür wird geschlossen. Jetzt geht auf diesem Abschnitt gar nichts mehr. Die Leute, die nach Hause, nach Ramallah wollen, wahrscheinlich von der Nachtschicht kommend, werden laut und fordern ihren Durchgang. Die anderen drücken sich still möglichst eng an die Wand, aber das hilft nichts. Hier sind so viele Kameras, ein Offizier bemerkt die Situation und brüllt in den Lautsprecher. Zögerlich und mit schlechtem Gewissen kommen sie zurück. Immer noch sind auch die Drehtüren, die die nach Jerusalem Einreisenden schleusen sollen, zu. Die Stimmung wird aggressiv. Neues Brüllen durch den Lautsprecher. Die Drehtüren, die die Leute aus dem Terminal entlassen, zeigen Grün und die Leute kämpfen sich durch. Nach drei Minuten ist der Durchgangsbereich für die aus Jerusalem Ausreisenden leer und die Mogler, die ihre Chance gesucht hatten, müssen sich wieder hinten in die Schlangen einreihen. Die von der Nachtschicht kommenden, die hier ohne Sicherheitskontrolle durch die Türen geschleust werden, sind in Richtung Ramallah aus dem Terminal gegangen. Aber vorn, neben der Drehtür, haben einige Schüler, fünf oder sechs, ihre Chance erkannt. Blitzschnell haben sie, die Aufregung nutzend, ihre Ranzen über das hohe Gitter geworfen und sind mit wenigen schnellen Kletterbewegungen hinüber gesprungen und raus gerannt. Eine Polizistin hat sie gesehen, sie musste aber auch erst durch die Sperre gelassen werden, ist ihrerseits losgerannt, das Gewehr fest an die Schulter gedrückt. Ihr Pferdeschwanz wippt mit den Laufschritten. Ich bin ebenfalls gerannt, nach hinten, wo der Parkplatz auf der Ramallah-Seite Einblick auf die andere, die Jerusalemer Seite, wo die Busse stehen, gewährt. Die Schüler sind nicht sichtbar, die Polizistin steht ratlos und gibt auf. Ich gehe zurück in den Terminal und berichte meinen Mit-Beobachtern vom Erfolg der Schüler. Es hätte ja eine sportliche Angelegenheit sein können und wir hätten gelacht. Aber hier ist alles Ernst und das Ding hätte böse enden können.

Unter denen, die ihre Chance in der verkehrten Drehtür gesucht hatten, war auch ein alter Mann. Er wurde begleitet von seinem Sohn, der ihn Schritt um Schritt führt. Der Mann ist offensichtlich krank und zeigt, als er schließlich am eigentlichen Schalter steht, außer dem Ausweis seinen Überweisungsschein vor. Aber der gilt nichts in Jerusalem. Er muss entweder dort einen Arzt finden, oder, wenn das erforderlich ist, eine Sondergenehmigung für eines der Ost-Jerusalemer Krankenhäuser. Er wird abgewiesen. Ich gucke auf die Uhr: Vor einer Stunde habe ich ihn kommen sehen. Er geht in einer anderen Warteschlange zum nächsten Schalter, wird abgewiesen. Ich verliere ihn aus den Augen. Zwei Stunden später, auf der Jerusalemer Seite, sehe ich ihn, von seinem Sohn geleitet, in einen Bus steigen. Er hat es offensichtlich mehrfach versucht – und Glück gehabt.

Die Warteschlange ist lang. Ich bemerke, dass einige Studenten sich zunächst einreihen, dann aber aufgeben und das Terminal verlassen. Ich gehe ihnen nach und finde heraus, dass sie in ein Taxi steigen. Sie versuchen es im nächsten Kontrollpunkt, in Ar Ram, sagen sie. Aber dort lässt die Grenzpolizei nur Leute durch, die auf einer Liste stehen, wende ich ein. Wir stehen drauf, sagen sie, wir sind Studenten. Wir müssen es probieren, hier dauert es zu lang. Ich überlege mir, wie viel Unkosten die Leute haben, wie viel Zeit sie verlieren, die hier jeden Tag diese Prozedur durchlaufen und dann evt. andere Kontrollpunkte anfahren, um Zeit zu sparen.

Ein Mann spricht uns an. Er ist Lehrer in Bethlehem. Er nimmt jeden Tag zuerst einen Bus von Ramallah bis zu diesem Kontrollpunkt. Auf der anderen Seite steigt er in einen Bus, der ihn zur Zentralen Busstation in Ost-Jerusalem bringt. Dort nimmt er einen Bus nach Bethlehem, zum Gilo-Kontrollpunkt, berichtige ich. Richtig, nur bis zum nächsten Kontrollpunkt. Auf der anderen Seite fahren keine Busse. Dort steigt er in ein Taxi, das teilt er sich mit Anderen, und fährt zu seiner Schule in Bethlehem. Ich rechne nach: Er zahlt hin und zurück zusammen jeden Tag über 30 Schekel, fast 6 Euro Fahrgeld. Nach der Zeit habe ich ihn gefragt: Wenn’s gut geht, zwei Stunden. Und wenn es schlecht läuft? Ich bin auch schon mal wieder nach Hause gegangen, weil es sich nicht mehr gelohnt hat, sagt er.

Noch auf der Ramallah-Seite bin ich ein Stück an der Mauer, die hier 12 Meter hoch ist, entlang gegangen. Hier stehen seit einer Woche eine Doppelreihe von 12 Fertig-Häuschen, sie bieten knapp 5.000 Briefkästen. Der verantwortliche Bauingenieur, den ich vor einer Woche gefragt hatte, wusste nur, dass hier ein Post-Dienst eingerichtet würde, für die Bewohner „auf dieser Seite“. Offensichtlich gibt es bisher keinen Postdienst in diesem Teil Ramallahs; künftig können die Bewohner hierher kommen und sich ihre Briefe abholen. Wird der Kontrollpunkt irgendwann zum Dienstleistungszentrum?

Auf der Jerusalem-Seite stehen wir noch eine Weile auf dem Straßenabschnitt und beobachten die Kontrolle, die dort vorgenommen wird. Auch hier werden die Autos, die Jerusalem verlassen, nicht, bzw. nur stichprobenweise kontrolliert. Mir fällt auf, dass ein kleines Team von zwei Soldaten damit befasst ist. Einer von ihnen führt einen Fotoapparat mit sich. Er nimmt Fotos von den Fahrern und ihren Papieren, sowie von den Nummernschildern der Autos, während sein Partner Sitze und Kofferraum untersucht. Was soll das, denke ich. Brian, mein Mit-Beobachter, holt seinen Fotoapparat mit der großen Vorsatzlinse heraus und nimmt die beiden Kontrolleure ins Visier. Die lachen zuerst und stellen sich in Pose, dann bedeuten sie uns, dass wir sie nicht fotografieren dürfen. Kristina geht prompt auf sie zu und beginnt ein Gespräch. Die beiden waren gut aufgelegt, aber die einzige brauchbare Antwort, die Kristina mitbringen konnte, war: Sie seinen so eine Art Militär-Journalisten.

Es ist ein warmer Tag. Es ist fast 8 Uhr. Wir fahren nachhause, in unser Quartier, wo wir frühstücken. Wir denken an die Arbeiter, die durch den Kontrollpunkt müssen, oder durch zwei davon. Sie kommen müde bei ihrer Arbeit an. Und dort sollen sie ihren Arbeitstag beginnen. Wenn der beendet ist, beginnt für sie der Heimweg – durch den Kontrollpunkt.

