Sunday, June 22, 2008

Nachts am Kontrollpunkt

Zwei Uhr dreißig
Samuel steht jeden Morgen um zwei Uhr auf und geht zum Kontrollpunkt, zum Grenzübergang zwischen Bethlehem und Jerusalem. Er will unbedingt unter den ersten sein wenn das Tor geöffnet wird. Wenn er kommt, sitzen schon ein halbes Dutzend oder mehr Männer vor dem Eingang der Kontrollanlage. Sie haben sich Kartons mitgebracht, zum Teil neben den Müllbehältern aufgelesen, darauf sitzen sie, zwei von ihnen haben sich auf Pappe gelegt und mit Pappe zugedeckt, es sieht aus wie ein Pappsarg. Darunter schlafen sie. Aber sie werden unter den ersten sein, die um fünf Uhr in die Kontrollanlage eingelassen werden. Es ist ruhig um diese Zeit. Die großen Lichtstrahler, die 9 Meter höher oben auf der Mauer angebracht sind, sind noch nicht eingeschaltet. Und der Wind, der vor Sonnenaufgang aufkommen wird, ist auch noch still. Alle paar Minuten kommen mehr Männer, setzen sich oder lehnen sich an die stählernen Gitterstäbe, die hier den 300 Meter langen Käfig bilden, durch den die Männer jeden Morgen geschleust werden. Ab und zu leuchtet ein Feuerzeug auf und Zigarettenrauch weht herüber.

Samuel
Samuel wohnt in einem Dorf nahe bei Herodion, südöstlich von Bethlehem. Es ist zu weit, um jeden Tag mit dem Taxi zu fahren, viel zu früh für eine Buslinie. So schläft Samuel bei einem Bruder in Bethlehem und läuft jede Nacht zum Kontrollpunkt. Seine Familie sieht er, wenn es gut geht, nur am Wochenende. Er hat keine feste Arbeit. Er muss sich an die große Kreuzung in die Gilo-Siedlung stellen und warten, ob ihn jemand für den Tag anheuert. Wie lange steht er dort? Bis 9 Uhr, danach hat er keine Chance mehr, angeheuert zu werden. Und dann fährt er auch nicht gern nach Hause, weil er der Familie kein Geld und nichts zu essen bringen kann. Hat er eine Arbeitserlaubnis? Ja, aber die läuft am Ende der Woche ab. Danach, hofft er, kriegt er eine neue, beantragt ist sie schon; aber es wird schwer, weil er keinen festen Arbeitsplatz hat. Samuel hat drei Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen. Der Junge bereitet sich auf die Oberschule vor. Wenn er es schafft, kann die Familie in einigen Jahren auf ein besseres Einkommen hoffen.

Die Frauen
Samuel ist sicher nicht allein mit dieser Geschichte. Aber er kann Englisch und kann uns deshalb seine Geschichte erzählen. Unterdessen ist es 3 Uhr 25 und die ersten Frauen kommen durch die Gitterschleuse zum Eingang. Sie setzen sich innerhalb der Mauer, in den kleinen Raum, der zwischen Mauer und dem ersten Durchgang liegt. Hier wird später der Wind noch kräftiger wehen, aber Frauen halten sich in der Regel von Männern getrennt auf. Sie kommen jetzt schon, weil sie später kaum eine Chance haben, sich durch die Reihen der Männer zu schlängeln, die dann dicht gedrängt in dem etwa einen Meter breiten Gang stehen. Frauen müssen vorgelassen werden, sie dürfen nicht in eine Situation gebracht werden, wo Männer sie berühren. Na – und das ist in diesem Kontrollpunkt schwer durchzusetzen. Gegen vier Uhr dreißig werden es etwa 15 Frauen sein, danach haben sie etwa eine Stunde lang keine Chance mehr, durch diesen schmalen Schleuse durchzukommen. Fünf Minuten nach vier Uhr kommt ein Soldat und befiehlt den Frauen, diesen Raum diesseits der Mauer zu verlassen. Sie ziehen sich still ein bisschen zurück, einige argumentieren mit dem Soldaten. Der merkt irgendwann, dass er sich nicht durchsetzen kann und zieht sich zurück. Die Frauen setzen sich wieder auf ihren Karton, still, um keinen Anlass für die Durchsetzung der Forderung zu geben.
Wir stehen auf der Bethlehemer Seite der Mauer. Auch hier ist das Schleusengitter etwas verbreitert und bisher ist es auch hier ruhig. Unten, wo der Gang beginnt und die neutrale Beschilderung „Eingang“ angebracht ist, wird es lauter. Taxis kommen an und die Männer fangen an zu streiten.

