Monday, August 13, 2007

Zum Israelsonntag, 12. August 2007

Israel braucht Kritiker

Singt Gott das neue Lied, singt laut! Mit diesem Motto aus Psalm 33 sollen wir den diesjährigen Israelsonntag feiern. Ja! Es geht um Gott und wie wir ihn gemeinsam in der Welt bezeugen, Christen und Juden. Gott loben, darin finden wir Gemeinsamkeit. Und was die Gemeinsamkeit stört, darüber dürfen wir streiten.

Der reale Staat Israel
Israel, der reale Staat Israel – Israel muss an diesem Tag thematisiert werden. Dieser Staat Israel ist kein Lob Gottes vor den Völkern. Das Judentum, das dieser Staat Israel nach außen darstellt, schafft Gott keine Freunde, nicht unter seinen Nachbarn und nicht in der Gemeinschaft der Völker. Die Völker kommen heute nicht nach Zion, um seinen Gott zu loben. Ich sage: Dieses Israel braucht Kritiker, keine falschen Freunde, die die Augen vor dem Unheil, in das es läuft, verschließen.

Anders als unsere reformatorischen Väter sehen wir heute „Israel“ nicht als das abgestrafte alte Volk Gottes. Anders als die Protestanten des 19 Jahrhunderts sehen wir „die Juden“ nicht als Objekt christlicher Mission. Wir sehen Israel als Gottes Modell und als Partner für unser Bekenntnis zu Gott in einer gottlosen Welt. Und das reale Israel, wie alle Versuche, einen Gottesstaat auf Erden zu errichten, verdient dabei unsere kritische Aufmerksamkeit.

Engagiertes Hinsehen
Israel braucht Kritik, nicht blinde Zustimmung zu seiner selbstzerstörerischen Politik. Ich schreibe das, nachdem ich zweimal im Friedensprogramm des Weltkirchenrates in Israel/Palästina mitgearbeitet habe, insgesamt ein halbes Jahr lang. Ich war in Jerusalem, in seinem Westen, seinem Osten und seinem Umland, jenseits der Sperranlage, in den abgeschnittenen Vororten und Nachbarstädten. Ich habe das Leiden der Menschen in diesem Land gesehen und sie lieben gelernt. Gott sei Dank!

Ich stand da, wo morgens um 5 Uhr die ersten tausend Männer und einige Frauen darauf warten, durch die Sperre gelassen zu werden, die Israel durch das Land gezogen hat. Ich habe die demütigenden Prozeduren erlebt, denen sie dort unterzogen werden. Ich habe versucht, zu helfen, wenn Palästinenser abgewiesen wurden: Kranke, die in ihre Krankenhäuser in Ostjerusalem, Pilger, die zum Freitagsgebet zur Al Aqsa Moschee oder Menschen, die einfach Arbeit in der Stadt suchen wollten. Ich habe ihre tiefe Frustration zu spüren gekriegt. Und ich habe dort auch Menschen getroffen, die verzweifelt versucht haben, an einen Weg aus diesem Zustandes suchen. Gott sei Dank!



Traumatisiert
Ich habe junge Soldaten gesehen, die dabei von Angst und Aggressivität und Offiziere, die vom Gefühl der Macht geleitet wurden. Ich habe Menschen unter der Belastung leiden sehen, die jede Besatzungsmacht prägt: Väter, die ihre Söhne nicht mehr verstehen und Kinder, die das Schweigen der Väter über ihre Kriegserlebnisse nicht mehr aushalten. Aber ich habe auch Kriegsdienstverweigerer gesehen, die den Mut haben, dafür ins Gefängnis zu gehen. Und Mütter, die sich jeden Morgen aufmachen, um die jungen Soldaten an den Kontrollpunkten auf mindestens faires Verhalten zu verpflichten. Gott sei Dank!

Ich habe Menschen erlebt, die sich gegenüber stehen, die getrennt in einem Land aber in zwei traumatisierten Gesellschaften leben. Menschen die geprägt sind von Angst vor- und Hass gegeneinander; die die Eskalation von Tat und Folge erleben, aber nicht rational zu ihren Anfängen zurück verfolgen; die fatalistisch oder aggressiv in die nächste Runde steigen, weil niemand ihnen den Weg aus dem Trauma weist. Völker, die ihr Trauma kultivieren - und Nachbarn, die sich auf die eine oder die andere Seite stellen? Wo soll da Hilfe herkommen? Aber ich habe auch Menschen erlebt, Israelische Soldaten und palästinensische Freiheitskämpfer, die ausgestiegen sind, die miteinander reden und die dafür werben, dass auch andere aussteigen und miteinander reden. Und Väter und Mütter, die um Gefallene, um Opfer von palästinensischen Selbstmordattentaten und von israelischen Erschießungskommandos trauern; die sich zusammentun: Israelis und Palästinenser, weil Trauer nicht trennen muss, sondern auch einen kann. Diese Menschen zeigen den Weg aus dem Trauma. Es gibt sie. Gott sei Dank!

Israelische Freunde
Ich bin befreundet mit Israelis, die als Führer und Pädagogen im großen Gedächtnis-Mahnmal, in Yad VaShem arbeiten und die sich daneben für eine Gedächtniskultur Israels engagieren, in der auch die Zerstörung von arabischen Dörfern und die Vertreibung von Palästinensern erinnert werden. Befreundet mit Israelis, die sich gegen die Vernichtung der Kultur der Beduinen und ihre Zwangsumsiedlung in Lager einsetzen. Ich habe mit ihnen gemeinsam Chanukka, Schawuot, den 9. Aw oder einfach den Beginn des Sabbat gefeiert – oder neben ihnen gestanden bei ihren Mahnwachen. Es gibt mutige Israelis. Gott sei Dank!

Noch ein Wort zu meinen israelischen Freunden. Sie haben verschiedene politische Ansichten. Sie setzen mit der Kritik bei Konzepten des Zionismus ein oder mit der falschen Entscheidung zur fortdauernden Besatzung der Palästinensergebiete oder bei der Militarisierung der Gesellschaft. Diese Freunde wollen nichts davon hören, dass ich als Deutscher sage: Ich als Deutscher… Nein!, sagen sie, Du musst das Trauma der Deutschen Schuld überwinden, sonst bist du uns nichts nutze! Sie geben mir das Recht, hier als Mitmensch und als Christ zu schreien: Israel braucht Kritik, nicht vornehmes oder ängstliches Wegschauen. Und sie trauen uns das zu, gerade uns Deutschen. Gott sei Dank!

Kommt, lasst uns streiten! Gott loben, das ist unsere, der Juden und der Christen gemeinsame Mission in der Welt. Der Jüdische Staat Israel, der sich nicht vom Trauma seiner langen Vorgeschichte trennen kann, braucht unsere Solidarität. Jerusalem und Israel, die Stadt und das Land der Gotteserfahrungen, die das alte Israel, die die Christenheit, die der Islam dort gemacht haben – sie brauchen unser Gebet. Sie brauchen unsere Kritik.
Denn Gott braucht ein neues Lied.

Vereidigung von Soldaten vor der Klagemauer

Friday, July 13, 2007

Brief zum Portrait

Jerusalem, 07.07.2007
Guten Morgen, liebe Nini!
Wie ich sehe, hast Du eben die Mailbox geöffnet. Und vielleicht seid Ihr ja noch dabei, das Kamel, das ich Euch heute morgen mitgeschickt habe, zu betrachten. Ob es Paula gefällt, das Kamel?

Israelsonntag
Ich habe gerade die Antwort an Frau K. geschrieben und zugesagt, dass ich am 12. August den Gottesdienst in Blankenfelde übernehmen werde. Am 12. August werden wir, dem Kirchenkalender folgend, den Israelsonntag feiern. Das ist traditionell der Sonntag, an dem die evangelischen Kirchen und Gemeinden über ihre Wurzeln im Judentum oder, anders gesagt, über ihre Beziehungen zum Judentum nachdenken. Eine Zeit lang hieß das, Martin Luther folgend, sich das Beispiel der Bestrafung Israels mit der zweimaligen Zerstörung des Tempels vor Augen zu führen. Im 19. Jahrhundert wurde die Liturgie als Aufruf zur Judenmission genutzt. Und heute gerät der Gottesdienst an diesem Tag dann zu einem Gottesdienst in Solidarität mit dem modernen Israel. So ändern sich die Zeiten! Die Solidarität mit den Juden, die auf eine lange Geschichte von Ab- und Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich die Schoa zurückblicken, will ich mitmachen. Aber ich bringe auch die scharfe Kritik am Staat Israel aus meiner Arbeit hier vor Ort mit: an seiner Besatzung Palästinas. Wie soll das, die Solidarität mit den Juden und die Kritik am Staat zusammen gehen in einem Gottesdienst? Warum muss ich hier ständig begründen, dass ich zweimal parteilich bin, sowohl auf der Seite der Juden, die nach ihrer langen Geschichte von Ausgrenzung hier die Chance suchen, ihr eigenes, ein sicheres Land zu finden; als auch auf Seiten der Palästinenser, die tägliche Diskriminierung, Unterdrückung und Demütigung erleiden. Wer bin ich, dass ich mich nicht einfach auf die eine oder die andere Seite stellen kann?

Skizze
Neben mir liegt eine Skizze, mit Kugelschreiber gezeichnet, mit einem Porträt von mir. Die Skizze ist gestern entstanden. Und die Geschichte dazu muss ich erzählen. Gestern war das vorletzte Konzert in einer Reihe, die hier in den letzten Tagen unter dem Titel „Sounding Jerusalem“ veranstaltet worden war. Gestern fand das Konzert im Kloster der Franziskaner statt, beim Neuen Tor, dort wo wir die gute Falaffel gegessen haben. Es war wunderbare Musik, ein Quartett von Mozart, ein Trio von Carl Maria von Weber und das Trio für Violine, Cello und Klavier in Es-Moll von Schostakowitsch.

Gespräch mit Israelis
Nach der Pause war ich mit den beiden Nachbarn, einem älteren Ehepaar, ins Gespräch gekommen. Sie hatten gefragt, wer ich sei, was ich hier mache. Ich habe, während ich die erste Antwort gab, die Skizze auf der Rückseite des Programms gesehen, das der Nachbar in der Hand hielt und höflich gefragt, wen er da gezeichnet habe. Na Sie!, war die Antwort. Ich habe um die Skizze gebeten und sie auch erhalten. Leider war das Gespräch sehr schnell an dem Punkt, wo wir uns nicht klar verständigen konnten, sie, die Israelis aus Tel Aviv – "what occupation?" – und ich, Besucher mit der Aufgabe kritischer Begleitung der Opfer der Besatzung. Das Wort „Frieden“ hat auf beiden Seiten einen schlechten Klang, für Israelis heißt es meist Verzicht auf Sicherheitsmaßnahmen und für Palästinenser Unterwerfung unter die Teilung und Besatzung ihres Landes. Das lässt sich nicht vermitteln.

Schostakowitsch, Trio für Violine, Cello und Klavier
Es war schon nach der Pause und wir mussten das Gespräch unterbrechen. Dann spielten die Musiker das Trio Nr. 2 für Violine, Cello und Klavier. Ein wunderbares Stück, in dem Schostakowitsch den Sieg über die Nazis, aber auch das Leiden der Menschen aufnimmt. Er tut das mit einer jiddischen Melodie im dritten Satz und das ist, wie gesagt, tief bewegend. Wenn Du mir diese Musik besorgen könntest, Nini, bis ich nach Hause komme, würdest Du mich glücklich machen. Es gibt selten so sensible und schmerzhafte Musik. Sie hat mich an Smetana erinnert, an das Quartett, in dem er die Violine seinen Ohrton aufnehmen lässt. Schostakowitsch hat diese Musik 1944 komponiert, für seine Freunde gut erkennbar als Kritik am Stalinismus; aber er hat ironischerweise dafür den Stalinorden umgehängt gekriegt. Die Musik ist also so etwas wie eine Darstellung des Leidens an den Ohren derer vorbei, die für das Leiden mit verantwortlich sind. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass unsere schmerzlich disharmonische Debatte, was Frieden in diesem Land bedeutet, zwischen uns hing, während die Musik von Schostakowitsch den Raum füllen wollte.