Wednesday, November 08, 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem

Das Kamel

Manchmal sieht man in Jerusalem ein Kamel, das den Touristen als Hintergrund für Fotografien dient, aber natürlich auch für einen Ritt durch die Straßen Jerusalems oder außerhalb der Mauern der Altstadt oder was weiß ich. Eigentlich habe ich das Kamel nur ein einziges Mal gesehen, aber es lebt hier irgendwo. Und Nini hat sofort, als ich von dem Kamel auf der Kreuzung erzählt habe, an das gleiche Kamel gedacht.

Es war am Abend des ersten Feiertages, mit dem der heilige Monat Ramadan endet. Tagsüber hatten wir junge Männer auf Pferden überall in der Stadt gesehen. Und am nächsten Tag war der Sportplatz hier oben auf dem Ölberg voll von Jugendlichen und etwa einem Dutzend verschieden alter Pferde, die offensichtlich für einige Runden auf dem Platz vermietet wurden. Wo sind die Pferde an all den anderen Tagen des Jahres? So haben wir uns gefragt und bis heute keine Antwort erhalten. Sie sind nach den Festtagen des Eid al Fittr in den Straßen aufgetaucht und danach wieder verschwunden. Auch das Kamel.

An dem Abend, von dem ich also kurz berichte, kam ich abends vor Sonnenuntergang oben an der Kreuzung an, an der wir immer aus dem Bus Nummer 75 aussteigen und die letzten hundert Meter zu Fuß gehen. Vor mir sah ich das Kamel. Ein Junge mit auffällig kurz geschnittenem schwarzem Haar saß zwischen den Höckern, das Kamel hatte seinen schönen Sattel und Kopfschmuck und lief mit diesem unverkennbaren Gesichtsausdruck der Überlegenheit auf der rechten Straßenseite, zu weit weg für ein Foto. Es dauerte keine 30 Sekunden, bis die Kreuzung voll war. Zwei Taxen, zwei Esel, ein PKW, ein Rappen, ein Schimmel und ein Bus näherten sich von vier Seiten der Kreuzung oder waren schon auf ihr. Die Szene war wie eine Fata Morgana, tauchte aus dem Nichts auf und verschwand wieder. Der Reiter auf dem Esel ritt über einen Zebrastreifen, das Kamel bog nach rechts ab, der Bus öffnete seine Tür mitten in seiner Linkskurve und entließ die müden Fahrgäste, die für weiteres Chaos auf der Kreuzung sorgten, weil sie sich zwischen den ungleichen Verkehrsteilnehmern durch schlängelten. Kein Hupen, kein Wiehern, kein Fluch oder lauter Ruf. Mit den normalen Geräuschen unserer kleinen dörflichen Einkaufsstraße löste sich der Spuk aus Tausendundeiner Nacht auf. Die Kreuzung war leer, drei, vier Leute standen an der Bushaltestelle, der Gemüsehändler brachte eine Kiste mit frischen Orangen auf die Straße und der Geruch von Diesel und Pferd war mehr Erinnerung als Wirklichkeit. Die Auflösung des kleinen Verkehrsstaus hatte wieder keine 30 Sekunden gedauert.

Am nächsten Tag hatte ich unten in dem Markt gegenüber vom Damaskustor zu tun. Ich war in dem kleinen Minimarkt, in dem wir manchmal einkaufen. Ich hatte beide Hände voll mit meinen kleinen Einkäufen von Buttermilch, Oliven und Brot. Ich stand an der Kasse, als ein Pferd in den Laden kam, also es muss ja sicherlich heißen: Als ein Reiter mit seinem Schimmel in den Laden kam. Es gab eine heftige Bewegung von der Kasse bis in den hintersten Winkel des Minimarktes. Aber niemand fiel um, niemand fluchte oder schrie auf. Der Reiter nahm eine Schachtel Zigaretten entgegen, das Pferd stieß bei seiner Rückwärtsbewegung an ein Regal, aber einige flinke Hände legten die herunter gefallenen Waren zurück in die Regale. Keine Aufregung. Das alles ging viel zu schnell für meine Kamera, die immerhin aus der Jackentasche geholt, in Betrieb gesetzt und in Position hätte gebracht werden müssen, dabei hatte ich gerade mal meine drei Einkäufe so verlegt, dass ich die Kamera greifen und herausholen konnte. Auch blieb diesmal ein starker Geruch nach Tier und Natur im Laden zurück. Und ich glaube, das Pferd hat über meinen Versuch, die Begegnung mit einem Foto festzuhalten, gelächelt.

Bevor ich das vergesse, das könnte ja wichtig sein für den fragenden Leser: Das Kamel war, wie Ibrahim mir Tage später erklärte, auf dem Nachhauseweg von seinem anstrengenden Tag mit Touristen. Es wohnt hier oben auf dem Ölberg.

Jerusalem kommt mir manchmal wie eine Theaterbühne vor, auf der alle, Schauspieler und Statisten ihr Spiel kennen und professionell spielen. Wie sonst passen die Anhänger der drei Religionen und die Geistlichen, Mönche, Pilger und von all der Heiligkeit Ergriffenen mit ihren mittelalterlichen Verkleidungen und dem schönen Kopfschmuck und diesem Gesichtsausdruck in die engen Straßen dieser Stadt?

Lach nur, lieber Leser!

07.11.2006
Gottfried Kraatz

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem

Wünschet Jerusalem Glück!

Die Erlöserkirche in Jerusalem liegt mitten in der Altstadt, gerade noch im Christlichen, aber dicht an der Grenze zum muslimischen Viertel und man kann, wenn man über die anliegenden Gebäude schaut, die Flaggen mit Davidsstern sehen, die die jüdischen Wohnungen über den arabischen Läden kennzeichnen. Die Völker leben hier zusammen. Aber glücklich?

Schon auf dem Weg zur Kirche fällt mir eine Gruppe auf, Männer in dunklen Anzügen und mit Kollar, und Frauen in europäischer Sonntagskleidung. Meine Vermutung, dass sie zur Erlöserkirche zielen, war richtig. In der Kirche sind bestimmt achtzig bis hundert Besucher. Vier Pfarrer und eine Pfarrerin im Talar sowie zwei Älteste ziehen ein und nehmen in der ersten Reihe Platz. Heute wird der Vikar in die Gemeinde eingeführt. Es wird ein festlicher Gottesdienst.

Der Propst begrüßt die Gemeinde mit dem Motto für diesen Gottesdienst, er bezieht sich auf den Psalm 122: Die Völker ziehen hinauf nach Jerusalem, die Stadt, in der man zusammen kommen soll, um in ihren Mauern zu preisen den Namen des Herrn. Später wird der Psalm im Wechsel gelesen: „Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll… Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben! Es möge Friede sein in deinen Mauern und glück in deinen Palästen!“

Der Propst sieht Gemeindeglieder, die in Jerusalem wohnen vor sich; Gäste aus Deutschland, die zu diesem Anlass in die Stadt auf dem Berge gekommen sind, auch andere Pilger, die die heiligen Stätten sehen und den Atem der Geschichte des Christentums hier atmen wollen. Menschen eben, für die diese Stadt viel bedeutet. Die Völker strömen in diese Stadt. Schön, wenn die alte Psalmdichtung so anschaulich dargestellt und gefeiert werden kann.