Das Morgengebet
Aber ich muss einige Minuten zurückgehen, um von dem Gebet zu erzählen. Schon viertel nach drei Uhr hatte ich einen Mann gesehen, der zwischen den Sitzenden aufgestanden war, um sein Gebet zu beginnen. Später, drei Uhr fünfundfünfzig, mit den Rufen der Muezzin von den nahen Minaretten Bethlehems, stehen alle Männer auf. Sie beginnen das Gebet, jetzt gemeinsam. Sie reinigen symbolisch Augen und Ohren, gehen auf die Knie und beugen sich nach vorn, der schmale Gang erlaubt es nicht, mit der Stirn den Boden zu berühren. Sie verharren, ich höre aus der Mitte des umgitterten Gangs einen Vorbeter singen, dann antworten die Männer, singen gemeinsam. Sie legen die Hände auf die Knie und beugen sich vor, nach Süden, in Richtung Mekka. Es ist eindrucksvoll. Es gibt in diesen Minuten nichts anderes als dieses konzentrierte gemeinsame Gebet. Der mit einem Stahlzaun geschlossene und mit Stacheldraht und schwarzer Schmiere gesicherte Gang ist angefüllt von Betenden. Der letzte Ruf des Vorbeters verklingt, die Männer setzen sich, einige Zigaretten werden angezündet. Unten beginnt das Gerangel und schlimmer: Die ersten jungen Männer kommen, gehen an dem Gitter-Gang vorbei nach vorne, klettern über die Stahlgitter und springen zwischen die Wartenden. Die dort Wartenden schreien und schimpfen, aber noch nie habe ich gesehen, dass einer auch nur die Hand erhoben, geschweige denn geschlagen hätte. Und doch ist dieser Kampf zwischen denen, die früh kommen und brav anstehen und den anderen, die sich auf diese Weise vordrängen, unschön und ein schwer erträglicher Kontrast zu dem Gebet.

Fünf Uhr
Unterdessen ist ein kalter Wind aufgekommen. Der Nachthimmel im Osten zeigt Schwächen, die Sterne werden dort blasser. Wir frieren richtig. Aber wir haben eine Ecke besetzt, zwischen Mauer und der Gittertür, wo das Gedrängel uns nicht erreicht. Die Unruhe und die Kampfstimmung um die vorderen Plätze werden jetzt unerträglich. Wir sehen, dass Samuel vorn an der Drehtür steht. Die Frauen lehnen an dem Gitter, dicht bei der Drehtür, die Männer werden sie bevorzugt durchlassen. Punkt fünf Uhr erscheint der Soldat in der Kabine aus Beton und kugelsicherem Glas, er schaltet den Monitor und die Drehtürkontrolle ein, das Licht draußen vor der Mauer und über der Drehtür leuchtet das grüne Lämpchen auf.
Nach zehn Minuten sind auch wir durch die Drehtür gegangen und auf dem Rückweg. Wir müssen diesen ersten Teil der Kontrollanlage hinter uns bringen, um uns gleich hinter der Kabine wieder nach links zu wenden und den Ausgang zu nehmen. Wir laufen den ganzen, von wartenden Männern gefüllten Käfig-Gang, auch hier getrennt durch die zweieinhalb Meter hohen Stahlgitter, hinunter. Viele der Männer, die uns kennen, sehen uns fragend an: Wir haben euch heute gar nicht kommen sehen? Unten begrüßen uns die Händler hinter ihren Tischen oder kleinen Handkarren; einige von ihnen hatten halb drei Uhr morgens schon ihre Stände aufgebaut und uns begrüßt. Jetzt bedanken sie sich und bieten uns Kaffee an, umsonst! Sie erklären den Umstehenden, dass wir schon nachts gekommen seien, weil wir unsere Aufgabe, sie hier moralisch zu unterstützen, so ernst nähmen. Für drei oder fünf Minuten, die wir stehen bleiben und uns unterhalten, auch unsere arabischen Begrüßungsworte hersagen, ist hier eine freundliche, fast euphorische Stimmung.