Fortsetzung des Gesprächs mit Israelis
Na, und das erste, was die Nachbarin tat, als der Beifall für die Musiker abgeklungen war: Sie wandte sich mir zu und fragte, ob irgendjemand von uns und irgendjemand in der Welt nach dem entführten israelischen „jungen Mann“ fragt – sie sagte nicht „Soldaten“ – , er heißt Gilad Schalit. Aber selbstverständlich, versuchte ich zu sagen... Jedenfalls war sie, auf eine schmerzlich dichte Weise im Sinne von Schostakowitschs Musik, am Thema geblieben, das uns dann aber mehr auseinander trieb, als verband. Wir verabschiedeten uns herzlich und höflich, ich mit der Skizze in der Hand und mit dem Gefühl, dass ich ihnen etwas schulde und nicht wusste, was. Ich vergaß sogar, ihnen „Schabat Schalom!“ zu wünschen, und es war doch Freitag Abend.

Portrait
Erst draußen vor dem Kloster, am Neuen Tor, nahm ich das Programmblatt in die Hand und betrachtete aufmerksam die Rückseite. Die Skizze zeigt mich im Profil, aber ich erkenne meinen Bruder Michael, als würde er neben mir sitzen. Nie hätte ich gedacht, dass unsere Ähnlichkeit, ansonsten doch verloren gegangen, im Profil immer noch vorhanden ist. Was mich am meisten bewegt: Hier hat mich ein Fremder, der mich als Hörer schöner Musik beobachtet hat, gezeichnet. Das ist doch ungewöhnlich, noch nie hat mich jemand gezeichnet. Warum hier, im Konzert im Franziskanerkloster in der Jerusalemer Altstadt?

Über der Klagemauer
Ja, und mit dieser Begegnung habe ich den Abend noch nicht abgeschlossen, sondern habe mit Tina die verabredete Tour durch die Altstadt gemacht, um einige Fotos von Orthodoxen Juden auf dem Weg zur Klagemauer zu machen. Du kennst ja den Weg und hast mit mir an derselben Stelle gestanden: über der Klagemauer. Man steht dort im Jüdischen Viertel über einer kleinen Moschee und einem der letzten Wohnhäuser, die dort von den ursprünglicheren Häusern stehen geblieben waren und die auch noch zum muslimischen Viertel gehören. Tina, die mit mir war, zeigte mir die Terrasse, auf der sie vor 2 Wochen gestanden hatte; das war auf einer Pressekonferenz gegen Hausabrisse gewesen. Die Veranstalter, Israelis gegen die Zerstörung von Häusern, hatten an die Geschichte des Marokkanischen Viertels erinnert, das hier bis 1967 gestanden hatte und am letzten Tag des Sechstagekrieges vollkommen zerstört und abgetragen worden ist. An seiner Stelle wurde dann der Platz vor der Klagemauer geebnet. Die Bewohner, zum Teil Nachkommen von Marokkanern, die hier, wie Armenier, Griechen und spanische Juden in anderen Vierteln gewohnt hatten, mussten in Flüchtlingslager ausweichen. Während der Pressekonferenz hatten Kinder der jüdischen Siedler, die hier in das muslimische Viertel vordringen, Klumpen von nassem Toilettenpapier auf die Presseleute geworfen. Solche Ereignisse sind wie eine Erinnerung daran, dass hier unterschwellig ein Krieg weiter geführt wird. Bei den Orthodoxen Juden heißt das „Wiederherstellung Jerusalems“.

Ende des Tages
Tina und ich waren in dem Augenblick mehr daran interessiert, die Atmosphäre dort unter uns, die nächtliche Szene vor der Klagemauer in Fotos einzufangen, Beten und Tanzen. Und dann sind wir nach Hause auf den Ölberg gegangen, wie so oft buchstäblich mit dem letzten Bus, und haben das Essen, das ich schon vorbereitet hatte, als echtes Nachtmahl gegessen.

So hat mein Abend ausgesehen und vielleicht verstehst Du, warum ich vorhin am Telefon so empfindlich bei der Frage war, warum dieses Jahr noch weniger als letztes Jahr auf meine Berichte reagieren, geschweige denn inhaltlich auf sie eingehen. Das versetzt mich noch mehr in den Abstand, in den diese verrückte heillose Heilige Stadt einen zur scheinbar heilen Welt in Europa stellt. Wer bin ich
Dann habe ich geschlafen und hatte heute früh den Eindruck, als hätte ich die ganze Nacht nur geträumt, von Israelis, denen ich Antworten schulde und von Leuten, die in unser Programm eingeführte werden wollen und von Wegen, die ich suche und verliere und weiter suche. Es war wie eine Tour durch eine Stadtlandschaft mit der Frage „wer bin ich“. Einmal war ich sogar mit Roller Skates unterwegs, brach das aber ab, um mein Fahrrad zu holen, denn die Strecke ging bergauf und ich fand, da war ich mit den Roller Skates zu langsam und bergab, fand ich, sollte ich mich bei der wichtigen Mission, die ich hatte, als Anfänger nicht wagen. Ich hätte ja nicht mal gewusst, wie ich bremsen kann… Warum Roller Skates im Traum, wo ich noch nie so was an meinen Füßen hatte? Wir hatten auf dem Heimweg zwischen Klagemauer und Damaskustor in der engen, schon verlassenen und noch nicht aufgeräumten und gereinigten Gasse einen Jungen gesehen, der uns leichtfüßig auf Roller Skates entgegenkam und hinter uns wie ein Geist verschwand, so schnell war er. Und dann tauchte er erst in meinem Traum wieder auf.

Und ein neuer Tag: Demonstration für Beduinen
Okay, das war die Nacht. Und jetzt fange ich den Tag an. Tlago und Dudu haben einen freien Tag. Mit Tina fahre ich nach Susya, dort ist eine Demonstrations-Tour angesagt, von drei Israelischen Organisationen veranstaltet. Wir wollen dabei unsere Solidarität mit den Beduinen von Susya, südlich von Hebron zeigen. Die Beduinenfamilien sollen ihre Zelte auf ihrem eigenen Land, die den israelischen Behörden gemäß nicht genehmigt sind, abbrechen, während ganz in der Nähe die jüdischen Siedler auf Land, das ihnen nicht gehört, wohnen bleiben dürfen. Das ist nach internationalem und israelischem Recht illegal. Den Beduinen hilft das aber gar nichts. Die Armee, die dort vor Ort das Sagen hat, beschützt die Siedler, nicht die Beduinen. Wir waren vor einigen Wochen im Supreme Court dabei gewesen, als das vorläufige Urteil mehr gegen, als für die Beduinen gesprochen worden war. Und darum wollen wir auch heute dabei sein, wenn unsere israelischen Partner diese Tour machen. Für mich ist diese Tour schon ein Teil dieser letzten Wochen bzw. Tage, in denen wir noch einmal aufnehmen, was wir gesehen und getan hatten und dabei auch die Entwicklung wahrnehmen, die wir begleitet haben. Sicher ist, heute wird es heiß und die Landschaft dort ist schon auf halbem Weg in die Negev-Wüste. Ich erzähle Euch deshalb davon, weil Tobias bei den Beduinen war und von ihrer Kultur so begeistert erzählt hat. Es wäre wirklich schön, wenn die beiden an einem solchen Tag mit mir wären, so wie sie bei der letzten Demonstration in Tel Aviv dabei waren.

Grüße
Jetzt wünsche ich Euch einen schönen Tag, auch bei Euch wird schon die Abschiedsstimmung mitschwingen, wir ich annehme. Tobias und Yaara werden die letzten Tage genießen, bevor sie wieder nach Hause fliegen, nach Tel Aviv. Hier wartet Pnina schon auf sie. Und ich will sie ja auch gleich besuchen.
Sicher erlebt Ihr in Blankenfelde und Berlin die gemeinsamen Tage ähnlich intensiv, wie ich hier meine Tage in Jerusalem. Lasst es Euch gut gehen und genießt die Zeit miteinander, ich wäre gern bei Euch oder hätte Euch gerne hier. Und das ist jetzt jedenfalls kein Brief für Paula, sondern für Euch drei Große, auch wenn ich fürchte, dass Tobias und Yaara bei meinen Beschreibungen des Gesprächs im Konzert, dem Besuch im ehemaligen Maghrebinischen Viertel und der Demonstration in Susya anders empfinden, als ich und vielleicht schon bei meiner Wortwahl stöhnen. Vielleicht ist es diesmal ein Brief in Moll, und ein anderer in Dur muss folgen.
Alles Gute,
Dein Gottfried

Tuesday, July 03, 2007

Jerusalem, Al Quds, Die Heilige Stadt


Lieber Jürgen!
Schon lange will ich Dir diesen Brief schreiben. Aber die brennende Situation hier ließ ein ruhiges und gelassenes Nachdenken, wie ich dafür brauchte, nicht zu.
Es geht mir darum, eine Brücke zu suchen zwischen den Erfahrungen mit der Spiritualität der Stille und dem Trieb, mit Aktion und Engagement sich die Liebe Gottes verdienen zu wollen. Vom ersten verstehst Du mehr, vom zweiten weiß ich was. Das sage ich natürlich selbstironisch, wissend, dass Du das nicht gelten ließest. Wenn wir hier beide zusammen wären, wäre das einfacher zu diskutieren. Wir könnten zwischendrin auch lachen.
Ich will also heute von meiner Abscheu gegen den Titel, den diese Stadt Jerusalem trägt, abweichen, so als wärest Du neben mir und ich hätte Dir meine Bilder gezeigt und würde mir Deine zeigen lassen. Du wirst kaum in den nächsten Tagen her kommen können. Also nehme ich Dich jetzt mit, in Gedanken. Und ich bitte Dich, dafür meinen letzten Bericht über die Freitagsgebete in dieser Heiligen Stadt zu lesen. Da ist er, der Titel Jerusalems, der mich so stört: Heilige Stadt.

Das Kamel
Du erinnerst Dich an meine erste Geschichte über das Kamel? Ich hatte seinen Auftritt hier oben auf unserer Straßenkreuzung beschrieben. Dabei hatte ich mich über das Kamel lustig gemacht. Immerhin erscheint es doch anachronistisch, wenn ein Kamel in seiner ernsthaften und übertrieben würdevollen Haltung bei Rot über die Kreuzung schreitet. Und dann hatte ich noch den Vergleich mit all den geistlichen Würdenträgern angestellt, die hier auch wie eine ferne Erinnerung aus dem Mittelalter, noch früher: aus der byzantinischen Zeit!, durch die Straßen und Gassen wehen. Anachronistisch eben, wie mir schien. Aber jetzt bin ich beim Kamel zuhause gewesen und muss mich fast entschuldigen. Denn das Kamel ist ein sehr sympathisches Tier, wenn man sich erstmal auf seine Natur einlässt. Es sind die Touristen, die die Nachfrage nach exotischen Fotos auf dem Rücken des Kamels schaffen. Das Kamel möchte vielleicht ernst genommen werden und es hätte uns was zu sagen, wenn wir nur zuhören würden. Aber lassen wir endlich das Kamel in Ruhe. Du kannst die Geschichte ja nachlesen.

Ich war in einigen dieser uns Protestanten so fremden Kirchen. Ich hätte nie gedacht, dass es mir so gut tun würde, dort die Enge und die Geschwätzigkeit meiner Welt für einige kostbare Augenblicke zu verlassen.