Für mich liegt die erste Woche meines ökumenischen Friedensprogramms hinter mir. Vor zwei Tagen, am Freitag, hatte ich erlebt, wie landesweit Maßnahmen getroffen worden waren, um nur ältere Palästinenser durch die Tore der Stadt zu lassen, die auf dem Tempelberg beten und ihrem Glauben gemäß feiern wollten: Am Freitag im Fastenmonat Ramadan. Die Kontrollpunkte an Ostjerusalems Grenzen waren zu Festungen ausgebaut und die Pilgerströme der palästinensischen Muslime waren gefiltert und zum Teil mit Gewalt aufgehalten worden. Ich hatte die Polizei- und Armeekräfte vor den alten ehrwürdigen Stadttoren gesehen, die ihre Arbeit ernst und effektiv gemacht, die die gottesdienstliche Stimmung der frommen Pilger nachhaltig gestört hatten, die zu ihren Pausen den Helm abgenommen und darunter ihre jüdische Kippa, Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Volk Gottes, gezeigt hatten. Ich hatte gesehen, wie viel Gewalt nötig war, um Sicherheit in den Mauern dieser Stadt zu gewährleisten und wie diese Gewalt nur weitere Gewalt erzeugen wird; denn was werden die muslimischen Jugendlichen, die jungen Ehemänner und die Väter mit ihren weißen Kappen, die, wenn sie von außerhalb der Stadtgrenzen in die Stadt kommen wollten, abgewiesen und zum Teil verächtlich oder beleidigend behandelt worden waren – was werden sie aus ihrer Liebe zu dieser Stadt machen?

Jerusalem ist eine Stadt mit zwei Namen. Den einen kennen wir: „Jerusalem“, die Stadt der Könige Israels und Judas. Und den anderen nehmen wir manchmal mit Erstaunen zur Kenntnis und vergessen ihn wieder: „Al Quds“, die Heilige, die Stadt der Muslime, die dritte Stadt nach Mekka und Medina, die mit dem Leben und mit den Visionen Mohameds verbunden ist. Die Stadt ist seit einigen Jahrzehnten getrennt: in das jüdische West- und das muslimische Ost-Jerusalem. Die Christen leben als Minderheit vor allem in Ost-Jerusalem. Aber das Problem ist, dass der Ostteil der Stadt, mit dem Tempelberg und dem Felsendom und der Al-Aqsa Moschee vom palästinensischen Hinterland abgetrennt und von israelischer Polizei und Armee kontrolliert wird. Und dass im Konfliktfall Juden mit schwarzer Kippa die Muslime mit weißer Kappe daran hindern, in die Stadt zu ihren Heiligen Stätten zu kommen.

Da stand der Muslim, der 51 Jahre alt und darum am Kontrollpunkt abgewiesen worden war. Von Tulkarem, im Nordosten der Besetzten Gebiete war er gekommen. Fünf Stunden hatte er gebraucht, um bis hierher zu kommen. Zwanzig Minuten Busfahrt trennten ihn nun von der Moschee, in der er das Mittagsgebet dieses Freitags im Ramadan feiern wollte. Aber er durfte nicht weiter. Seine Familie, Frau und drei kleine Kinder waren auf der anderen Seite, ohne Geld, wie er mir beteuerte. Er glaubte, ich könne bewirken, dass er durch die Kontrolle gelassen würde. Wo kommst du her? Aus Deutschland. Was bist du? Christ. Christen und Muslime sind nahe beieinander, sagt er. Und ich schäme mich, weil ich es aus Deutschland anders kenne. Juden sind weit von uns weg, sagt er. Die Juden lassen uns nicht zum Gebet nach Jerusalem. Das sagt der Muslim, der von den Grenzpolizisten, die hier keine Grenze, sondern eine Annexionslinie bewachen, zurück geschickt worden ist. Er zeigt auf die Uniformierten, auf die schwer Bewaffneten, aber er nennt sie Juden. Und er sagt, die Juden wollen uns den Tempelberg wegnehmen, sie wollen uns aus Jerusalem vertreiben.

Was der Mann an dem Kontrollpunkt sagt, habe ich, seit ich hier in Jerusalem bin, oft gehört. Die Juden wollen uns vertreiben. Israel will Fakten schaffen und Jerusalem für sich in Besitz nehmen. Einmal, an einem anderen Kontrollpunkt, habe ich das mit großer Verbitterung gehört. Der Mann, der es äußerte, war sehr ungehalten darüber, dass wir Europäer hier so ein Programm aufziehen und gleichzeitig blind sind und überhaupt kein Verständnis für die Situation der Palästinenser haben. Wir leben hier seit Jahrtausenden, hat er gesagt: Warum schickt ihr die Juden in unser Land, die ihr nicht haben wollt und helft ihnen, dass sie uns unser Land wegnehmen?

Und natürlich habe ich auch das Gegenteil gehört. Israelis, die verbittert beobachten, wie die Europäer das Existenzrecht der Palästinenser durchsetzen wollen; die den Libanonkrieg als Überfall Israels auf ein unschuldiges Land sehen; die Israels starke militärische Präsenz und Politik in den Besetzten Gebieten kritisieren. Die sagen mit gleichen Worten: Ihr versteht uns nicht. Was wollt Ihr Europäer uns vorschreiben?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein Recht dazu habe, hier in Jerusalem zu sein und zuzusehen, wie sich Israelis und Palästinenser um dieses Land streiten müssen, um sich ihr Lebensrecht zu sichern.

Ich sitze dann in dem Gottesdienst in der Erlöserkirche. Ich will zur Gemeinde gehören, die den alten Psalm betet und den Gottesdienst feiert. Und ich merke, wie ich mich schwer tue. Es herrscht kein Friede in den Mauern Jerusalems. Die Menschen sind nicht glücklich, nicht die im Westen und nicht die im Osten der Altstadt mit ihrer Klagemauer und ihrer Al-Aqsa Moschee und mit ihren Kirchen, die über den Spuren von Jesus von Nazareth erbaut worden sind. Und es kommen nicht alle an, die sich aufmachen, um den Namen Gottes hier zu preisen. Nicht Liebe, sondern Hass wird gesät in dieser Stadt.

Aber in einem Satz, in dem Stoßgebet kann ich mich einfinden und niederlassen: „Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!“



15. Oktober 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem

„When Arabs run riot the Army has to shoot“


Von Römischen Feldherrn haben wir Zitate überliefert, die kurz und knapp und gleichzeitig von geradezu poetischer Kraft sind. Das bekannteste ist das von Cäsar, der seinen Eroberungsfeldzug nach Gallien mit drei Worten zusammengefasst hat: Veni, vidi, vici – ich kam, ich sah, ich siegte.