Wir sind durchgefroren und müde und schämen uns, dass wir uns zuhause hinlegen können, während die Männer hier noch bis zu zwei Stunden Warten vor sich haben und dann ihren Arbeitstag.

Nachtrag
Eine Woche später. Die Leiterinnen unseres Programms kritisieren, dass ich keine Fotos von den Männern gemacht habe, die im Käfig schlafen und beten. Für die Dokumentation wäre das wichtig gewesen. Also mache ich mich heute auf Sonntag den 22. Juni 2008, und gehe noch einmal nachts zum Kontrollpunkt. Nach den ersten Fotos hört die Kamera auf und will neue Batterien. Der Kaffeeverkäufer, Ameen, hat Batterien, aber nicht die richtigen. Er hilft mir, einen Taxifahrer zu finden, der mich zu unserer Wohnung und wieder zum Kontrollpunkt fährt. Ich mache meine Fotos, einige Männer wollen nicht fotografiert werden, vor allem nicht beim Gebet. Ich mache einige Fotos von den Schlafenden. Dann unterhalte ich mich unten bei den Händlern. Trinke einen Kaffee, Ameen will kein Geld.

Said
Said verkauft mit seinen zwei Brüdern süßes Gebäck. Er ist 15 Jahre alt, ein bzw. zwei Jahre jünger als seine beiden Brüder. Sein Vater ist schwer krank und kann nicht mehr arbeiten. Said hat die Schule aufgegeben und verkauft jetzt jeden Morgen hier die süßen Stückchen, die seine Mutter bäckt. Ameen unterstützt die Familie. Er kann gut Englisch und erzählt mir die Geschichte, Said steht daneben und lächelt stolz. Dann nimmt er eines der Bleche auf den Kopf und einen kleinen Karton mit schwarzem und gelbem Tee von Ameen und läuft den eingezäunten Gang nach oben und bietet den wartenden Männern davon an. Den ganzen Morgen lang tut er das, immer werden einige Männer schwach und kaufen ihm was ab. Said krieg einen Schekel für das Gebäck seiner Mutter und einen Schekel für den Tee, der er Ameen abgibt.

Noch einmal: Morgengebet
Kurz vor vier Uhr beten die Männer. Ich mache ein Bild unten auf der Straße, wo ich den Scheich gebeten hatte, fotografieren zu dürfen. Der Scheich ist den ganzen Morgen hier und lädt immer wieder kleine Gruppen von Männern zum Gebet ein; dann sammelt er Geld für die Moschee, die er in seinem Dorf südlich von Hebron bauen will.

Dreiviertel fünf
Meine Kollegen kommen mit dem Gast, einem Quäker aus England. Die Frauen kämpfen sich durch die Gitterschleuse, der Gast ist bald abgehängt. Die Männer machen hinter den beiden Frauen, deren Gegenwart drinnen im Terminal sie schätzen, wieder zu. Der Gast, eher als Tourist eingeschätzt, steckt fest. Von außen lotse ich ihn durch, die Männer kennen mich und machen Platz für den Fremden. Es dauert geschlagene 13 Minuten, bis ich ihn vorne am Eingang bei den beiden Frauen, die unsere Weste tragen, „abliefern“ kann. Wieder unten an der Straße, gibt Ameen mir einen Kräutertee. Alles ist still und friedlich und ich berichte per Handy an Anna oben am Eingang, dass heute ein guter Tag ist, die Männer stehen weit die Straße hinunter, in Viererreihen, diszipliniert und ruhig. Ich stecke das Handy ein. Da bricht ein Sturm los, Geschrei und Gerenne: gut hundert Männer laufen auf den Käfig-Eingang zu, daran vorbei und stürmen weit vorne die Stahlgitter, klettern hinüber und lassen sich drin im Gang auf die Wartenden fallen… Also doch. Ich mache automatisch einen Eintrag in meinen Notizblock: “4.59 am, the men from the end of the line are storming the steel rods to climb and jump”.

Verstört, wie immer nach dieser Frühschicht, verlasse ich diesen ungastlichen Ort. Aber ich kaufe Said 5 süße Stückchen ab, zum Frühstück für das Team und den Gast. Sie sehen aus wie Schoko-Croissants und kosten einen Schekel jedes Stück. Sie machen sich gut auf dem Tisch, weil doch Sonntag ist.