Bei den Armeniern
Ich war zum Beispiel bei den Armeniern. Ihre große Kirche wird für die Nachmittagsvesper geöffnet. Ich war einige Minuten früher da und dachte, das wird nichts, da ist ja niemand. Ich habe mich auf eines der kleinen Bänkchen vor der Säule gesetzt. Es gab da eine unscheinbare kleine Empore, auf der saß ein Mann. Er blätterte in einem großen Buch, ohne uns da unten zu beachten. Unvermittelt begann er zu singen. Daraufhin füllte sich der Chorraum mit Mönchen und Seminaristen. Die verteilten sich auf zwei Gruppen und respondierten dem Liturgen am Altar und dem Lektor am Lesepult. Manchmal waren es zwei unterschiedliche Antworten, die den Gebetsrufen des jeweiligen Liturgen folgten. Ich konnte der Liturgie nicht einmal in Grundzügen folgen, sondern nur raten, welche Teile der Bibel gelesen wurden, welche Gebete gesungen wurden. Die Sprache war Armenisch und die Liturgie offensichtlich sehr alt, mit Gesängen in Kirchentonarten, aber auch mit einigen neueren Melodien. Ich brauchte es auch gar nicht zu wissen, es reichte, mich darauf verlassen, dass hier eine alte und erprobte Feier durchgeführt wurde. Es war, wie wenn in diesem alten dunklen Gemäuer mit den unendlich vielen Öllampen unsichtbare Fenster geöffnet würden; als ob der Blick frei gegeben würde auf etwas, was man sonst nicht sieht. Es war, ganz einfach gesagt, ein schöner Gesang nach einer fremden Ordnung. Ich konnte mich dem hingeben. Eine halbe Stunde – dann war das vorbei. Die Seminaristen, die Mönche, der Priester verschwanden.
Ein Mann, der offensichtlich seine klerikale Kleidung abgelegt hatte, trat zu uns und führte uns durch die Kirche, erzählte von den Armeniern, die sehr früh schon nach Jerusalem gekommen waren; auch von Zeiten unter der Türkenherrschaft, wo es ihnen nicht gut ging, wo sie zum Beispiel keine Glocken läuten durften. Sie schlagen noch heute an eine große Holzplatte, die im Kirchenhof hängt, um zum Gottesdienst zu rufen. Auch die Führung durch die Kirche dauerte nicht lange. Und ich konnte gehen – ruhiger, als ich gekommen war.
Heute habe ich einen Anlass, von den Armenischen Christen zu erzählen: Heute ist es genau 1706 Jahre her, dass die ganze, damals große und angesehene Armenische Nation zum Christentum übergetreten war.

Die große Stille
Dann war da der Deutsche Ökumenische Kirchentag von Jerusalem. Mit dem Motto des Kirchentages in Köln hieß es auch hier: Lebendig, Kräftig und Schärfer. Ich will nur von dem Abend erzählen, an dem wir in der Deutschen Erlöserkirche den Film über die Karthäusermönche gesehen haben. Es ging um das Wort von der Ruhe, die dem Volk Gottes noch zugesagt ist. Der Hinweis auf die Ruhe geht dem anderen Hinweis auf die Lebendigkeit, Kraft und Schärfe des Wortes Gottes voraus. Der Film hat den Titel: „Die große Stille“. Bestimmt kennst Du ihn. Er zeigt das Leben der Mönche, die schweigen. Die Jahreszeiten kommen und gehen, man hört den Schnee fallen, Hähne krähen, Dielen knarren, man hört sogar die Knochen der alten Mönche, wenn sie sich nach langen Minuten aus der knienden Haltung aufrichten. Man hört die Glocken, die zum Gebet rufen und die Blätter der Bücher, in denen sie lesen, diese strengen Mönche. Aber die Mönche schweigen. Der Film ist sehr einfühlsam und gleichzeitig mit großem Humor gemacht. Oft muss man lachen. Auch das leise Lachen der Zuschauer hört man dann, und das Knarren der Stühle im Vorführraum, also der Kirche und ab und zu Geräusche der Stadt. Ansonsten sieht man aber das schweigsame Leben und Beten der Mönche. Und man sieht auch hinter der großen Leinwand, die aus vier Bettlaken zusammengenäht quer vor dem Altarraum gespannt hängt, man sieht dahinter den realen Altar, wenn das Licht gerade auf ihn fällt, auf den Blumenstrauß und die weißen Kerzen und das Kreuz. Oder man sieht die Säulen, die hier Chor und Kirchenschiff verbinden. Man sieht immer nur Teile dieses schönen ruhigen Baues. Und auf einmal erscheint dieser Bau wunderschön und gesammelt und würdevoll. Der Film hat keine Handlung, er dauert zwei und eine halbe Stunde und doch war ich keine Minute lang müde. Ich kann sagen: Ich war bei den Karthäusermönchen. Zwei und eine halbe Stunde Stille in einer Kirche, die sonst nur still ist, wenn keine Menschen darin sind. Die wohltuende Stille, die dem Sturm und dem Beben und dem Kriegslärm draußen in und vor der Stadt folgt.

Der Gesang der Benediktiner
In der Erlöserkirche saß abends auch der Abt der Benediktinerabtei. Auch er sah sich diesen Film über die Karthäuser in dem Kloster in den französischen Alpen an. Die Benediktiner halten ihrerseits in Jerusalem den Ort, an dem Jesus, der Überlieferung nach natürlich, mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl gehalten hat.
Am nächsten Morgen – es war so früh, dass ich den fast einstündigen Weg zu Fuß laufen musste – war ich dort zur Morgenmesse. Danach waren wir zum Frühstück eingeladen. Es gab Hefekranz, den ein österreichischer Franziskaner, ebenfalls zu Besuch, mitgebracht hatte. Und nun kann ich sagen: Ich war auch bei diesen streng gewandeten heiligen Männern, den Benediktinern, zuhause. Sofort war ich mit ihnen mitten in der Messe, die ich diesmal verstand, weil sie ja auf Deutsch gesungen wurde und sich wenig von unserem eigenen Abendmahlsgottesdienst unterscheidet. Und da es einen Zettel mit Ablauf und Texten gab, konnte ich auch mitsingen. Wie viel habe ich hier und da in meinem Leben schon von Benediktinern gehört, ihre Kirchen besichtigt, auf ihren Wiesen gezeltet. Aber hier konnte ich mich auf die Spiritualität ihrer Feier einlassen.
An der Stelle muss ich wieder sagen, dass ich doch die ganze Woche, die vor dieser Morgenvesper lag, in verschiedenen Veranstaltungen mit Palästinensern oder kritischen Israelis verbracht, dass ich fünf Tage lang intensiv der 40-jährigen Besatzung Palästinas gedacht hatte, dass ich im Flüchtlingslager, an den Kontrollpunkten, im Gerichtssaal und in den Bussen war, die mitten in Jerusalem angehalten und einer rüden Ausweiskontrolle unterzogen werden. Es war eine ganz und gar politische Woche gewesen. Aber hier saß ich in einer Feier, die darauf mit keinem Wort einging. Es sei denn, man nimmt die alten Psalmen und Bibelworte ernst und vertraut darauf, dass sie auch in dieser Situation aktuell sind, ohne dass jemand das auslegen und den Zusammenhang klug nachweisen muss. Die Benediktiner sind stolz auf ihre alte Tradition, sie nehmen diese Feier mit großer Gelassenheit wahr, sie singen schön, sie bewegen sich würdevoll.
Beim Friedensgruß und beim Abendmahl gibt der Abt den Gruß und die Sakramente an zwei der Mönche weiter, die sie ihrerseits den nächsten geben, einer nach links und einer nach rechts, bis jeder ihn empfangen und weitergegeben hat. So wird vielleicht die Idee dargestellt, dass Gott sich den Menschen vermittelt, von Mensch zu Mensch, aber auch von Generation zu Generation. Aber die Bewegungen sind gelöst und getragen, Hast und Ängstlichkeit oder andere Anstrengung bleibt außen vor. Es war schön und wieder hatte ich hinterher das Gefühl, dass ich einen Ausflug in eine Sphäre getan hatte, in der Hoffnung und Sehnsucht nach Gerechtigkeit und nach Heil, die in dieser geteilten Stadt so offensichtlich nicht wachsen können, eine Nische des Überlebens finden.
Tja – es war wohltuend, warum will ich mich da rechtfertigen.

Mehr Begegnungen will ich nicht erzählen. Sonst leidet auch dieser Bericht an der Geschwätzigkeit und an dem Hang, Empfindungen rational filtern zu wollen, wo sie doch auch ohne das ihre Aufgabe erfüllen. Ich war der letzte in der Runde in der Benediktinerabtei, also gebe ich den Friedensgruß aus der Benediktinerabtei jetzt an Dich weiter.

Unheilige Heilige Stadt
Lieber Jürgen, eigentlich wollte ich über die Spannung schreiben, in der ich diese Stadt erlebe. Sie muss ständig ihren alten und überlasteten Titel als heilige Stadt rechtfertigen und ist doch so geprägt vom Unheil seiner Bewohner. Sie könnte ohne diesen Titel viel leichter leben. Auch die Zukunft dieser Stadt im Konfliktfeld der israelisch-palästinensischen Frage wäre leichter zu finden ohne den Anspruch, den derzeit jede Religion – gegen die anderen Religionen – erhebt, dass nämlich Jerusalem ihr und ihr allein gehören muss. Für die ganze Stadt gilt, was in Bethlehem an der Mauer, die das Palästinensergebiet dort gegen Israel abgrenzt, geschrieben steht: Gott ist zu groß für nur eine Religion.
Über die Spannung schreibe ich nun also nicht. Ich bin zu klein dafür. Aber ich finde mich besser darin zurecht, wenn ich von Zeit zu Zeit die heiligen Männer da besuche, wo sie zuhause sind. Ich will diese Besuche immer noch mit Dir gemeinsam machen. Sie sind wie ein Ausflug in ein anderes Land. Unter anderem habe ich bei diesen Besuchen gelernt: Gott will uns verführen und wir wollen uns verführen lassen. Dieser Brief soll Dich verführen, einen Plan für eine Reise nach Jerusalem zu machen, wo das Kamel Touristen verführt, wo es auch zuhause ist.

Das schreibt Dir Dein Freund aus Jerusalem, Gottfried
Jerusalem, 17.06.2007

Sunday, July 01, 2007

Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes

Kein ruhiger Morgen

Die Morgen sind kühl in den Gärten Getsemanes. Die Sonne kommt spät über den Ölberg, da liegt die Altstadt, eng zwischen ihre Mauern gezwängt, schon lange im hellen Licht. Die Kuppel des Felsendoms spiegelt die Morgensonne, bevor sie ihre Hitze über die Hänge hier legen kann. Zwischen den Gärten und Hainen, die die Menschen hier im Respekt vor ihrer Bedeutung für die Christen „Getsemane“ nennen, und den höher gelegenen Klöstern und Kirchen des Ölbergs drängen sich einige wenige Häuser. Sie sind meist hunderte Jahre alt, zum Teil sind sie erneuert, mit Anbauten oder Obergeschossen erweitert. Seitdem Israel diesen Teil Jerusalems annektiert hat, sind alle diese Baumaßnahmen illegal. Diese Stadtplanung ist neu. Die Familien dagegen leben hier seit Jahrhunderten… Aber bleiben wir bei diesem Morgen.
Es ist der 19. Juni. Said und Amira Mu’aket sitzen auf ihrer Terrasse. Sie trinken ein Glas Tee. Die Tauben gurren, Kolibris schwirren durch die Baumkronen, Zikaden stimmen den Sommertag ein. Und dann setzt dieser kurze Augenblick der unnatürlichen Stille ein, in dem Vögel und Zikaden und sogar der Wind in den Baumkronen schweigen. In die Stille hinein hört man das das Brummen von schweren Motoren, es weht den Hang herüber.
Wenige Minuten später ist die Vorhut der Militärjeeps überall, ist das Haus, das Grundstück, der Hang von 250 Soldaten umstellt und dröhnen die schweren Abrissbagger den Feldweg zum Haus herauf.
Said Mu’aket hat drei Söhne. Für alle hat er ein Haus gebaut. Die drei bescheidenen Häuser stehen im Rohbau aneinander gereiht etwas abseits vom Wohnhaus, in dem bis jetzt die große Familie zusammengedrängt lebt. Drei Generationen leben hier, es ist ein altes und kleines Haus, viel zu eng für die Familie. Und weil darin für eine weitere Familie kein Platz war, konnte einer der drei Söhne bisher nicht heiraten. Er ist es vor allem, der den Bau betrieben hat. Aber hier sind jetzt die Baufahrzeuge und die Arbeiter, die die drei flachen Reihenhäuser abreißen sollen. Vor allem sind hier die Soldaten, die das Gelände weiträumig abgesperrt haben. Kein Nachbar, kein Rechtsanwalt, kein Pressefotograf kommt bis zum Haus. Telefonleitung, Wasser und Strom werden als erstes gekappt. Über Handy kriegen die Söhne Anweisung von ihrem Rechtsanwalt, nach dem Abrissbefehl zu fragen, weil die Familie keine Vorwarnung erhalten hat. Aber der israelische Offizier verhöhnt die Männer. Der Vater, über siebzig Jahre alt, Professor für Sozialwissenschaften, sagt, das könnt Ihr doch nicht machen, zeigt erst den Befehl vor, ich will die Anweisung sehen. Der Offizier lacht ihn aus, „wenn du sehen willst, was wir machen, stell dich ans Fenster und schau zu! Dann kannst du sehen, was wir machen können“. Und da steht dann wirklich die Familie hinter dem Fenster, von Soldaten bewacht und sieht zu, wie ihre Häuser zertrümmert und Hof und Garten verwüstet werden.
Die Familie ist ins Haus gedrängt. Die Abrissarbeiten beginnen ohne Verzug. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Die ganze Geschichte erfahre ich erst, als ich mittags komme und das Unglück der Familie mit meinen Augen sehe, und nach einer Woche wieder und ein drittes Mal komme.