Hier ist ein ähnlich kraftvoller Ausspruch eines Militärs, die Antwort des Verbindungsoffiziers der Zivilen Verwaltung für die OPT (Occupied PalestinianTerritories), Zeit 9.30 am Freitag, 13. Oktober, dem vorletzten Freitag im Fastenmonat Ramadan; auf die Frage von Roni Hammerman von der Organisation Machsom Watch, die am Qualandiya Kontrollpunkt auf der Jerusalemer Seite gestanden, die Schüsse von Lärm- und Tränengas-Granaten gehört hatte und die Menschen auf der Seite der Westbank hatte rennen sehen, die also ihr Telefon genommen und im Verbindungsbüro der Israelischen Armee angerufen und gefragt hatte, warum schießt ihr, warum jagt ihr die Menschen, die an diesem Feiertag nach Jerusalem zur Al-Aqsa Moschee wollen? Die Antwort, die sie erhielt, war militärisch kurz und knapp und kraftvoll in ihrer sprachlichen Prägnanz: „When Arabs run riot the Army has to shoot – wenn Araber randalieren, muss die Armee schießen“. Die Logik der Kriegsführung erlaubt diese Prägnanz, das militärische Überlegenheitsgefühl erlaubt die poetische Kraft.

Die Palästinenser, um nun von ihnen zu reden, waren, wie gesagt, auf dem Weg zum Mittagsgebet, das an diesem letzten Freitag im Fastenmonat Ramadan eine unvergleichlich höhere Wertigkeit besitzt, als an normalen Tagen. Einige von ihnen hatten fünf, sechs Stunden Anfahrt hinter sich, sie waren in Festkleidung und in erwartungsvoller Stimmung. Auf dem Hof zwischen Felsendom und Al-Aqsa Moschee versammeln sich an solchen Tagen bis zu einer halben Million Gläubige. Sie stehen dann dicht gedrängt, Schulter an Schulter und die gemeinsamen Bewegungen, das Erheben der Arme, das Sitzen auf den Unterschenkeln, das Berühren des Bodens mit der Stirn und das erneute aufrechte Stehen – das schließt jeden einzelnen Gläubigen in die große betende Gemeinde ein, macht die Gemeinschaft körperlich spürbar. Dafür fahren die Muslime in diesem Land weit, und immerhin ist die Al-Aqsa Moschee in Al Quds, Jerusalem, das dritte hochbedeutsame Heiligtum im Islam. Aber der Weg dorthin ist mühsam. Sie können nicht die direkte, schnelle Straße aus ihrem palästinensischen Dorf nach Jerusalem nehmen, weil die in das israelische Straßennetz integriert ist, die sie nicht benutzen dürfen. Sie müssen Umwege fahren und bezahlen. Dann kommen sie am Kontrollpunkt an, der das Palästinensergebiet von Ostjerusalem, das Israel annektiert hat, trennt. Und hier kriegen einige von ihnen Ärger.

Durch Radio und Zeitungen haben sie erfahren, dass an diesem Tag Männer über 45 und alle Frauen Zugang nach Jerusalem haben. Jetzt werden auch Männer über 45 zurück gewiesen, Familien haben Probleme mit ihren 12 oder 13-jährigen Söhnen, Ehefrauen finden sich auf der anderen Seite wieder, aber ohne Ehemann und ohne Geld. Kleine Dramen spielen sich ab, Enttäuschungen machen sich breit. Einer hämmert in seiner Wut gegen die Eisengitter. Daraufhin jagen die Beamten der Grenzpolizei alle Menschen aus dem „Terminal“, wie sie das Gebäude nennen, indem sie ihrerseits gegen die Gitter schlagen, aber mit ihren Knüppeln und mehrere von ihnen. Dazu brüllen sie Befehle in Hebräisch, „raus hier!“ oder so ähnlich. Es ist ein Höllenlärm. Die Leute fliehen nach draußen, aber dort stehen ja andere Menschen in dichten Reihen; keiner hat mitgekriegt, was da gelaufen war, die allgemeine Wut der Menge, die doch nur rechtzeitig zum Mittagsgebet nach Jerusalem will, steigt. Das Chaos ist perfekt.

Was ich jetzt erzähle, habe ich selbst gesehen, zu dieser Zeit war ich schon am Kontrollpunkt. Aber ich war nicht durch die Kontrolle durch gegangen, sondern musste von der Jerusalemer Seite, wo der Durchgang für Autos ganz und gar geschlossen war, durch ein hohes Eisengitter hindurch mit ansehen, was dort geschah. Soldaten, etwa ein Dutzend von ihnen, kamen von dem improvisierten Standort, den sie an diesem Tag aufgebaut hatten, gelaufen. Sie bauten sich zwischen Terminal und dem Parkplatz, auf dem die Menge jetzt stand, auf. Zu ihnen kamen zwei berittene Beamte der Grenzpolizei, alle schwer bewaffnet, mit schusssicheren Westen und Gewehren in der Hand. Das ist schon ein Anblick, der Angst und Aggression schürt. In diesem Augenblick begann der Muezzin vom Minarett des nahen Dorfes zu singen. Es war schon einige Zeit klar, dass niemand von denen, die hier am Kontrollpunkt standen, die Al-Aqsa Moschee erreichen würde. Aber jetzt war es offensichtlich.

Einige junge Männer, die offensichtlich durch die erste, aber nicht durch die zweite Kontrolle gekommen waren, bauten sich auf, in drei Reihen, etwa 40 oder 50 von ihnen. Schulter an Schulter stehend begannen sie das vorgeschriebene Gebet zu verrichten. Gesicht gegen Jerusalem mit der Altstadt, dem Felsendom und der Al-Aqsa Moschee gerichtet, das hieß: gegen das „Terminal“, das von einer Reihe schwer bewaffneter Soldaten bewacht wurde. Sie beugten sich nieder, sie führten die Hände über das Gesicht, sie berührten mit den Stirnen den Boden, sie verharrten in Ruhe und erhoben sich und wiederholten das. Es war still, viele Menschen, die zwar zum Mittagsgebet gehen wollten, sich aber nicht trauten, sich diesen Reihen der betenden Männer anzuschließen, standen still und sahen sich beunruhigt nach Fluchtwegen um. Zwischen dem „Terminal“ und dem Kreisverkehr, der die Straßen aus den Vorstädten und aus dem Kontrollpunkt mit dem Dorf Qualandiya verbindet, befindet sich Mauer, ein Stück zusätzlicher, vorgelagerter Mauer, vielleicht für die Verteidigung des „Terminals“ gebaut. Der Parkplatz, auf dem sich diese Szene abspielte, war also nur durch eine Lücke in der Maueranlage mit der palästinensischen Seite verbunden.

Hatten die Männer ihr Gebet beendet? Auf Kommando bedeuteten die Soldaten der Menge, zurück zu weichen, schossen in die Luft und warfen Tränengasgranaten. Und jagten die Menge durch die Mauerlücke hinaus, in Richtung Qualandiya. Die Mischung von Schüssen, Schreien und Kommandos, von rennenden Menschen und nachsetzenden schwer bewaffneten Polizisten oder Soldaten ist immer erregend. Aber hier konnte man auch die Pferde in die Menge reiten sehen, sie schnauben hören und sehen, wie entschlossen ihre Reiter in die Menge hielten.