Friday, June 13, 2008

Himmel über Bethlehem

Der Himmel über Bethlehem ist voller Gebete
Es gibt Tage, wo die Luft spürbar schlecht ist, an anderen Tagen fegt der Wind durch die Straßen, wirbelt Staub auf und drückt einem die Dreckfahne eines geschäftigen Tages ins Gesicht. Der Wind lässt dann kühlere Luft zurück und darum nimmt man seine Aggression hin. Es gibt Abende, an denen die Luft eine Spur feuchter ist als sonst, weil es ein Westwind war, der sich vom Mittelmeer die Berge herauf gemüht hat. Regen bringt auch dieser Wind nicht, Wolken vielleicht, graue Wolken, die den Abendhimmel frühzeitig färben, aber keinen Regen. Angenehm ist der Wind aus Osten, er ist trocken und treibt die angestaute Luft aus der Stadt.
Weiter oben, aber das stelle ich mir nur vor, über den Städten Jerusalem und Bethlehem, da steht die Luft still. Sie ist angefüllt von Gebeten, muslimischen Gebeten, die den melodischen Rufen der Muezzine folgen, fünf Mal am Tag steigen diese Gebete in dichten Reihen auf. Christliche Gebete folgen ihnen, über den ganzen Tag verteilt, meist in arabischer, aber auch mal in aramäischer Sprache in den vielfältigen Traditionen der orientalischen und westlichen Kirchen. Schließlich sind dort, hoch am Himmel über diesen Städten, die jüdischen Gebete, die von der Klagemauer aufsteigen, von den Tischen der Sabbatfeiern, aus Synagogen. Der Himmel ist wie ein reifer Olivenbaum, voller bläulicher Früchte. Würde einer den Himmel schütteln, würden sie alle herabfallen, die leichten und die schweren Früchte, die Litaneien, die Stoßgebete, die leisen dankbaren und die laut geschrienen. Der Himmel über Bethlehem ist verhangen von Empfindungen, Schmerzen, Wut und Sehnsucht nach Erlösung.

Was macht der Himmel mit all diesen Gebeten?

Der Jüdische Soldat
Wenn die Zeit für das Gebet gekommen ist, breitet der Muslim, der gut vorbereitet ist, auch wenn er weit weg von einer Moschee oder von zu Hause ist, den Teppich oder den Pappkarton aus und beginnt sein Gebet. Wir sehen Männer, die durch den Checkpoint durch gekommen sind und in der ersten Ecke, die sich bietet, ihr Gebet beginnen. Und keiner schenkt ihnen Beachtung oder lacht. Der jüdische Soldat in der Kabine unterbricht seine Arbeit, die Arbeitserlaubnisse der Männer zu überprüfen und sie durchzuschleusen, Männer, die vielleicht schon über eine Stunde lang anstehen und durch die Kontrolle wollen. Der Soldat legt sich den Gebetsschal über Kopf und Schulter, dreht sich in eine Ecke, wo er niemanden sehen muss und betet. Draußen die Muslime warten schweigend und hoffen, der Beter in Waffen ist von der schnellen Sorte. Der Besitzer des Andenkenladens im Souk bewegt langsam den Rosenkranz in seinen Fingern und verfolgt gleichzeitig das Geschehen in der Gasse vor seinem Laden. Er kann nicht zur Marienvesper gehen, aber mit seinen Gebeten ist er dabei.

Da war der Jeep, der quer in der Straße hinter dem Ar Ram Checkpoint stand. Zwei Soldaten, einer saß mit dem Sturmgewehr in beiden Händen auf dem Kühler, der andere hatte die Waffe umgehängt, aber eben auch den Gebetsschal, Helm ab, die Kippa auf dem Kopf und, von der Straße abgewandt betend. Einige Jungs machen sich den Spaß und spielen mit einer Blechbüchse Fußball, der Soldat, der die Wache doppelt wachsam halten muss, guckt zu, sein Kopf ist klar nach rechts gerichtet. Währenddessen klettern links drei Jungs über die Mauer, die hier nicht hoch ist, hinüber. Das Manöver war klar. Das Gebet und die Ablenkung. Und kaum sind die drei Jungs hinüber, hören die anderen mit ihrer Blechbüchse auf und rennen lachend davon.