Eine jüdische Siedlung im Palästinenserland

An diesem Morgen, dem 19. Juni, sitze ich im Bus. Wir fahren über Land, auf schönen Straßen, die für Palästinenser nicht zugelassen sind. Wir fahren zu einer Siedlung. Juden haben hier mitten im Palästinenserland eine schöne Wohnsiedlung gebaut. Wir fahren nach Teko’a, um mit diesen fanatischen Siedlern zu sprechen. Das gehört zum Programm: Direkt und ungefiltert sollen wir aus dem Mund dieser Leute erfahren, warum sie nach Israel gekommen sind, warum sie nicht zufrieden waren, in Israel zu leben, warum sie hier einen weiteren Vorposten besetzt haben, der das Palästinenserland zerstückeln wird; warum sie ganz Palästina zu jüdischem Land machen wollen. „Judaisierung Palästinas“ heißt das Programm, und die Westbank heißt nicht Westbank oder Besetztes Territorium oder einfach Palästina, sondern „Judäa und Samaria“, wie zuletzt vor zweitausend Jahren. Wir wissen, es wird nicht leicht sein, diesen Leuten nur zuzuhören und zu akzeptieren, was ihr Gedankengebäude ist und welches ihre Gefühle bei diesem langfristigen Werk des Landraubes sind. Wir sehen schon die roten Dächer, die typisch für die jüdischen Siedlungen im Palästinenserland sind. Da klingeln die Telefone. Zeitgleich greifen Tina, Tlago und ich in die Westentasche, in der die Mobiltelefone stecken. Die schriftliche Nachricht heißt: “House demolition on Mount of Olive, family needs support”. Wir wären jetzt gerne in Jerusalem, aber das Programm für diese ganze Woche hat uns aus unserer Arbeit heraus genommen. Keine Chance.
Wir laufen stattdessen durch eine schöne Siedlung, Bäume, Büsche, Blumen, alles wächst – weil Wasser da ist. Später erklärt uns eine der Frauen stolz, wie sie Geld investiert hätten, um mit einer Tiefenbohrung Wasser aus dem Bergaquifer herauf zu pumpen. Und das ist einer der vielen Vorteile, die die Siedlungen vor den palästinensischen Dörfern der Umgebung haben: Palästinenser dürfen nicht tiefer als 60 Meter gehen, um an Wasser zu gelangen, was hier oben in den Bergen natürlich nicht ausreicht. Israelis dürfen dagegen das Wasser aus einigen hundert Metern Tiefe schöpfen. Wir sehen also diese schöne Siedlung, Gärten um die Häuser, die die Regierung gebaut hat und in der Ferne die palästinensischen Dörfer, arm wie das trockene Bergland ringsum. Und sehen vor unserem inneren Auge Bilder von Hauszerstörungen, wie wir sie bei früheren Gelegenheiten gesehen haben.
Trümmer, wo ein Neubau stand

Mittags sind wir zurück in Jerusalem. Ich fahre auf den Ölberg und suche nach dem Haus. Am Schluss muss ich nach dem Augenschein gehen: Wo liegt Staub auf den Bäumen und wo sind Trümmer zu sehen. Eine alte Frau kämpft sich durch den zerstörten Fußweg, über dem Bauschutt liegt. Ich kann sie nicht ansprechen, ihr nicht die Hand geben, das wäre ungehörig. Offensichtlich ist sie eine Nachbarin der betroffenen Familie. Ich gehe langsamer und warte auf ein Zeichen von ihr, ob sie Hilfe braucht. Sie schüttelt den Kopf und das kann beides bedeuten, ich will keine Hilfe oder: das hier ist unglaublich. Ein schlichtes Gusseisengitter hängt in beschädigten Torpfosten. Was immer hier als Einfriedung gedient hat, ist nicht mehr da. Trümmer in einer Reihe von fast 30 Meter säumen die alte Mauer, hinter der ein Klostergarten liegt. Große Brocken Beton liegen übereinander, eine ganze Wand ist mitten im Fall schräg stehen geblieben, Pfosten und überall die Stahlstreben, bloß und gekrümmt oder anklagend in den Himmel weisend. Vor dem alten Haus im Hintergrund ist ein überwachsenes Dach, einige Bäume, Oliven und niedrige Fichten schaffen eine schattige Terrasse. Dort steht und erwartet mich ein alter Mann, der unglückliche Besitzer des zerstörten Anwesens. Zwei Presseleute machen Aufnahmen. Ein gut gekleideter Mann, offensichtlich Rechtsanwalt, verabschiedet sich gerade. Drei Frauen sitzen unter dem Dach von wildem Wein. Jenseits von ihnen tut sich eine wunderbare Sicht auf die tiefer gelegene Altstadt von Jerusalem auf. Ich spreche mit Herrn Said Mu’aket und erfahre in Umrissen, was vorgegangen ist. Ich will aber nicht lange stören, das Entsetzen liegt noch auf den Gesichtern, der Staub verdeckt die Brillengläser von Herrn Mu’aket. Ich mache einige Fotos und verabschiede mich. Ich soll wieder kommen und die Fotos bringen, bittet Herr Mu’aket.
Hausabrisse in Ostjerusalem

Eine Woche später komme ich wieder, Tina, meine Kollegin und Peter, ein Gast unseres Programms sind bei mir. Herr Mu’aket erkennt mich und bittet uns herein. Wir tragen die Gartenstühle unter das grüne Dach vor das Mäuerchen, unter dem sich der herrliche Blick auf das alte Jerusalem auftut. Wir sehen Teile vom Garten Getsemane und vom Kidrontal. Ich gebe ihm die Fotos, die ich mitgebracht habe, sie sind immerhin unsere Eintrittskarte für diesen Besuch. Und dann hören wir die unglaubliche Geschichte von dem Abriss. Eines ist die Zerstörung des Hauses, der riesige finanzielle Schaden für die Familie. Ein anderes sind die Umstände, die diesen Abriss begleitet haben, die Demütigungen. Und ein drittes ist der Zusammenhang, in dem dieser Abriss steht, der dem „demographischen Faktor“ geschuldet ist, der Tatsache, dass aus Sicht des israelischen Staates „zu viele Araber“ in Ostjerusalem leben. Mit der Umwidmung von Land in Grünflächen, für die Armee und für städtische Verwaltung und Straßenbau vorbehaltene und andere gesperrte Flächen stagniert praktisch jeglicher Neu- und Ausbau von vorhandenen Häusern. Herr Mu’aket erklärt mir die Zusammenhänge. Sein Fazit ist: Sie lassen uns keine Ruhe.
Wir erfahren die Geschichte einer Familie, die in der alten Tradition gelebt hat. Der Vater unseres Gastgebers hatte mehrere Frauen – seine eigene Frau, Amira, etwa 65 Jahre alt, lacht bei dieser Erzählung – und für jede Frau und ihre Kinder ein Haus. Aber Haus um Haus hat er verloren; er hat das noch erlebt, der Familiengründer: 1947 wurde ein Haus in Westjerusalem konfisziert; dort leben jetzt jüdische Familien, die keine Ahnung von der Geschichte der palästinensischen Besitzer haben. Und 1967 hat sich das wiederholt mit zwei Häusern im eroberten und annektierten Ostjerusalem. Ein Haus steht in der Altstadt, im muslimischen Viertel, ist aber enteignet. Israelische Fahnen hängen aus den Fenstern. Und nun dieses Haus hier. Man sammelt Schulden über unserem Haupt, erklärt der Mann, bis wir eines Tages mit einer Summe konfrontiert werden, die den Verkauf dieses Hauses hier erzwingt. Dann sind wir obdachlos.
Er spricht ruhig. Kein Hass klingt aus seinen Worten. Aber die Fassungslosigkeit liegt wie ein Vorhang über seinem Blick, über seiner Rede und über unserem Gespräch. Er beschreibt die gezielten Demütigungen, das Verhalten des Offiziers, eines Menschen, der seine Menschlichkeit abgelegt hat für dieses Geschäft. Er schluckt, er übergeht die Soldaten, von denen werde ich erst im dritten Gespräch mit dem Sohn erfahren. Said und Amira Mu’aket sind vor allem von der Unmenschlichkeit der Israelis – sie sagen „Juden“ – erschüttert. Warum! fragen sie. Warum behandeln sie uns schlechter als Tiere? Warum hassen sie uns? Was macht ihnen denn solche Angst? Und er erzählt, wie sie sie hier früher nebeneinander gelebt haben, Muslime, Christen, Juden, Ausländer. Friedlich, mit gegenseitigem Respekt, es war ein buntes Leben, sagt er und erzählt von seiner Kindheit. Das war die Zeit vor der Teilung und der Staatsgründung Israels. Aber jetzt? Warum müssen sie uns denn vertreiben? Und wohin?
Wir fragen nach den Schulden, die gegen ihn angesammelt werden. Seht ihr, sagt er, so wie sie mir keine Abrissorder geschickt haben, teilen sie mir nicht mit, wie hoch die Steuer auf mein Land ist und wie ich sie bezahlen soll. Eines Tages werden sie mir eine unglaublich hohe Summe nennen… und er erzählt die Geschichte eines Nachbarn. Sie wollen nicht die Steuer, sie wollen das Grundstück, schließt er. Und vorher geben sie keine Ruhe. Was für Schulden er denn schon hat, will ich wissen. Na ja, sagt er, seit letzter Woche sind 82.000 Schekel (ca. 15.000 €) dazu gekommen, das ist die Rechnung für den Hausabriss. Den Hausabriss müssen Sie bezahlen? rufe ich aus. Ja, muss ich, kann ich aber nicht, ist seine schlichte Antwort. Aber sie werden uns keine Ruhe lassen.
Zwischendrin ist ein Anruf von einem der Söhne gekommen. Frau Mu’aket spricht mit ihm. Sie reicht mir das Telefon. Der Sohn, Yussuf, ist beunruhigt. Er weiß nicht, wer wir sind. Er sieht es nicht gern, wenn Fremde, gerade jetzt in dieser Situation, im Haus auftauchen, wenn die Eltern allein sind. Er spricht gut Englisch und ich kann ihm erklären, wer wir sind. Ich biete ihm an, abends wieder zu kommen. Ja, das wäre ihm sehr recht. Also verabreden wir, dass ich abends wiederkomme. Wir verabschieden uns von den beiden Alten.
Die Ruhe Gottes finden
Der Satz von der Ruhe geht mir nicht aus dem Sinn. Immer wieder hat er ihn gesagt, Said Mu’aket, aus der angesehenen Altjerusalemer Familie: „Sie geben uns keine Ruhe“. Das Wort aus dem Hebräerbrief drängt sich mir auf, das vor einigen Wochen mit dem Kirchentagsthema in mein Bewusstsein gespült worden war: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes“. Dort predigt der Bischof einer jüdisch-christlichen Gemeinde, dass sie eine gute Chance auf Vergebung hat, auf einen Neubeginn ihrer Geschichte mit Gott. Und „die Ruhe Gottes“ ist das Bild für ein gutes Ende einer bösen Zeit. So wie Gott am siebenten Tag ruht, weil er das Chaos in eine gute Schöpfung umgewandelt hat, so wird das Volk Gottes seine Ruhe bei Gott finden – wenn es nur seinen Ungehorsam bezwingt. Der Bischof – wie ich mal vereinfachend sage – dringt in die Hörer oder Leser seiner Schrift, dass sie doch vom Ungehorsam zum Gehorsam finden. Er setzt sich dabei mit Psalmen und mit Worten aus den Büchern Mose auseinander. Mich fasziniert in diesem Zusammenhang, das wir heute entscheiden müssen, wer das Volk Gottes ist und wie wir einen Weg zu diesem Verhalten finden, das im Hebräerbrief mit „Gehorsam“ bezeichnet wird. Hier in Jerusalem ist es ganz offensichtlich, dass es keinen Sinn hat, ein Volk Gottes gegen andere Völker zu definieren oder Ungehorsam bei einem der beiden Völker und Unschuld bei dem anderen zu suchen. Erst wenn wir uns als Menschen verstehen, die von Gott gleich geliebt werden und von denen er partnerschaftlich Verantwortung für diese Welt erwartet, kann es zu dem kommen, was wir hier brauchen: gegenseitigen Respekt und Zutrauen in den Nachbarn und Partner. Wäre nicht das der Weg, um Ruhe zu finden für die Völker, die hier in Palästina und Israel leben?
Man kann das alles sehr viel einfacher sagen. Man braucht nicht den Weg über die Bibel zu gehen. Aber immerhin hat Said Mu’aket in dem Gespräch gesagt, was ich von vielen anderen Muslimen auch gehört habe: Haben die denn keinen Respekt vor Gott? Und darum denke ich, mein Nachdenken als Christ, wie wir hier zueinander finden, ist wichtig. Darum frage ich mich, wie wir eine Ruhe finden, in der Gottes Schöpfung als Sieg über das Chaos erkannt wird. Und will wissen, wie auch die Nutzung dieses wilden schönen Landes die Menschen verbindet und nicht gegeneinander aufbringt.