Nun muss ich nachholen, dass an diesem Tag nicht nur die Durchfahrt für alle Fahrzeuge gesperrt war, was bedeutete, dass die Menschen ihre Autos parken und auf der anderen Seite in Busse steigen mussten. Sondern zusätzlich hatte die Armee eine Straßenblockade errichtet und bei einer ersten Kontrolle schon viele zurück gewiesen, hauptsächlich aber die Menge aufgehalten, so dass die Palästinenser, die nun vom Terminal vertrieben wurden, zum Teil schon durch zwei Vor-Kontrollen gegangen und nun doppelt frustriert waren. Es bedeutete aber auch, und das war, denke ich, für die israelische Armee und Polizei wichtig, dass einige hundert Meter entfernt eine weitere, viel größere Menge wartete und in Schach gehalten werden musste. Es überraschte mich also nicht, dass da, wo ich stand, geschützt durch das hohe Gitter, eine weitere Gruppe von Soldaten, teilweise Scharfschützen in Stellung gegangen waren. Sie entsicherten ihre Gewehre und zielten. Und tatsächlich konnte ich in der Richtung, in die sie zielten, weit hinter dem Kreisverkehr, kleine Jungs sehen, die begonnen hatten, Steine zu werfen. Wo waren sie hergekommen?

Die Soldaten rannten hinter der Menge her, ich konnte nicht mehr sehen, wohin. Aber sie kamen nach einigen Minuten wieder. Sie hatten offensichtlich zwei Jugendliche festgenommen, die sie jetzt, jeweils zu zweit mit eingeklemmten Armen laufend zu ihrem Posten brachten, einer war etwa 24, der andere 18 Jahre alt. Sie wurden in ein geschlossenes Fahrzeug geschoben und weggebracht, ich konnte nicht feststellen, wohin.

Nach ca. 15 Minuten, war der Spuk vorbei. Wir waren durch die Kontrolle auf die palästinensische Seite und durch die Mauerlücke gegangen. Die Taxifahrer und die Leute, die bei ihren Autos gestanden hatten, waren zurückgekehrt. Geruch von Tränengas lag leicht in der Luft, die Steine vom Vormittag, an dem die „Araber randaliert“ hatten, Patronen und Gummiteile der Tränengasgranaten und Lärmbomben, aber auch Pferdeäpfel lagen auf dem Boden des Parkplatzes. Dahinter, beim Kreisverkehr, bauten die ersten Brotverkäufer ihre Stände auf und nahmen von Jungs, die sie als Träger angeheuert hatten, die breiten Tragen mit den Pyramiden von Brotlaiben, die zum abendlichen Fastenbrechen im Ramadan gehören, entgegen. In der Straße, die ins Dorf führte, boten uns die Geschäftsleute einen Kaffee an.


Hinter uns, die Soldaten und Polizisten, zündeten sich Zigaretten an. Sie wirkten erleichtert.

So einfach könnte das Leben sein?

Zu diesem Zeitpunkt tippte Roni Hammerman von Machsom Watch, die nach dem kleinen Zwischenfall vom Vormittag nach Hause gegangen war, ihren Bericht in ihren Computer und hielt dort den kernigen Satz des Verbindungsoffiziers der israelischen Verteidigungskräfte fest; den Satz, der in seiner poetischen Dichte und in seiner strategischen Prägnanz die Vorfälle dieses vorletzten Freitags im Fastenmonat Ramadan beurteilt, aber die Kausalität umkehrt: „When Arabs run riot, the Army has to shoot!“

Monday, November 06, 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem
The Separation Barrier – Nachdenken über eine Mauer

Ein Sperrwall ist keine Grenze
Für diese Meditation müsste ich vielleicht den englischen Titel beibehalten, den ich noch nicht treffend übersetzen kann. Dabei geht es doch um eine korrekte und vorurteilsfreie Übersetzung. Meist ist diese „Separation Barrier” nur eine hohe Zaunanlage mit Stacheldraht, manchmal, und zwar gerade um die dicht besiedelten palästinensischen Städte herum, ist es eine Mauer. Die Mauer kann bis zu 12 Metern hoch sein, manchmal ist sie nur 8 Meter hoch. Und gerade hier in unserer Umgebung, wo die Dörfer und Städte der Westbank von den Vororten Ost-Jerusalems getrennt werden, wird die Mauer lückenlos durchgezogen, so, dass man auch nicht mehr einfach von hüben nach drüben gehen kann, nur weil ein Teil der Familie dort wohnt, oder weil man das Krankenhaus braucht.

Wovon spreche ich: Israel hat es für notwendig befunden, den Zugang zu Siedlungen und Städten Israels von den Palästinensischen Gebieten aus zu schützen. Selbstmordattentäter sollen nicht mehr unkontrolliert von der Westbank nach Israel oder in die jüdischen Siedlungen mitten in der Westbank kommen können. Israel hat ein Bauwerk begonnen, das teils als Zaun, mit Stacheldraht verstärkt, teils als Mauer die palästinensischen Wohngebiete eingrenzt. An den Zugangsstraßen gibt es befestigte Grenzübergänge, die eine genaue Personenkontrolle ermöglichen. Die Trennungslinie, Separation Barrier genannt, ist um das Doppelte länger als die Grüne Linie, wie die ideelle Grenzziehung seit dem Waffenstillstand von 1967 offiziell heißt und verläuft nur zu 20 % auf dieser Grünen Linie. Sie umschließt israelische Siedlungen mitten in der Westbank mitsamt Feldern und Gemarkungen weiträumig und schließt andererseits palästinensische Dörfer von den dazu gehörigen Feldern, Olivenhainen und Straßen ab. Sie dringt tief in palästinensisches Land ein und schnürt einige Gebiete nahezu vollständig voneinander ab. Sie scheint einer Strategie zu folgen, wonach das Palästinensergebiet, das bis jetzt als zusammenhängendes Gebiet existiert, in 5 Sielungsgebiete getrennt wird. Als Staat wären diese Siedlungsgebiete nicht lebensfähig.

Meine Sprache zeigt schon, dass dieses Kapitel des israelisch-palästinensischen Konfliktes kompliziert ist, und zwar auf zwei Ebenen. Auf der politischen Ebene ist diese faktische Grenzziehung ein Verstoß gegen alle Friedensabkommen, die Israel geschlossen und unterzeichnet hat. Handelt es sich um eine israelische Annexion von palästinensischem Land? Auf der sprachlichen Ebene ist es eine Herausforderung: Wenn es keine anerkannte „Grenze“ ist, auch keine „Waffenstillstandslinie“, keine „Mauer“, kein „Zaun“, wie zwischen Nachbargärten – was ist es denn, wie darf man es nennen? Viele Palästinenser nennen dieses Ding, das sie nicht nur von den israelischen, sondern auch von ihren palästinensischen Nachbarn und Familien, sogar von ihren eigenen Feldern trennt, „Apartheidsmauer“. Und genau hier nehmen meine subjektiv geprägten Gedanken über dieses Bauwerk ihren Anfang.

Ich habe ein massives Problem damit, wie ich meine Assoziationen aus der Zeit des Anti-Apartheids-Kampfes in Südafrika aufdecke und rational verarbeite. Der Vergleich wäre falsch, aber er liegt so nahe!