Gebet an der Mauer
Jeden Freitag Abend treffen sich die Caritas-Schwestern vom Kinderkrankenhaus an der Mauer zum Gebet. Die Brüder der Christlichen Schulen (vom La-Salle-Orden) schließen sich ihnen an, manchmal eine Novizin des nahen Emanuel Klosters oder auch Pilgergruppen aus aller Welt. Es ist das Stück Mauer zwischen dem großen Tor, das nur für Touristenbusse und Ausländer mit eigenem PKW geöffnet ist und dem Kloster. Es ist nicht weit von unserer Wohnung entfernt und wir gehen möglichst regelmäßig hin. So lernen wir den Grundbestand der Rosenkranz Litanei auf Italienisch, Arabisch, Englisch und Deutsch. Wir gehen auf und ab, dreimal, eine halbe Stunde lang. Dann tauschen sich die Beter noch über dies und das vom Tage, über wichtige Ereignisse und über das kleingeschriebene Menschliche aus. Dann gehen sie jeder seiner Beschäftigung nach. Warum haben sich die Schwestern diesen Ort ausgesucht, beten sie für oder gegen was? „Nein“, sagen sie, „die Juden haben ihre Klagemauer und wir begnügen uns mit dieser Mauer hier, Gott hört und sieht uns alle“. Mehr Kommentar ist von ihnen nicht zu kriegen. Gebet? Muss man das erklären?

Gebet im Käfig
Es ist früh, zwei Uhr dreißig, der Sternenhimmel klar, die Nacht noch lange nicht fertig. Wir kommen zum Kontrollpunkt, dem viel gehassten Checkpoint. Wir wollen mit eigenen Augen sehen, ob die ersten Männer wirklich schon vor drei Uhr hier ankommen. Und es stimmt: Sechs Männer liegen, in Pappkartons eingepackt, am oberen Ende des Gitterweges. Hier ist der schmale Durchgang durch die ca. 45 cm dicke Mauer. Davor sitzen und liegen sie. Sie sind um 2 Uhr gekommen. Wir zählen und schreiben auf, wie viele in den nächsten 2 Stunden kommen. Um fünf Uhr wird der Eingang geöffnet und sie wollen die ersten sein, die durchkommen. Die Männer, die erst gegen fünf Uhr kommen, haben dann ca. 800 Frühaufsteher vor sich und müssen bis zu zwei Stunden warten, bis sie durch die Kontrollen durch sind.
Um 2.55 Uhr, sagen meine Notizen, steht ein einzelner Mann auf und betet. Ein früher Muezzin hat zum Gebet gerufen, ich weiß nicht, warum so früh. Um 3.55 Uhr, da ist der eingezäunte Weg schon bis unten hin voll von sitzenden Männern, erheben sich alle, die Muezzin singen von allen Minaretten. Die Männer stehen Schulter an Schulter nach Mekka ausgerichtet und vollziehen die gleichen Bewegungen, das Symbol der Waschung, das Hinknien, mit der Stirn den Boden berührend und so weiter. Dann hören wir einen Vorsänger, schön singt er, schlicht und die Männer antworten im Chor. Sie stehen auf, stehen still und gesammelt, legen die Hände über die Knie und senken die Köpfe. Es ist eindrucksvoll, es lädt ein, mitzubeten, es ist ein bewegender Anblick. Ein gemeinsames kräftiges Gebet steigt über diesen Käfig aus Stahl und Stacheldraht, in denen die Männer eingezwängt sind. Hat das Gebet einen Bezug zu dem Ort und der Situation, in der die Betenden sich befinden? Sie sind fertig und setzen sich wieder auf ihre Pappkartons. Und unmittelbar danach bricht weit unten das Geschrei aus. Es kommt von den Männern innerhalb des eingezäunten Weges und betrifft die jungen starken Männer, die wie Gangs aus den Sammeltaxis an der eingezäunten Schlange der Wartenden vorbei gehen, bis dahin, wo die Soldaten den Stacheldraht jeden Tag neu befestigen. Dort klettern sie und springen zwischen die Frühaufsteher, die hier schon seit einer Stunde sitzen und rauchen oder schweigend warten. So sparen die Eindringlinge eine gute Stunde Warten. Lautes Schimpfen, aber keine Handgreiflichkeiten.
Was für ein Kontrast: Das Gebet und das Kampfgeschrei!