Ruinen und schöne Aussicht

Am Abend bin ich wieder drüben am Hang über dem Garten Getsemane. Tina, Tlago und Peter haben ein anderes Programm. Aber der Sohn, Yussuf Mu’aket hat mich ohnehin als den Repräsentanten der Gruppe ausgemacht. Und ich komme gern. Said und Amira strahlen, als sie mich sehen. Jetzt bist du zum dritten Mal hier, sagt der alte Herr, jetzt steht dir das Haus offen. Yussuf verdreht die Augen in Panik: Das ist genau der Punkt. Er hat Angst, dass jetzt die Geier kommen und Kaufangebote machen. Er drängt mich ab. Wir sitzen ein Stück von dem romantischen Plätzchen mit der Aussicht auf Kidrontal und die Stadt entfernt. Solange ich stehe, kann ich sie sehen, Al Quds, die Heilige. Das letzte Abendlicht wird auf der goldenen Kuppel des Felsendoms gesammelt. Der Himmel im Westen ist hell. Die Skyline des modernen Jerusalem zeichnet sich ab, grau und im Dunst eines heißen staubigen Tages. Über uns zeigt sich der Abendstern. Gleich werden die Muezzin zum Gebet rufen.
Ein Teller mit Scheiben von Wassermelone ist für mich vorbereitet. Ein Hockerchen steht zwischen uns. Später kommt ein Kaffee. Yussuf ist höflich, zu höflich. Er erzählt, was sich an jenem Morgen wirklich zugetragen hat. Und ich hatte ja auf dem Herweg oben auf dem offenen Platz Bekannte getroffen, die wissen wollten, wohin und woher. Und die hatten das Wort von „krankenhausreif geschlagen“ fallen lassen. Yussuf will mir die Einzelheiten erzählen, die sein Vater ausgelassen hat. Aber immer wieder wird er aggressiv, greift mich an, weil wir Europäer die Juden herüber geschickt haben; weil ich hier meine schöne Geschichte zusammensuche, während er mit den Trümmern seines Lebens weiterleben muss; weil ich nachhause fahre zu meiner Familie, während er keine Wohnung hat und keine Familie gründen kann. Ich verstehe seine Frustration und biete an, ob es ihm besser geht, wenn ich mich verabschiede. Aber das ist ihm furchtbar peinlich. Nein, er kann einfach seine Gefühle nicht zügeln. Ich frage seinem älteren Bruder und der Geschichte mit dem Krankenhaus.
Die Soldaten haben die Familie ins Haus getrieben, damit sie die Abrissarbeiter bei ihrem Zerstörungswerk nicht stören. Die Kinder durften nicht in den Laden laufen, um Milch zu kaufen. Die Nachbarin, eine polnische Nonne, haben sie rüde verjagt. Sie haben die Kinder angeschrieen. Die Mutter durfte die Kinder nicht beschützen. Sie haben sie ins Haus gestoßen. Sie ist auf den Steinfußboden aufgeschlagen. Das ist ungeheuerlich, das tut man keiner Frau an. Die Brüder haben sich vor die Mutter gestellt und die Soldaten zur Ordnung gerufen. Da haben sie zugeschlagen. Der Jüngere hatte Glück, er ist mit blauen Striemen über den Rücken gut weggekommen. Der Ältere wurde mit Handfesseln abgeführt, in den Olivenhain unten am Hang geführt und dort zusammen geschlagen, bewusstlos. Die Familie musste einen Krankenwagen rufen. Im Krankenhaus wurde er geröntgt und behandelt. anschließend musste er zum Zahnarzt, aber der konnte den ausgeschlagenen Zahn nicht retten. Die Rechnungen für Krankenwagen, Krankenhaus und Zahnbehandlung liegen schon auf dem Tisch.
Olivenbäume und Taube

Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Haus, sagt Yussuf, gut, das ist ein Ding. Das zerstören sie. Sie haben ein Gesetz und nach dem Gesetz handeln sie. Ein schlimmes Gesetz. Aber einen Baum umzubringen! Was ist mit dem Baum? Komm, ich zeig es dir. Und Yussuf führt mich in den Hof, wo ein alter Ölbaum zertrümmert liegt. Der Führer des Bulldozers, der die Bitte, doch etwas sorgsamer zu Werke zu gehen, nicht gut aufnehmen konnte, griff mit seinem Greifer eine Zwischendecke, hob sie hinüber in den Hof, in dessen Mitte ein wunderschöner uralter Ölbaum stand. Und ließ den großen Beton auf den alten Baum fallen. Der Baum ist bis zur Wurzel zertrümmert. Für Palästinenser ist das ein ungeheuerlicher Frevel. Bäume, Pflanzen, Blumen sind Leben, von Gott geschaffen, Grundlage menschlichen Lebens. Und ein Ölbaum noch mehr: Von ihm leben Familien, Generationen, eine nach der andern ernährt er sie. Wie kann man einen Ölbaum so ohne Not, so frevelhaft, so gottlos umbringen?!
Jetzt ist Yussuf in Fahrt. Siehst du die Tauben dort? Natürlich sehe ich sie, in einer Voliere tänzeln sie, kleine weiße Tauben. Ein Soldat hat aus Langeweile mit Betonbrocken auf die Tauben geworfen. Und? Ist was passiert? Ja, er hat zwei umgebracht. Er hat einfach so die Tauben umgebracht? Ja, er hat vielleicht gehofft, dass wir ihm dabei zusehen. Das ist ja furchtbar. Ich kann mir die Gedanken und Empfindungen eines Soldaten, der Abrissarbeiten absichert und dabei Tauben umbringt, nicht vorstellen. Das ist noch nicht alles, fährt Yussuf fort und schreit jetzt: Ein Soldat hat sich hier vor unserem Fenster, wo die Kinder standen, hingestellt und hat in diesen Blumentopf hier gepisst.
Ich stelle keine Fragen mehr. Und ich vermeide auch die Situation, in der Yussuf laut wird, obwohl ich auch glaube, es tut ihm gut, das herauszuschreien. Er stellt sich vor den Blumentopf und hält die Hand vor den Hosenschlitz, streckt den Unterleib vor und macht das Geräusch. Dann bricht er ab und dreht sich weg. Ich setze mich auf den Stuhl. Er kommt schweigend dazu.
Der Garten Getsemane - ein Ort der Ruhe?

Die Familie, die zu Besuch gekommen ist, sitzt und redet leise. Manchmal höre ich sogar Lachen. Über sie hinweg kann ich jetzt das hell erleuchtete Jerusalem sehen, die Altstadt, dahinter die Höhen von Westjerusalem und auch einige der Hänge, die zu Ostjerusalem gehören. Es ist wunderschön: die Familie, die im Kreis zusammensitzt, selbst jetzt noch im Schatten vor dem Mond, der hell hinter uns aufgegangen ist; die Terrasse mit diesem faszinierend schönen Blick hinunter auf diese Stadt. Al Quds, die Heilige, mit ihrem neuen Namen, mit ihrem alten Namen Jeruschalajim. Es ist ein schönes Anwesen, eines von dem man sagt: Das schönste, das ich kenne. Wenn ich in Jerusalem leben müsste, hier über dem Garten Getsemane, mit diesem Blick, wäre es am schönsten.
Ich verabschiede mich. Die Mutter schaut prüfend auf mich und auf ihren Sohn, sie kennt ihn. Ich bedanke mich. Said, der Vater, bedankt sich. Ich gehe, aber ich schaue nicht nach links, wo die Trümmer im Mondlicht leuchten. Ich gehe behutsam über den zerstörten Fußweg, durch die Gittertür zwischen verlorenen Torpfosten, die keine Umfriedung mehr bewachen. Hinter mir, das leise Gespräch zwischen Besuchern und Besuchten setzt sich fort. Ich halte meinen Blick nach rechts, wo der eigentliche Garten Getsemane liegt. Davor ist das Haus von Muhamed. Er pflegt den Garten. Und er erzählt auf Deutsch die Geschichte von Jesus: „Als er hier hoch gelaufen war, siehst du, wo mein Finger zeigt, und an meinem Haus angekommen war, hat er beschlossen, er wollte Ruhe halten, in dem Garten…“

Monday, June 25, 2007

Ökumene konkret: Mitarbeiter des ÖRK in Jerusalem

Wir sitzen bei den Schwestern der Orthodoxen Schule in El Azariya, dem biblischen Bethanien. Hier, wo Maria, Martha und Lazarus lebten, betreibt die Russisch Orthodoxe Kirche eine Schule für Mädchen aus christlichen Familien. Schwester Martha, die sich mit Schwester Maria die Leitung von Schule und Mädchenpension teilt, lässt sich und der Mutter Oberin die Mitglieder des Teams vorstellen. Douglas, kurz Doug, Kanadier schottischer Abstammung, kommt aus der presbyterianischen Tradition. Tina ist Schwedin und natürlich lutherisch. Matlagomeng, kurz Tlago, ist Tswana aus Südafrika und kommt aus einer Freikirche in methodistischer Tradition. Gottfried aus Berlin hat Mühe, die Unierte Konfession darzustellen. In dem Gespräch werden immer wieder Erfahrungen der sechs Leute, die hier auf der Terrasse im Schatten des Feigenbaumes sitzen, eingebracht, man versteht einander besser, weil die Situation in Palästina mit den Lebenserfahrungen aus den jeweils unterschiedlichen Regionen der Welt und der Ökumene abgeglichen und gegenseitig verständlich gemacht werden. Tina war vorher in Albanien und in der Ukraine und hat Aufbauarbeit in Perioden der Neufindung von Nationen kennen gelernt. Tlago bringt die Erfahrungen von Südafrikanern ein, die als Christen in der Unterdrückung mit einem Unterdrückungsregime zu tun hatten, das sich seinerseits als christlich verstand. Gottfried braucht nichts aus Deutschland zu erzählen, weil Schwester Martha Deutsche ist. Er bringt darum die Situation der lutherischen Gossnerkirche in Indien ein, einer Minderheit von Ureinwohnern, die sich gegen den wachsenden Hindu-Fundamentalismus wehren muss. Doug erwähnt, wie die Kanadischen Kirchen in Bedrängnis sind, weil die Forderungen der Indianer auf Land, das jetzt noch im Kirchenbesitz ist, sie verarmen ließe, wenn sie durchgesetzt würden. Schwester Martha erzählt von den Schwierigkeiten, die die orthodoxen und überhaupt alle christlichen Familien hier in Bethanien haben. Sie sind eine Minderheit und fühlen sich doppelt bedroht, aber sie werden jetzt im Zuge des Mauerbaues von Jerusalem abgetrennt. Und das bedeutet nicht nur eine Abtrennung vom benachbarten Konvent der Russisch Orthodoxen Schwestern, sondern auch das Ausbleiben von Touristen und Pilgern, die über den Garten Gethsemane und den Ölberg nach Bethanien zum Grab des Lazarus gekommen waren. Vor allem aber bedeutet es die Trennung der Familien, die diesseits und jenseits der Mauer leben, mit der Israel seinen annektierten Teil von Jerusalem hier absichert gegen das besetzte Palästinensergebiet.