Kannitverstaan
Ich will eine Geschichte erzählen, kurz, denn die lange Version habe ich gerade vor einigen Wochen meinem Freund Jürgen gewidmet. Kannitverstaan – wer kennt nicht die schöne Geschichte von Johann Peter Hebbel, in der ein deutscher Reisender in einer holländischen Stadt die großen Bilder des Lebens sieht und falsch deutet. Er sieht ein prächtiges Haus und erhält auf seine Frage, wem es gehört, die Antwort: Kannitverstaan. Der fremde Besucher der holländischen Stadt hält dies für den Namen des glücklichen reichen Mannes, der hier wohnt. So sieht er eine reich geschmückte Hochzeitskutsche, große Schiffe und Speicher im Hafen und anderes auf seinem Spaziergang durch die Stadt und erhält jedes Mal die gleiche Auskunft auf seine Frage, wem dies und das gehöre: Kannitverstaan. Was für ein glücklicher Kaufmann mit großer Familie und unendlichem Reichtum muss das sein, der dem Besucher aus der Fremde in all diesen Bildern erscheint. Am Abend schließt sich dieser Bilderbogen mit einem Trauerzug, der einem kostbaren Sarg folgt. Weinen und Klagen tönen aus dem Trauerzug. Und wieder erfährt unser Besucher, dass der Tod diesen vom Leben verwöhnten Mann Kannitverstaan geholt und auf das reduziert hat, was jeder Mensch am Anfang und am Ende ist, nur ein Mensch eben. Der Besucher ist bewegt und glaubt, er hat die Lektion dieses einen Tages in der holländischen Stadt verstanden. Das Leben gibt und das Leben nimmt.

Gepriesen sei Allah – verkündet in dieser Sekunde der Muezzin hier oben auf dem Ölberg. Und das ist nicht die Erzählung von Hebbel. Unter dem Ölberg, auf dem ich wohne, zieht sich die Mauer um Ost-Jerusalem. Auf beiden Seiten rufen die Muezzine zum Gebet. Heute ist Eid al Fitr, der erste von den drei Festtagen, mit denen der Fastenmonat Ramadan endet. Und da denke ich über Missverständnisse, über Worte und den Mangel an Verstehen zwischen Nachbarn nach.

Johan Peter Hebbel beschreibt einen Verständigungsversuch, der bei dem deutschen Besucher der holländischen Stadt wunderliche starke Gefühle und ernstes Nachdenken über die Grundwerte des Lebens auslöst. Er versteht etwas, was keiner ihm sagen konnte. Aber ausgelöst wird dieses Verstehen durch ein Missverständnis. Denn die Antwort, die er auf alle seine ehrfürchtigen Fragen erhalten hatte, hatte doch gelautet: Ick vasteh dir nich!

Von Sprachbarrieren
Meinem Freund Jürgen habe ich mit dieser Erzählung von Hebbel seine eigene Geschichte eines wunderlichen Missverständnisses in Erinnerung gerufen. Er hatte uns in den 80iger Jahren in Südafrika besucht, in der Zeit, als alle Welt vom Anachronismus jenes rassistischen Systems überzeugt war. Aber in meiner frommen und verängstigten Gemeinde in der modernsten Township Kapstadts, wurde gegenüber Fremden nicht offen über die Apartheid, und wie sie sich im Alltag auswirkte, gesprochen. Umso mehr war ich verwundert, als mein Freund nach der Gebetsstunde in der Gemeinde tief bewegt war, weil alle Gebete nur von diesem einen gehandelt hätten: Der Mauer der Apartheid, die Menschen von Menschen trennt. So jedenfalls mein Freund, der Besucher. Ich konnte das überhaupt nicht nachvollziehen, nicht ein einziges Mal war in den Gebeten die Apartheid direkt oder indirekt angesprochen worden. Wo hatte mein Freund „Trennung“, „Absperrung“ oder „Mauer“ gehört? Erst spät, wir hatten den langen Rückweg aus der Township schon hinter uns, da kam es mir: „Die Barriere“. Er hatte in allen Gebeten „Die Barriere“ gehört. In jedem Satz der Betenden erschien damals, und das wird heute noch nicht anders sein, dieses Wort. Aber es bedeutet etwas anderes. Weit weg von Barriere, Mauer, Schlagbaum oder Ähnlichem wird es als Gottes-Anrede verwendet. Es heißt in der Sprache der so genannten Mischlinge und der Buren „deerbare Here = lieber Gott“, und wird reichlich eingestreut vor den Satzbeginn, nach Nebensätzen oder als Füllsel, wenn der neue Gedanke seine Worte nicht mitbringt. Dierbare Here!

Mit diesem Missverständnis war es möglich geworden, dass mein Freund die tiefsten Gefühle heraus hören konnte, die die Menschen noch in ihren Gebeten voreinander versteckt hielten, weil sie zu schmerzlich waren. Apartheid war die tägliche Herabsetzung, nicht nur im materiellen Sinne, was Berufswahl, Lebensstandard, Wohnort und so weiter betraf. Apartheid hat in jeden Lebensvollzug hinein gewirkt, hat die Totalität der Erniedrigung in den Alltag hinein organisiert. Aber meine frommen Gemeindeglieder haben nicht darüber gesprochen. Es bedurfte dieses Missverständnisses, dieses offenbaren Irrtums, um die tiefe Kränkung, die ihnen täglich widerfuhr, nachzuvollziehen.

Assoziationen, die nicht helfen
Die Barriere, die in diesem Land gebaut wird, erinnert mich zuerst an die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, die mich in meiner Jugend schon vom Elternhaus und von den Schwestern getrennt hatte und die als „Berliner Mauer“ traurigen Weltruhm erlangt hat. Inschriften auf der palästinensischen Seite der Mauer sprechen den Vergleich an. Er ist falsch, aber es kostet mich einige Anstrengung, ihn zu unterdrücken. Das Schicksal vieler Palästinenser, die Alltagsprobleme derjenigen, die täglich die Grenze – die Grenze zwischen Westbank und Ost-Jerusalem, die beide palästinensisch sind! – passieren müssen und die in Jerusalem jederzeit von Polizeibeamten oder Soldaten angehalten und nach ihren Papieren gefragt werden können, erinnert mich an das Schicksal der Schwarzen in Südafrika, die vom Gesetz der Weißen in ihrem eigenen Land zu Fremden und zu unerwünschten Personen gemacht worden waren. Auch dieser Vergleich wird in den Sprüchen auf der israelischen Mauer gezogen. Auch er ist falsch. Er erklärt die Sachlage nicht und wird dem Konflikt in diesem Land nicht gerecht. Aber es kostet mich große Anstrengung, ihn zu unterdrücken.

Ich steige in Al Azariah aus dem Bus, ich atme den Geruch von brennendem Müll ein – und erkenne den Geruch von New-Crossroads, der ersten illegalen Wellblech-Siedlung von Kapstadt. Da, wo wir aussteigen, sind die Beduinen von der israelischen Regierung angesiedelt worden, die in diesem Teil der Judäischen Wüste gelebt hatten. Sie leben dort neben dem Müllplatz von Al Azariah – und das ist das Geringste ihrer Probleme. Auch das war doch ein Kennzeichen der Dauerslums Afrikas.

Ich sehe die Männer, die von der israelischen Grenzpolizei am Betreten Jerusalems und damit vom wichtigen Freitagsgebet am Ramadan ausgeschlossen worden sind, zusammenstehen, sich zur Erde beugen, auf die Knie gehen, mit der Stirn die Erde berühren, ich sehe sie ihr Gebet in Richtung Al-Aqsa Moschee verrichten, während drei Meter von ihnen entfernt die Reihe von Soldaten und berittenen Polizisten steht, die sie gleich vertreiben wird. Und unabweisbar bin ich mitten unter ihnen, wie damals in Kapstadt, 1985, als ich gemeinsam mit 19 anderen Pfarrern und muslimischen Geistlichen auf der Straße kniend und betend festgenommen und abgeführt wurde.