Der Himmel wird licht von Osten her. Ein kalter Wind kommt auf und die Männer hier vorne vor dem Mauerdurchlass schützen sich mit den Kartons, die sie mitgebracht haben. Die Soldaten haben Wachwechsel, für einen Moment steht die Tür vom Wachturm, der in die Mauer integriert ist, offen. Oben im Wachturm ist Licht. Die Kamera hat die Bilder vom Gebet der Männer in den Raum dort oben übertragen. Was bedeutet den Soldaten, vielleicht frommen Juden, die selber viermal am Tag beten – was bedeutet ihnen das Gebet der Männer, die sie gleichzeitig verachten und fürchten?

Der Gott Abrahams
In meinem Pfarrkonvent in Berlin kam einmal die Frage auf, ob der Gott der Muslime, der Juden und der Christen derselbe Gott ist. Keine Zweifel: Der Gott Israels und der Vater von Jesus ist in unserer Theologie derselbe. Aber Zweifel, Scheu und heftige Abwehr herrschen vor gegen den Gedanken, auch Allah könnte der Gott unseres Glaubensbekenntnisses sein. Wie wenig relevant ist diese Frage hier, in der Situation Palästinas! Wie viel wichtiger ist die Frage: Wessen Auslegung der Thora, der Bibel und des Koran ist richtig oder ist verbindlich oder verdient unser Vertrauen. Oder, mit dem Blick in den Himmel über Bethlehem: Welche Gebete dringen durch zum Gott der Kinder Abrahams?

Wäre er wie wir Menschen, er müsste zwischen Schmerz, Zorn und Mitleid schwanken. Lachen wäre sicher auch dabei. Aber er ist nicht wie wir. Vielleicht schickt er Petrus mit einem großen Besen und lässt ihn von Zeit zu Zeit den ganzen Himmel über Bethlehem ausfegen – mindestens, um Platz für neue Versuche zu machen. Besser: Die Beter sollten hören lernen, wie ihr Nachbar betet, wie er sein Leiden, seinen Dank, seine Sehnsucht vor Gott bringt.

Der Himmel über den Heiligen Städten dieses Landes ist voll von Gebeten. Hören wir sie?

Wednesday, June 11, 2008

60 Jahre Naqba in Bethlehm


Die Lebende Uhr von Bethlehem
Sonntag, 8. Juni 2008

Die Internationale Woche der Kirchen für Frieden in Palästina und Israel ist abgeschlossen. Sie hat in Jerusalem begonnen und wurde in New York mit einem Gottesdienst mit der Jerusalemer Liturgie beendet. Das war gestern, Sonntag, 8. Juni 2008.
Für uns in Bethlehem war der Höhepunkt die Aktion mit der Lebenden Uhr auf dem Platz vor der Geburtskirche. Ungefähr 100 Leute aus Bethlehem und aus aller Welt haben eine Uhr dargestellt, deren 60 Minuten den 60 Jahren der Naqba entsprechen sollten. 60 Leute mit den Nummern 1 bis 60 standen in einem großen Kreis. In der Mitte der Uhr hat sich ein Zeiger bewegt, die Menschen haben hier die Buchstaben für die Losung „It’s time for Palestine“ gezeigt. An der Spitze des Uhrzeigers trug der Mensch mit dem Buchstaben „e“ eine Fackel, mit der er die Fackel von jedem einzelnen Jahr der Gedenkuhr anzündete. Am Schluss brannten alle Fackeln und die Lebende Uhr des Gedenkens sang gemeinsam das Lied:
Yarabba ssalami amter aleina ssalam…= O Gott des Friedens, lass Frieden auf unser Land regnen…“

Der das Licht rund um die Uhr trug und alle Fackeln zum Brennen brachte, war Justice aus Südafrika von unserem Ökumenischen Begleitprogramm. Weitere 7 Freiwillige aus unserem Programm waren in der Uhr beteiligt, Gottfried war eine der beiden in Rot gehaltenen Zahlen, die 60 für die 60 Jahre der Naqba, der Katastrophe für Palästina.

Hier ist der Link zu dem Video, das die Aktion zeigt: http://www.youtube.com/watch?v=zI4Ja6loTWk