Die Runde auf der Terrasse der Orthodoxen Schwestern beschreibt einen besonderen Aspekt unserer Arbeit: Wir treten als ein Ökumenisches Team auf, nicht nur mit dem Mandat des Weltkirchenrates in Genf, sondern mit den unterschiedlichen Erfahrungen und mit der weit gefächerten Spiritualität unserer Heimatkirchen, die wir hier einbringen.

Wir haben Pfarrerinnen und Pfarrer unter uns, engagierte Laien, Leute, die eine aufgeklärte und säkularisierte moderne Gesellschaft vertreten und andere, die wieder auf der Suche nach mehr Spiritualität sind. Wir haben auch Leute aus hinduistischer Tradition unter uns und solche, die sich über aller Religiosität sehen und für die das, was sie hier in der „Heiligen Stadt“ beobachten, ein Anachronismus ist. Alle sind jedoch an der Überlebensfrage Israels und Palästinas engagiert, aber auch an der Frage, wie groß der Anteil der Religionen am Konflikt oder an der Lösung des Konfliktes ist. Wenn wir als große Gruppe von 20 Freiwilligen aus 7 Ländern zusammen sind, stehen immer Gruppen zusammen, die sich gegenseitig dazu befragen oder diskutieren: Wie ist das mit politischen Aussagen in deiner Kirche? Warum brauchen einige Kirchen das Zölibat? Wie sieht das Friedensengagement in deiner Kirche aus? Und die Deutschen werden dann immer gefragt: Warum stehen eure Kirchen in der öffentlichen Diskussion so einseitig auf Seiten Israels? Manchmal werden wir heftig und reden laut, manchmal lachen wir. Aber immer gehen wir bereichert aus der Diskussion, weil wir gelernt haben, dass wir mit den Traditionen der Anderen auch andere und neue politische und spirituelle Erfahrungen kennen und schätzen lernen.

Die Runde auf der Terrasse der Schwestern von Bethanien wiederholt sich an anderen Orten. Und ich bin ganz sicher, dass ich mich auch selber besser verstehen werde, wenn meine Gruppe zum Beispiel vor einer Synagoge steht und von einem Juden gefragt wird: Was ist das – „Ökumene“? Das ist Bartek aus Krakau, sage ich dann. Sein Großvater war evangelisch, in der Kirche Augsburgischen Bekenntnisses; sein Vater ist Katholik und Bartek sucht hier in dem Friedensprogramm eine engagierte Kirche, die seinem modernen Weltbild entspricht. Oder Paul aus England sagt: Das ist Gottfried aus Berlin, sein Missionswerk unterstützt die Palästinensische Lutherische Kirche hier im Land; aus seiner Kirche kommen auch junge Freiwillige für ein Jahr nach Israel, die zum Beispiel z.B. Holocaust-Überlebende in Altersheimen pflegen. Aber seine Kirche kommt aus dem deutschen Dilemma nicht heraus, in jedem Fall lieber politisch korrekt zu reden, als zum Skandal der andauernden Besatzung. Und Pandora aus Südafrika lacht und sagt: Das ist Paul mit dem Namen eines Bengalen, sein Vater ist als Hindu nach England gekommen und seine Kinder könnten Juden werden, wenn er hier die richtige Frau trifft. Und dann lachen doch alle mit Pandora, oder? Das ist Ökumene in Jerusalem.


Gottfried Kraatz, Freiwilliger
und Valentina Maggiulli, Koordinatorin
bei den Frauen in Schwarz
Freitag, 8. Juni 2007
anlässlich der Woche des
Gedenkens an 40 Jahre
Okkupation Palästinas

Sunday, June 17, 2007

Es ist EIN Gott

Sonntag, 17. Juni 2007, ich höre den Wind in der Kiefer vor meinem Fenster, das Hupen eines Autos und Vögel singen. Um ruhig zu werden, muss ich die Lautsprecherrufe von den Moscheen, die am frühen Morgen, gegen vier Uhr zum Gebet rufen und die Glocken der Kirchen hier oben auf dem Ölberg und die Rufe der Nachbarn im Gästehaus, die an meinem Fenster vorbei in ihren Tag gegangen sind, aus meinem Speicher löschen. Die Nachrichten, die von Nachrichtenagenturen, Fernsehsendern und andere Websites über den Laptop zu mir gekommen sind, ich muss sie aus meinem Sinn verbannen. Wie soll ich sonst ruhig werden, und ruhig werden will ich. Es ist Sonntag, ein Tag, den ich von unserem Friedensprogramm frei genommen habe. Meine beiden Kolleginnen haben auch frei genommen. eine ist zu einem Team im Norden des Palästinensergebietes gefahren. Die andere hat einen Tag in der Wellnesseinrichtung eines großen Hotels gebucht. Mir haben sie das Versprechen abgenommen, nichts zu machen, was zu unserer Arbeit gehört. Und geh nicht in die Kirchen!, haben sie gefordert, weil das unweigerlich zu Gesprächen mit alten oder neuen Bekanntschaften über die Lage im Lande führen würde. Und die freien Tage sollen doch dazu dienen, Abstand davon zu gewinnen. Also sitze ich in meinem Zimmer und versuche, still zu werden.

Die Tageslosung heißt heute – und die darf ich sogar an meinem freien Tag lesen: „Es ist ein Gott und Vater aller, der über allen und bei allen und in allen ist.“ Das ist ein Wort aus dem Brief, den der Missionar Paulus an Menschen im damaligen Kleinasien geschickt hat. Es war sein Versuch, den Menschen, die zwischen vielen Religionen, Sprachen und Kulturen gelebt haben, einen Standort zu zeigen, von dem aus sie freundlichen und feindlich gesonnenen Menschen gleich gerecht werden konnten.

Draußen, in Ostjerusalem, in den besetzten Gebieten der Westbank, im Gazastreifen und auch in Israel sind die Menschen aufgeregt; aufgebracht von den Ereignissen, die unmittelbar im Land passieren, aufgebracht auch gegeneinander. Die Bilder von Bürgerkrieg, von Hinrichtungen, von Hass und von der Zerstörung dessen, was anderen heilig ist, die Erklärungen, die Hamas, der Fatah, der israelischen Regierung und der westlichen Regierungen, die alle die Fatah stützen wollen – sie alle sind zutiefst verstörend. Je nachdem, welcher Seite man zuhört, geben die Fakten und Ereignisse ein anderes Gesamtbild. Hört man der Hamas zu, so war es richtig, den Verrat der palästinensischen Interessen durch die Fatah zu stoppen; sie weisen nach, wie Politik und Sicherheitsdienste der PLO mit Israel und den USA abgestimmt waren bzw. sind und wie die Palästinenser durch sie alles verlieren würden, was ihnen noch gehört. Hört man der Fatah zu oder den Beratern des Palästinenserpräsidenten, so haben die Kräfte der Hamas einen von langer Hand geplanten Putsch durchgeführt, mit dem Ziel, einen islamistischen Gottesstaat im Gazastreifen, in Palästina und in der Region zu errichten. Und den kann nur die Fatah stoppen. Hört man den arabischen Nachbarn zu, so warnen sie beide Parteien vor dem Bruderkrieg und vor dem Verrat des Eides, den sie auf den Koran geschworen haben, in Mekka, vor einigen Monaten. Aber die Nachbarn haben nichts getan und auch nichts zu bieten, was Vertrauen aufbauen könnte. Hört man zu und glaubt, dann hat die eine oder die andere Seite die Lösung.

Hört man nicht zu, dann vernichten die Bilder alle Hoffnungen, die Normalität des menschlichen Daseins finden, ein Leben in Ruhe führen zu können. Die Menschen wollen sich nicht zwischen der Propaganda der einen oder der anderen Seite entscheiden. Sie sind zutiefst verunsichert, weil die Zerstörung des Lebens, das durch die Israelische Besatzung ohnehin stark eingeschränkt ist, ihnen wieder nahe kommt. Krieg und Tod, Hass und Vergeltung, Furcht und Misstrauen – das wollen sie nicht. Aber es wird ihnen aufgezwungen. Die Menschen, denen wir tagtäglich begegnen, leiden. Und sie verlieren die kleine Hoffnung, die sie sich bewahrt hatten.

Und nun will ich die Bilder loswerden, die ich zuletzt gesehen habe. Das war vor 2 Tagen, am Freitag. Danach war ich nach Tel Aviv gefahren, wo man sich fühlen kann, als sei man in einem ganz anderen Land. Die Menschen gehen an die Strandpromenade, essen und trinken dort, liegen in der Sonne, spielen und schwimmen. Und tun so, als wäre das Leben sicher. Das war gestern. Aber zu den Bildern von vorgestern. Der Bürgerkrieg im Gazastreifen war soweit entschieden. Die ersten Auseinandersetzungen in den Zentren der Westbank waren erfolgt. Jetzt war Freitag, der Tag des Großen Mittagsgebetes. An diesem Tag strömen immer Menschen aus dem ganzen Land nach Jerusalem, in die Altstadt und zur Al-Aqsa-Moschee. So auch vorgestern.

Erstes Bild: Auf dem Weg vom Ölberg hinunter in die Stadt fanden wir Straßensperren. Gitter versperrten die Kreuzungen. Polizisten, schwer bewaffnet standen hinter diesen Sperren. Unser Bus musste einen riesigen Umweg fahren. Die Geschäftsstraßen gegenüber dem Damaskustor waren voll, wie immer, aber eine große Unruhe lag über den Menschen. Am Himmel schwebte ein Zeppelin, offensichtlich mussten Verkehr und Straßensperren vom Himmel aus kontrolliert werden. Später fielen die Busse ganz aus; als ich mittags noch einmal unterwegs war, musste ich zu Fuß laufen.

Zweites Bild: Die Stadttore waren ganz und gar gesperrt, Polizisten bildeten dichte und doppelte Kordons, durch die niemand vordringen konnte, den sie nicht durchlassen wollten. Wie immer bei solchen Sperren hieß es: Männer unter 45 oder unter 40 dürfen nicht in die Altstadt. Aber auch Frauen mit ihren Produkten für den Markt wurden nicht durchgelassen. Juden im Habit der Orthodoxen wurden seitlich an den aufgeregten Massen vorbei in die Altstadt eskortiert. Polizeikräfte waren tief in die Geschäftsstraßen hinein gestaffelt.

Drittes Bild: Mittags war ich zu unserem Büro nahe dem Neuen Tor unterwegs. Ich musste laufen. Auf dem kurzen Abschnitt der Stadtmauer nach Norden, entlang der Sultan Suleiman Straße, das sind etwa 1 ½ km, waren vier Gruppen von Männern, die offensichtlich nicht zur Al Aqsa Moschee durchgelassen worden waren, zum Freitagsgebet versammelt. In einem Fall waren es mehr als 200 Männer, von Polizei umstellt. Im Schatten eines Baumes standen zwei dieser Hannoveraner, Pferde, die in Deutschland speziell für Krawall-Einsätze trainiert worden sind. Um die Ecke stand ein Wasserwerfer in Bereitschaft. Die Männer saßen auf dem Asphalt der Kreuzung. Vor ihnen stand ein Prediger. Über einen Lautsprecher richtete er seine Worte an die Versammelten. Weit weg noch war seine Predigt zu hören. Frauen, die nicht in den Reihen der Männer beten können, standen und hörten zu. In einem anderen Fall war eine kleine Gruppe von einem Dutzend Männer direkt unter der Stadtmauer versammelt, im Gras sitzend, die Schuhe ausgezogen, im Schatten eines Baumes. Auch sie hörten auf einen Prediger. In wieder einem anderen Fall sah ich die Ladenbesitzer, die für ihre Kunden Pappen auf der Straße auslegten, die auch sofort zum Gebet, bei dem der Betende auf die Knie und mit dem Gesicht auf den Boden geht, verwendeten. Und im vierten Fall sah ich zwei Reihen Betender, die einen Vorbeter vor sich hatten und diesem in allen Gebetshaltungen folgten. Viele Männer standen auch einfach da und sahen sich das Spektakel an, ohne ihre Gemütsregung zu zeigen, aber so, dass keiner meinen durfte, sie seien gleichgültig.