Ich steige aus dem Taxi und bezahle die hohe Rechnung. Der Taxifahrer war taub auf beiden Ohren, als wir ihm unser Fahrziel beschrieben haben: Jerusalem Hotel, near the Blue Bus Station, at Damascus Gate. Er hatte uns zum „richtigen, dem jüdischen“ Busbahnhof in West-Jerusalem gebracht, zum Jerusalem Gate Hotel. Dann hatte er uns, als wir darauf bestanden, unwillig zum „arabischen“ Busbahnhof gebracht, hatte dafür einen kräftigen Umweg genommen und uns aufgeklärt, wir sollten künftig, wenn wir hierher wollten, als Ziel angeben: American Colony Hotel. Was er nur durch die Blume zu erkennen gab: Dass ein jüdischer Taxifahrer nicht in den arabischen Teil Jerusalems fahren müsse. Ich habe die überhöhte Rechnung gezahlt und mich erinnert, dass weiße Taxifahrer nicht in Townships gefahren sind, weil sie sich dort nicht auskannten und weil Weiße dort nichts zu suchen hatten.

Der Vergleich zwischen Israel/Palästina und Südafrika ist falsch, er erklärt die Sachlage in Jerusalem nicht und er verstellt den Ernst der Lage. Aber die Assoziation ist unabweisbar. Für mich. Darum schreibe ich diese Geschichte auch als meine Geschichte, frei von der vorgeschriebenen politisch korrekten Sprache eines objektiven Beobachters. Mein Nachdenken ist subjektiv und unabhängig von der Meinung des Weltkirchenrates, der dieses Programm verantwortet. Es bedeutet eine große Anstrengung für mich, zu verstehen und nicht nur zu assoziieren.

Gestern hat mich ein Junge verfolgt, der mich in den Laden seines Vaters locken wollte. Ich konnte ihn nicht abschütteln. Schließlich fiel es mir ein: „Farjiini ’ard ktaafak!“ Das bedeutet: „Zeig mir deine breiten Schultern!“ und ist die förmliche Variante von „Hau ab“! Der Junge, der noch keine breiten Schultern hatte, hat sich gekringelt vor Lachen, vielleicht, weil hinter meiner falschen Aussprache die höfliche Sprache des Orients durchklang. Jedenfalls hat er mich verstanden. Und ich konnte mich davon machen.

Wie die Palästinenser die Mauer erklären
Zurück zur „Separation Barrier“. Auf der Ebene der Sprache kann ich das Problem klären: Die emotionale Wortwahl („Berlin Wall“ oder „Apartheid Wall“, wie an der Mauer zu lesen) würde das Problem dieses „Sperrwalles“ (wie es politisch korrekt heißt) nicht erklären und erst recht nicht lösen helfen. Das wirkliche Problem ist nicht der abstoßende Anblick dieser acht bis zwölf Meter hohen Mauer oder der Stacheldrahtgrenzziehung. Das wirkliche Problem hinter diesem Bauwerk ist das berechtigte Sicherheitsbedürfnis der israelischen Bevölkerung einerseits und das strategische Ziel der Zerstückelung Palästinas andererseits. Vordergründig schützt es vor Selbstmordattentätern, nachgewiesenermaßen. Aber hintergründig schafft es Fakten im Blick auf die Grenzziehung eines künftigen Palästinenserstaates, der in den Grenzen dieser Barriere nicht lebensfähig sein wird.

Es ist Sonntag, Vormittag. Ich stehe mit einer Gruppe schwedischer Besucher, die unser Friedensprogramm aus der Nähe sehen wollen, am Qualandiya Checkpoint. Ich erkläre ihnen die Funktionsweise dieses modernen „Terminals“. Ich zähle auch einige Beobachtungen auf, die wir ökumenischen Begleiter hier gemacht haben. Ein junger Mann, ein Palästinenser kommt aus dem Terminal, sieht uns, zögert kurz, kommt auf uns zu und beginnt ein Gespräch. Ihr Europäer versteht nicht, beginnt er. Wo kommt ihr her, fragt er und die Besucher antworten: aus Schweden. Der junge Mann erzählt, dass er hier täglich durchgehen muss und dass er, statt 20 Minuten mit dem Auto zu fahren, 2 Stunden unterwegs ist, bis er an seinem Arbeitsplatz ist, täglich. Nachmittags geht es etwas schneller. Er kommt in Fahrt und erzählt von Demütigungen, die er und andere Palästinenser sich hier gefallen lassen müssen. Er zeigt auf die Mauer und erklärt den Gästen aus Europa, was sie für die Palästinenser bedeutet. Schließlich fasst er seine Darstellung zusammen und sagt, dies sei eine neue Berliner Mauer, er habe Bilder von der Berliner Mauer gesehen und darüber sollten wir mal nachdenken. Er ist nicht zufrieden und fährt fort: Diese Mauer sei eine – er sucht nach dem Namen des Landes – südafrikanische Mauer, wir könnten das nicht wissen, aber er habe von Südafrika gelesen. Dort sei die Apartheid längst abgeschafft, aber hier werde sie aufgebaut. Dort, er zeigt nach Nordwesten, wo die 10 Meter hohe Mauer vorläufig endet, dort werde sie weiter gebaut, bis Ramallah von dieser „Apartheidsmauer“, jetzt hat er das Wort, das er gesucht hat, gefunden, ganz eingekesselt sei.

Ich bin bei den Erklärungen des jungen Mannes zurück getreten, weil ich fand, die schwedischen Besucher sollten den jungen Mann reden hören, authentisch in seinem Zorn, nicht an korrekte Sprache gebunden. Aber ich war mehr als verwirrt, von diesem Mann auf meine eigenen Assoziationen gestoßen zu werden, die ich mir vorgenommen hatte, streng zu überwachen. Ich bleibe dabei: Die Barriere, die Israel zwischen sich und die Palästinenser legt, beschreibt einen Konflikt, nicht eine Schuld.

Es ist Sonntag, Nachmittag. Ich sitze im Wohnzimmer einer lutherischen Familie in Beit Hanina, nur zwei oder drei Kilometer von dem Qualandiya Checkpoint entfernt. Auch vom Wohnzimmer dieser Familie aus können wir auf die Mauer, die hier nur 8 Meter hoch ist, sehen. Der Familienvater erklärt mir, dass er auf dieser Seite, in Ost-Jerusalem, hohe Steuern für sein Haus zahlen muss, im Unterschied zu den Nachbarn drüben auf der palästinensischen Seite. Er erzählt weiter, dass er keine Baugenehmigung für einen Ausbau bekommt, den die Familie seines Sohnes dringend braucht. Der Raum über Wohnzimmer und Küche könne nach oben aufgestockt werden. Drüben sei eine Baugenehmigung kein Problem. Die Juden wollen uns hier loswerden, sie wollen nicht, dass wir unsere Häuser noch ausbauen. Die Mauer dort, resümiert er, ist nur ein Symbol für viele Mauern, die in diesem Land gegen uns aufgerichtet sind. Und schließt: Ihr Europäer könnt uns nicht verstehen!