Ich musste in unser Büro, weil nur dort eine feste Telefonleitung besteht. Mein Handy war für diesen Zweck nicht gut genug. Ich sollte ein Interview für den Westdeutschen Rundfunk geben. Ich wollte keinesfalls Fragen nach der politischen Situation beantworten. Dafür, wollte ich sagen, gibt es Spezialisten. Ich wollte auch keine eigene Meinung sagen, das ist nicht Teil unserer Aufgabe in diesem Friedensprogramm. Ich wollte erzählen, wie die Menschen die politischen Ereignisse aufnehmen und erleben. Wie reagieren die Menschen in Jerusalem? Auf diese Frage hatte ich gewartet, aber die kam dann nicht. Das Interview wurde aufgenommen – und wird in diesen Minuten ausgestrahlt – weil von heute an einige Tage lang in Amman eine große Konferenz des Weltkirchenrates zur Situation hier in Palästina und Israel und im Nahen Osten stattfindet. Und dazu sollte jemand, der für den Weltkirchenrat und seine Friedensmission vor Ort arbeitet, gehört werden. Stattdessen kam die Frage nach unseren konkreten Einsätzen und ob unsere Präsenz hier etwas bedeutet. Macht es einen Unterschied, ob Sie dort am Checkpoint stehen? So lautete die Frage. Und die andere hieß: Warum ist hier so wenig von der Realität der Palästinenser bekannt? Warum macht die Kirche nichts von dem, was Sie dort sehen, öffentlich?

Weil die Frage, wie sieht es heute in den Straßen von Jerusalem aus, nicht gekommen war, weil ich die Bilder, die meine Seele füllten, nicht zeigen konnte, muss ich es jetzt hier tun. Weil ich den Menschen in Deutschland keine fertige Meinung zumuten, sondern ihnen zutrauen will, dass sie mitdenken und mitfühlen, darum will ich beschreiben, wie die Menschen hier auf die Ereignisse reagieren.

Die Menschen auf den Märkten von Ostjerusalem, die sich nicht in die Häuser zurückziehen oder flach auf den Boden legen müssen, wie in Gaza-Stadt, sind tief frustriert. Sie wollen sich nicht von radikalen Gruppen vertreten lassen. Sie wollen keinen Krieg in ihren Straßen. Was beten ihre Imame? Und ich meine wieder nicht die, die im Radio gesendet oder die in unseren Zeitungen zitiert werden. Wen kann ich fragen?

Auf den Boulevards von Westjerusalem sind heute nach dem Sabbat die Geschäfte und Cafes wieder offen, die Menschen hier haben einen neuen Präsidenten, aber keine Regierung mit Visionen. Sie fragen sich gegenseitig, ob die Zukunft für sie dunkler oder heller scheinen wird. Was haben sie am Sabbat gebetet? Yael sagt: Wir Juden haben keine aktuell formulierten Gebete im Gottesdienst. Debbie sagt: Am Freitag haben wir das Gebet um Frieden gebetet wie immer, es stammt aus dem 19. Jahrhundert und hatte damals einen aktuellen Anlass. Und sie ist sicher, die Synagogenbesucher haben vorgestern das Gebet auf die gegenwärtige Situation bezogen und um Frieden für die Palästinenser und für sich selbst gebetet.

Die wenigen Christen, die heute in den Kirchen Jerusalems zusammen kommen, die nichts von der Konferenz in Amman wissen, die auch nur Zeitungen und Fernsehbilder kennen, von ihnen weiß ich: Sie fürchten die Islamisten, sie fürchten sie noch viel mehr als die gemäßigten oder die säkularen Muslime sie fürchten. Und sie sehen schwarz. Was beten sie in ihren Gottesdiensten? Ich werde sie fragen müssen.

Hier sitze ich und suche die Stille, die nötig ist, um mich auf das Wichtige zu besinnen. Ich spüre, dass ich noch viel lernen und verstehen will. Und ich hoffe, dass ich die Bilder, die ich nach Deutschland vermitteln will, dort verstanden werden. Ich hoffe auch, dass ich selbst in der Unruhe, die noch im Abstand vom Lärm der tragischen Ereignisse, bestehen bleibt, die Bewegung Gottes finde, die zu Gerechtigkeit und zu Frieden führen will. Aber zu dieser Mühe, die wirklichen Optionen für Gerechtigkeit und Frieden zu finden, gehört auch die Frage, die hier in Jerusalem so verdeckt und so von Lärm übertönt ist: Ist der Gott, den alle drei Religionen als Den Einen bekennen, ist er ein einigender Gott?

Unterdessen ist es Nachmittag. Der Wind hat zugenommen. Er ist unüberhörbar. Ich werde auf die Nacht warten. Dann wird es still. Und vielleicht lässt sich Gott, wie in der alten Geschichte vom Propheten Elias, in der Stille, die dem Sturm und dem Erbeben gefolgt waren, finden. Denn wenn wir ihn finden, werden wir wissen, dass er ein einigender Gott ist.

Saturday, June 16, 2007

Beim Kamel Zuhause

Es war der Tag, als sie uns wieder Mal den Durchgang durch den Kontrollpunkt verweigert haben, sie, die Soldaten von der Grenzkontrolle. Wir stehen dann vor dem Drehgitter in der Reihe der anderen Passanten, aber jedes Mal, wenn einer von uns durch diese Schleuse gehen will, schließt die sich, erscheint das rote Licht über dem Drehgitter. Nach 5 Minuten haben wir das Spiel verstanden und suchen das Gespräch mit den Soldaten durch die Sprechanlage, die neben den Drehgittern hängt. Wir hören, dass wie nicht berechtigt seien, durch diese Kontrollanlage zu passieren, dass wir nach Bethlehem fahren sollen. Und so weiter, davon wollte ich aber gar nicht erzählen. Es war an diesem Tag, dass ich das Kamel zuhause besucht habe. Und vom Kamel wollte ich erzählen.
Vor einem halben Jahr habe ich von dem Kamel erzählt, das bei uns oben auf dem Ölberg an der großen Kreuzung erschienen und auch wieder verschwunden war, zu schnell, als dass ich es hätte fotografieren können. Jetzt hatte ich meiner Enkeltochter eine Postkarte vom Kamel und seinem Baby geschickt und irgendwie hatte ich das Gefühl, ich müsste eine persönliche Beziehung nachweisen, wenn der Gruß vom Kamel echt sein soll. So, wie ich hier in Jerusalem von Organisationen berichte, die ich kenne, mit denen ich zusammen arbeite. Diese Woche war voll von Veranstaltungen gegen die 40 Jahre Besatzung der Palästinensergebiete. In allen Veranstaltungen, die wir begleitet haben, haben wir Israelische Freunde getroffen. Und wir haben sie für unsere Veranstaltung geworben, in der wir für unsere Teams der Ökumenischen Begleiter, die nächste Woche hier in Jerusalem zusammenkommen, organisieren. Aber auch davon will ich hier nicht erzählen. Vom Kamel also.
An diesem Morgen, als am Kontrollpunkt nicht viel los war, habe ich mich von meinen beiden Kolleginnen gelöst und mich zu einem kleinen Spaziergang aufgemacht. Entlang der Mauer und den Hang aufwärts wollte ich sehen, wie die Grenze zwischen Jerusalem und der Westbank hier verläuft und was für ein Dorf das eigentlich ist, das hier oberhalb der Hauptstraße liegt. Die Hauptstraße führt nach Al Aizariya, dem biblischen Bethanien, jetzt nach Lazarus benannt, den Jesus aus dem Grab erweckt hat. Ich war also einige hundert Meter gegangen, als ich im Hof rechts von mir ein Kamel liegen sah. Das Kamel wurde schön hergerichtet. Ein Sattel war schon zwischen den Höckern befestigt, eine schöne rote Decke wurde darüber gebreitet und siehe da, die Decke hatte richtige Taschen. In den Taschen wurden die Vorräte für den Jungen verstaut, der mit dem Kamel arbeiten sollte, Wasser in einer Flasche und ein Brotfladen in einem Tuch und Obst und vielleicht Humus, das konnte ich nicht erkennen. Ich war stehen geblieben und hatte den Fotoapparat rausgeholt. Der Hausherr, der mit dem Kamel beschäftigt war, sprach mich an. Nach einem kurzen Gespräch bat er mich herein. Er erklärte mir, dass das Kamel sich jetzt aufmachen würde, mit dem Jungen, er zeigte stolz auf seinen Sohn. Sie sollten an der Lazaruskirche Touristen erfreuen. Die sitzen gern auf dem Kamel und wollen Fotos, erläuterte er. Der Junge nickte. Das war seine Arbeit.
Natürlich hatte ich jetzt Fragen, nicht nur zum Kamel, auch zum Leben hier direkt an der Mauer. Der Kamel- und Hausbesitzer führte mich in seinen Garten. Olivenbäume standen da, der Boden war gepflügt, einige Beete für Gemüse lagen dazwischen. Aber vor allem war es der Blick über das Tal, der mich faszinierte. Über die Mauer hinweg, die hier acht Meter hoch ist, waren die Hänge von At Tor zu sehen, oben der Ölberg mit seinen großen Anlagen des Auguste-Viktoria-Krankenhauses und des russischen Nonnenklosters. Und da war auch das Haus des Bruders, der ebenfalls ein Kamel hat und dieses den Touristen dort oben auf der Aussichtsplattform anbietet. Ach, sagte ich, das hatte ich neulich getroffen, abends, als es im kühlen Wind aushielt und auf die Touristen warten musste, die in der Dunkelheit kommen, um die Altstadt von Jerusalem als helle Stadt auf dem Berg zu sehen. Ja, sagte mein Gastgeber, die Kamele seien auch verwandt, wie er und sein Bruder. Aber jetzt leben sie getrennt. Er zeigte auf die Mauer. Das Kamel hat keinen Ausweis? Fragte ich. Aber das war kein guter Witz. Sein Gesicht wurde noch trauriger. Unser Leben hat sich verändert. Wir waren hier doch eine Familie, eine Stadt, führte er aus und zeigte auf die Hänge, die sie nicht bearbeiten konnten, weil sie zu nahe an der Mauer lagen. Das Land müsste wieder terrassiert, Wasser herangeführt werden. Aber dazu haben sie keine Erlaubnis. Ich dachte an den gepflegten Wald, etwas weiter drüben, hinter dem Gelände des Auguste-Viktoria-Krankenhauses. Dort hat Israel im früheren Niemandsland die Universität ausgebaut. Und unterhalb der Universität Land für Park und Wald ausgewiesen. Jüdische Geldgeber aus den USA haben ein Wäldchen anlegen lassen. Und man kann dort das Wunder erleben, wie aus der Judäischen Wüste ein Wäldchen wächst, Duft von Kiefern und kleinen Büschen verbreitend. Aber hier war zerrissenes und karges Land, erodiert und von der grauen Betonmauer gezeichnet.
Der Sohn des Bauern hatte uns auf einem Tablett zwei Gläser mit Tee gebracht, süß, mit frischer Minze. Den Tee hatten wir getrunken. Wir waren zurück beim Kamel. Als ich eine Portraitaufnahme von ihm machen wollte, protestierte es und war überhaupt ungehalten. Der Bauer, Mahmud, begann das Kamel zu streicheln und sanfte Laute in sein Ohr zu sagen. Das Kamel ließ in einer unendlich langsamen gleitenden Bewegung seinen immer länger werdenden gestreckten Hals niedersinken. Es nahm die Streichelbewegungen im Nacken mit einem zufriedenen Grunzlaut entgegen. Der lange Hals lag nun auf dem Boden des Hofes. Aus dem Augenwinkel beobachtete es mich, als wolle es sicherstellen, dass ich mich über die intime Situation nicht lustig mache. Vielleicht mochte es auch meinen Fotoapparat nicht, davon habe es genug den Tag über; hier habe es ein Anrecht auf Privatsphäre und Respekt. Ich zog mich zurück und verabschiedete mich dann auch. Schließlich wartete meine Aufgabe auf mich, etwas weiter unten, bei der Kontrollanlage.
Später, als der Kontrollpunkt für uns verschlossen war und wir auf eine Antwort von der Beschwerdestelle warteten, kam das Kamel vorüber, den Kopf hoch erhoben, wieder mit diesem Seitenblick, mit dem es vielleicht sagen wollte: Ich bin vielleicht ein Kamel, aber du verstehst nichts von meinem Leben! Und ich habe jedenfalls den Fotoapparat in der Westentasche gelassen. Die anfangs schnell geschossenen Fotos sind nicht besonders gut, aber ich schicke sie meiner Enkeltochter, als Beweis, dass ich beim Kamel zuhause war.

Thursday, June 14, 2007

Das ist unser Krieg!

Der junge Soldat hatte das Fenster mit den doppelten Scheiben aus schusssicherem Glas geöffnet. Das tun die Soldaten in ihren Wachhäuschen eigentlich nie. Sie rufen über Lautsprecher; manchmal tun sie das auf Arabisch; aber immer ist es so laut und verzerrt, dass ein schmerzhafter Ausdruck auf den Gesichtern sämtlicher Passanten erscheint und viele sich die Ohren zuhalten. Dieser Soldat hier hatte versucht, uns über den Lautsprecher und auf Hebräisch anzusprechen und dann, weil wir nicht wie von ihm gewünscht und gewohnt reagiert hatten, das Fenster geöffnet. Er rief uns näher heran, so nahe, wie das eben ging mit dem Metallgitter zwischen uns. Und dann begann er ein Gespräch, das er mit diesem denkwürdigen Satz vom Krieg beendete. Das Gespräch begann, wie alle unsere Gespräche mit Soldaten beginnen, egal, ob sie anfangen oder wir. Wir beginnen Gespräche mit einem Gruß und mit der freundlichen Frage, ob sie englisch sprechen. Sie beginnen meist mit einem Befehl wie: Geht weg hier! Oder einfach: Geht! Geht! Wir haben auch einen Soldaten, der regelmäßig Dienst an einem der Kontrollpunkte tut, der macht, sowie er unser ansichtig wird, eine abweisende Handbewegung und ruft von weitem: Kein Englisch! Keine Fotos! Und auch das ist als Befehl gemeint. Wir verstehen das, lachen und klopfen auf die geschlossene Jackentasche, um zu zeigen, dass der Fotoapparat da drinnen bleibt. Aber dieser Soldat hier konnte Englisch und wollte auch reden. Er lehnte sich leicht aus seinem Fenster und fragte streng: Was macht ihr hier? Das Gespräch führte dazu, dass er uns erklärte, hier würde alles gut gemacht und wir würden hier nicht gebraucht. Umso besser, sagten wir, da habt Ihr ja nichts zu verbergen. Nein nein!, entgegnete er, jetzt ungeduldig, wir wollen euch hier nicht, das geht euch gar nichts an, das ist unser Krieg! Die Betonung lag auf dem Wort: unser.

Die Überwachung der Kontrollstellen gehört zu unseren Aufgaben. Wir besuchen regelmäßig vier sehr unterschiedliche Kontrollstellen. Eine davon liegt mitten im Palästinensergebiet und gehört zu den 546 Barrieren im Land, mit denen Israel nicht nur seine „Grenzen“ zu den Palästinensergebieten, sondern auch seine Straßen kontrolliert, die ausschließlich für Israelis, vor allem eben für die Siedler, durch Palästinensergebiete verlaufen. Vielleicht müsste ich an dieser Stelle was zu den Worten sagen, die in den Medien gebraucht werden und die auch ich verwende. Aber das würde zu diffizil, eben weil es ganz verschiedene Sperren und Durchlässe gibt. Im Original heißt es eben nicht wie im Englischen „Checkpoint“ oder wie im Deutschen „Grenzkontrolle“. Das hebräische Wort heißt „Machsom“, im Plural „Machsomim“. Es bedeutet: Sperre. Und es macht deutlich, dass es in erster Linie um die Barrieren, um die Absperrung und um Kontrolle des Verkehrs auch mitten in den Palästinensergebieten geht, nicht um ihre Durchlässe und einen Grenzverkehr.

Wir sind froh, dass wir bisher keine Kampfeinsätze erlebt, keine Festnahmen erkannt oder Handgreiflichkeiten gesehen haben, wie im vergangenen Jahr. In unseren Berichten steht dann meist in der entsprechenden Rubrik: Keine Vorfälle gesehen. Auch im Bericht über den Besuch des Checkpoints unter dem Ölberg heute früh steht: Keine besonderen Vorfälle. Und doch gehen wir jedes Mal frustriert von dem, was wir dort beobachten, davon oder sitzen im Bus, der sich im morgendlichen Stau langsam auf die Altstadt zu bewegt, und meditieren diese Situation. Mit uns im Bus sitzen dann, auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen, die Palästinenser, die erstmal erleichtert sind, weil sie diese tägliche Demütigung der Grenzkontrollen hinter sich haben.

Keine besonderen Vorkommnisse: Das Brüllen der Lautsprecher, das Zucken in den Gesichtern der zwischen den Drehgittern eingezwängten, die gebogenen Rücken der Gedemütigten, die ihre Hände zur Computerkontrolle auf die Mattscheibe legen müssen; die abgewandten Blicke der Männer, die draußen und bevor sie in die Busse steigen, ihre Gürtel wieder in die Schlaufen ziehen, die Hemden ordentlich in die Hosen zwängen; die leichten Handbewegungen der jungen Soldaten, mit denen sie Erwachsene und Alte zu sich heranwinken; die verlorene Stunde Lebenszeit – das alles zählt zur Routine. Eine Mutter kommt mit zwei Kindern. Die Kinder nehmen sich an die Hand und zwängen sich gemeinsam durch das Drehgitter, während die Mutter, in einem Arm das Baby, mit der anderen Hand ihren gefalteten Buggy haltend hofft, dass die hinter ihr Drängenden nicht zu arg schieben, so dass sie mit dem Buggy in einem und sie mit dem Kind im anderen Segment des Drehgitters zur nächsten Kontrolle gehen kann. Sie muss drei dieser Drehgitter passieren; in der Personenkontrolle ist sie dann auf die Freundlichkeit der Soldaten angewiesen, die zulassen, dass der Kinderwagen außerhalb des Metalldetektors passieren darf. Das ist schmerzlich anzusehen, ist aber normal. Eine Soldatin geht Kaffee trinken, eine Linie fällt für 10 Minuten aus; Der Soldatin sind der Kaffee und die Pause zu gönnen; aber für die Grenzgänger entsteht die Frage: Sollen sie einfach die vielleicht 5 oder vielleicht 15 Minuten warten oder sich in die anderen Schlangen reinzwängen? Ein Mann hat seine Arbeitserlaubnis vergessen. Sie ist in der anderen Hose. Die Grenzbeamten kennen ihn doch, er geht jeden Tag hier durch. Aber das gilt nicht, er muss nachhause fahren, das Papier holen. Das kostet ihn eine Stunde, die ihm sein Arbeitgeber abziehen wird. Das ist noch kein Anlass, eine Beschwerde in Betracht zu ziehen. Eine alte Frau trägt Weinblätter auf dem Kopf, die will sie auf einer der Einkaufsstraßen in Jerusalem verkaufen. Sie hat keine Genehmigung und darf nicht durch. Sie schimpft. Der Soldat, 17 Jahre alt, fährt sie an und macht diese Bewegung mit dem gestreckten Arm und Zeigefinger: Geh schon! Er sieht ihr herausfordernd ins Gesicht, was man hier nicht tut. Die Frau spuckt ihn an. Er brüllt und reißt sein Gewehr hoch. Die anderen Soldaten sind ihrerseits alle wachsam und einer kommt und schiebt die Frau weg. Die Palästinenser ringsum sind fassungslos: Man berührt keine Frau in der Öffentlichkeit! Aber einer von ihnen kommt und geleitet die Frau höflich davon, damit die Szene nicht weiter eskaliert. Die unzähligen kleinen Demütigungen gehören zu diesem System. Im Bericht wird an diesem Tag stehen: Keine besonderen Vorkommnisse.

Am Donnerstag ist ein Mann aus der langen Schlange der Wartenden ausgeschert. Er ist auf uns zugekommen. Aggressiv hat er gefragt, was unsere Aufgabe hier sei. Langsam hat er verstanden, dass wir nicht Teil des Abfertigungssystems sind, sondern hier stehen, damit Verstöße gegen eine ordentliche Abwicklung der Grenzübertritte möglichst nicht vorkommen. Die anderen, die uns kennen, wollten ihn zurückziehen. Aber er war nun in Schwung. Er hat uns das Wort „Frieden“, das in unserem Titel steckt, vorgeworfen: Frieden könne es hier nicht geben. Sollen wir zustimmen, dass die uns unser Land wegnehmen, uns von unseren Familien trennen, Grenzen setzen, wo niemals welche waren? Sollen wir zustimmen, dass sie unsere Kinder von den Krankenhäusern fernhalten? Der Mann war Arzt und offensichtlich sehr erregt. Wir haben ihm zugestanden, dass er ein Recht auf diesen Zorn habe aber dass wir unsererseits dafür stehen, Gerechtigkeit wieder herzustellen und den Weg zum Frieden offen zu halten. Davon wollte er nichts wissen. Und viele der Männer in der Schlange der Wartenden haben es vorgezogen, wegzuschauen und ihre Meinung nicht zu erkennen zu geben. Wir haben das später zwischen uns Freiwilligen diskutiert und gesagt, dass auch das zu unserer Aufgabe gehört: Die Frustration der Opfer dieser Trennungsbarriere entgegen zu nehmen.
Am Sonntag war ich bei der Frühmesse der Franziskanermönche gewesen. Auf dem Weg nach Hause rief mich ein Mann an. Ich war der Meinung, es sei ein Taxifahrer oder ein Ladenbesitzer, der Kunden anspricht und wollte weiter gehen. Aber er lief mir hinterher und ich wandte mich, vorsichtshalber freundlich, ihm zu. Dieser Mann überfiel mich mit dem Vorwurf, dass ich an diesem Morgen nicht am Container Kontrollpunkt gewesen sei. Es sei sehr ruppig zugegangen. Völlig verblüfft habe ich ihm zugehört. Er hatte uns dort vor drei Tagen gesehen, aber am nächsten und übernächsten Tag vermisst. Die Soldaten lassen ihre Launen und Willkür an uns aus, sagte er. Warum steht ihr nicht immer da? Auch er war der Meinung, dass es unser Amt sei, dort für gute Abfertigung zu sorgen. Ich musste ihm aufzählen, wie viele andere Kontrollpunkte und Aufgaben wir noch hätten. Und überhaupt, dass wir eigentlich ganz machtlos und von der Grenzpolizei unerwünscht seien. Fast missmutig entließ er mich, eigentlich doch enttäuscht, dass wir nicht mehr für die Situation an der Sperranlage tun konnten.
Die Grenzübertritte und der Einschluss in den versperrten, besetzten Gebieten gehören hier zum Alltag. Aber sie sind grauenhaft. Die Mauer, 12 Meter hoch, kalter Beton, sieht schlimm aus, aber ihre Funktion, eine Sperre zu errichten, die täglich in das Leben der Menschen einschneidet – ihre Funktion ist schlimmer als ihr Aussehen. Das Leben unter der Besatzung, die nun schon 40 Jahre währt, länger als irgendeine andere Okkupation unserer Zeit, ist unerträglich. Es produziert täglich neuen Hass.
Zu verstehen ist das alles nur, wenn man die Sicht der anderen Seite zur Kenntnis nimmt: Israel wähnt sich im Krieg. Es sieht sich bedroht und von der restlichen Welt nicht verstanden. Und das hat der Soldat ausgedrückt, als er sich unsere Einmischung verbat. Was tut ihr, um uns zu schützen, fragen Israelis. Auch das diskutieren wir und finden, wir müssen uns das anhören.
„Das ist unser Krieg“, sagte der junge Soldat und schloss das Fenster mit den schusssicheren Scheiben.

Erstes Foto: Tina vor dem verschlossenen Drehgitter
Zweites Foto: Zwei Frauen von Machsom Watch reden mit den Soldaten
Drittes Foto: Ein Spürhund wird eingesetzt
Viertes Foto: Morgens um 6.30, Menschen warten auf die Kontrolle
Fünftes Foto: Die Kinder vom Flüchtlingslager Shufat zeigen uns "ihre" Mauer