Ich verstehe nicht
Sonntag, Abend. Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Ölberg. Ich schreibe Berichte und schließe auch dieses Nachdenken ab. Manches habe ich heute neu verstanden, bei vielem muss ich sagen: Ich verstehe nicht. Und ich bleibe immer noch an der Frage hängen, wie ich „Separation Barrier“ übersetzen soll, und „sound bomb“ und den Befehl „Welcome!“, der über den einzelnen Anweisungen steht, mit denen die Palästinenser empfangen oder abgewiesen werden, wenn sie durch das „Terminal“ nach Jerusalem wollen. Solange ich dafür keine politisch korrekten und gleichzeitig zutreffenden deutschen Worte finde, muss ich in der fremden Sprache bleiben. Tut mir leid, kannitverstaan…

Gottfried Kraatz
Im Oktober 2006

Sunday, November 05, 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem
Meinungen: Herr Thabet, palästinensischer Christ, Beit Hanina

Herr Thabet spricht Deutsch. Er war 4 Jahre lang in Deutschland, um eine Berufsausbildung zu absolvieren. Er hat Chemische Reinigung gelernt. Aber hier, in Ost-Jerusalem, wo er lebt, gibt es keine Chemischen Reinigungen.
Er war zwischen 1965 und 1969 in Deutschland. 1967 war Krieg und das Land, in dem er bis dahin gelebt hatte, Westbank als Teil Jordaniens, hatte aufgehört, zu existieren. Als er wiederkam, gab es diesen Teil Jordaniens nicht mehr und Ost-Jerusalem war von Israel annektiert. Er hatte Mühe, seine Jerusalemer Identität und Besitztitel auf das Haus durchzusetzen. In Deutschland war er mit einem Jordanischen Pass gewesen. Jetzt hat er ein Israelisches Reisedokument, aber als Nationalität steht darin: Jordanier. Was bin ich, fragt er auf Deutsch, Israeli? Nein. Jordanier? Nein. Palästinenser? Ja, aber das steht nirgends.

Herr Thabet fällt immer wieder ins Englische, weil es doch lange her ist, dass er Deutsch sprechen konnte und in diesem Land hat er keine Gesprächspartner für diese Sprache. Herr Thabet spricht über die Probleme, die Christen in diesem Land haben. Anders als beim Tee nach dem Gottesdienst in der Erlöserkirche, anders als aus dem Mund der Bischöfe, mit denen wir bisher gesprochen haben, spricht er aus, was die Christen offensichtlich sehr bewegt: Sie fühlen sich unsicher und unerwünscht in der muslimischen Gesellschaft. Wann immer die Emotionen hochkommen, wie bei dem Karikaturenstreit oder bei der Papstrede, dann werfen Muslime Steine in die Fenster der christlichen Palästinenser, Nachbarn werden zu Feinden und die verdeckte Angst, mit der die Christen immer leben, wird real.
Herr Thabet zeigt mir die Häuser ringsum. Er hat Glück, hier leben 4 oder 5 andere christliche Familien, die offenbar auch entfernt miteinander verwandt sind. Dann ist er doch ein Stück sicherer? Ja, sagt er, verglichen mit Familien, die allein in ihrer muslimischen Umgebung wohnen. Aber dann weist er auf ein größeres Haus, in dem eine Koranschule, die der Hamas nahe steht, ihren Betrieb aufgenommen hat. Sie seien besonders laut, nicht nur mit den Gebetsrufen, sondern auch mit dem täglichen Unterricht. Der Unterricht werde manchmal über Lautsprecher in die Nachbarschaft getragen. Sie sind besonders laut, sie wollen uns loswerden hier.
Herr Thabet schildert die Situation der lutherischen Familien, die hier in diesem Teil von Beit Hanina leben, als doppelt unerwünscht: Der Israelische Staat will uns loswerden, weil sie Jerusalem für sich haben wollen und die Muslime wollen uns loswerden, weil sie eine muslimische Gesellschaft sein wollen. Sie hassen uns. In Bethlehem habe im vergangenen Jahr 40 Familien, vierzig, wiederholt er auf Deutsch, die Stadt und das Land verlassen. Die Gemeinde wird kleiner, die zurück bleiben, verlieren ihren Mut.

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem
Meinungen: Herr Thabet, palästinensischer Christ, Beit Hanina

Herr Thabet spricht Deutsch. Er war 4 Jahre lang in Deutschland, um eine Berufsausbildung zu absolvieren. Er hat Chemische Reinigung gelernt. Aber hier, in Ost-Jerusalem, wo er lebt, gibt es keine Chemischen Reinigungen.
Er war zwischen 1965 und 1969 in Deutschland. 1967 war Krieg und das Land, in dem er bis dahin gelebt hatte, Westbank als Teil Jordaniens, hatte aufgehört, zu existieren. Als er wiederkam, gab es diesen Teil Jordaniens nicht mehr und Ost-Jerusalem war von Israel annektiert. Er hatte Mühe, seine Jerusalemer Identität und Besitztitel auf das Haus durchzusetzen. In Deutschland war er mit einem Jordanischen Pass gewesen. Jetzt hat er ein Israelisches Reisedokument, aber als Nationalität steht darin: Jordanier. Was bin ich, fragt er auf Deutsch, Israeli? Nein. Jordanier? Nein. Palästinenser? Ja, aber das steht nirgends.

Herr Thabet fällt immer wieder ins Englische, weil es doch lange her ist, dass er Deutsch sprechen konnte und in diesem Land hat er keine Gesprächspartner für diese Sprache. Herr Thabet spricht über die Probleme, die Christen in diesem Land haben. Anders als beim Tee nach dem Gottesdienst in der Erlöserkirche, anders als aus dem Mund der Bischöfe, mit denen wir bisher gesprochen haben, spricht er aus, was die Christen offensichtlich sehr bewegt: Sie fühlen sich unsicher und unerwünscht in der muslimischen Gesellschaft. Wann immer die Emotionen hochkommen, wie bei dem Karikaturenstreit oder bei der Papstrede, dann werfen Muslime Steine in die Fenster der christlichen Palästinenser, Nachbarn werden zu Feinden und die verdeckte Angst, mit der die Christen immer leben, wird real.
Herr Thabet zeigt mir die Häuser ringsum. Er hat Glück, hier leben 4 oder 5 andere christliche Familien, die offenbar auch entfernt miteinander verwandt sind. Dann ist er doch ein Stück sicherer? Ja, sagt er, verglichen mit Familien, die allein in ihrer muslimischen Umgebung wohnen. Aber dann weist er auf ein größeres Haus, in dem eine Koranschule, die der Hamas nahe steht, ihren Betrieb aufgenommen hat. Sie seien besonders laut, nicht nur mit den Gebetsrufen, sondern auch mit dem täglichen Unterricht. Der Unterricht werde manchmal über Lautsprecher in die Nachbarschaft getragen. Sie sind besonders laut, sie wollen uns loswerden hier.
Herr Thabet schildert die Situation der lutherischen Familien, die hier in diesem Teil von Beit Hanina leben, als doppelt unerwünscht: Der Israelische Staat will uns loswerden, weil sie Jerusalem für sich haben wollen und die Muslime wollen uns loswerden, weil sie eine muslimische Gesellschaft sein wollen. Sie hassen uns. In Bethlehem habe im vergangenen Jahr 40 Familien, vierzig, wiederholt er auf Deutsch, die Stadt und das Land verlassen. Die Gemeinde wird kleiner, die zurück bleiben, verlieren ihren Mut.