Friday, July 13, 2007

Brief zum Portrait

Jerusalem, 07.07.2007
Guten Morgen, liebe Nini!
Wie ich sehe, hast Du eben die Mailbox geöffnet. Und vielleicht seid Ihr ja noch dabei, das Kamel, das ich Euch heute morgen mitgeschickt habe, zu betrachten. Ob es Paula gefällt, das Kamel?

Israelsonntag
Ich habe gerade die Antwort an Frau K. geschrieben und zugesagt, dass ich am 12. August den Gottesdienst in Blankenfelde übernehmen werde. Am 12. August werden wir, dem Kirchenkalender folgend, den Israelsonntag feiern. Das ist traditionell der Sonntag, an dem die evangelischen Kirchen und Gemeinden über ihre Wurzeln im Judentum oder, anders gesagt, über ihre Beziehungen zum Judentum nachdenken. Eine Zeit lang hieß das, Martin Luther folgend, sich das Beispiel der Bestrafung Israels mit der zweimaligen Zerstörung des Tempels vor Augen zu führen. Im 19. Jahrhundert wurde die Liturgie als Aufruf zur Judenmission genutzt. Und heute gerät der Gottesdienst an diesem Tag dann zu einem Gottesdienst in Solidarität mit dem modernen Israel. So ändern sich die Zeiten! Die Solidarität mit den Juden, die auf eine lange Geschichte von Ab- und Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich die Schoa zurückblicken, will ich mitmachen. Aber ich bringe auch die scharfe Kritik am Staat Israel aus meiner Arbeit hier vor Ort mit: an seiner Besatzung Palästinas. Wie soll das, die Solidarität mit den Juden und die Kritik am Staat zusammen gehen in einem Gottesdienst? Warum muss ich hier ständig begründen, dass ich zweimal parteilich bin, sowohl auf der Seite der Juden, die nach ihrer langen Geschichte von Ausgrenzung hier die Chance suchen, ihr eigenes, ein sicheres Land zu finden; als auch auf Seiten der Palästinenser, die tägliche Diskriminierung, Unterdrückung und Demütigung erleiden. Wer bin ich, dass ich mich nicht einfach auf die eine oder die andere Seite stellen kann?

Skizze
Neben mir liegt eine Skizze, mit Kugelschreiber gezeichnet, mit einem Porträt von mir. Die Skizze ist gestern entstanden. Und die Geschichte dazu muss ich erzählen. Gestern war das vorletzte Konzert in einer Reihe, die hier in den letzten Tagen unter dem Titel „Sounding Jerusalem“ veranstaltet worden war. Gestern fand das Konzert im Kloster der Franziskaner statt, beim Neuen Tor, dort wo wir die gute Falaffel gegessen haben. Es war wunderbare Musik, ein Quartett von Mozart, ein Trio von Carl Maria von Weber und das Trio für Violine, Cello und Klavier in Es-Moll von Schostakowitsch.

Gespräch mit Israelis
Nach der Pause war ich mit den beiden Nachbarn, einem älteren Ehepaar, ins Gespräch gekommen. Sie hatten gefragt, wer ich sei, was ich hier mache. Ich habe, während ich die erste Antwort gab, die Skizze auf der Rückseite des Programms gesehen, das der Nachbar in der Hand hielt und höflich gefragt, wen er da gezeichnet habe. Na Sie!, war die Antwort. Ich habe um die Skizze gebeten und sie auch erhalten. Leider war das Gespräch sehr schnell an dem Punkt, wo wir uns nicht klar verständigen konnten, sie, die Israelis aus Tel Aviv – "what occupation?" – und ich, Besucher mit der Aufgabe kritischer Begleitung der Opfer der Besatzung. Das Wort „Frieden“ hat auf beiden Seiten einen schlechten Klang, für Israelis heißt es meist Verzicht auf Sicherheitsmaßnahmen und für Palästinenser Unterwerfung unter die Teilung und Besatzung ihres Landes. Das lässt sich nicht vermitteln.

Schostakowitsch, Trio für Violine, Cello und Klavier
Es war schon nach der Pause und wir mussten das Gespräch unterbrechen. Dann spielten die Musiker das Trio Nr. 2 für Violine, Cello und Klavier. Ein wunderbares Stück, in dem Schostakowitsch den Sieg über die Nazis, aber auch das Leiden der Menschen aufnimmt. Er tut das mit einer jiddischen Melodie im dritten Satz und das ist, wie gesagt, tief bewegend. Wenn Du mir diese Musik besorgen könntest, Nini, bis ich nach Hause komme, würdest Du mich glücklich machen. Es gibt selten so sensible und schmerzhafte Musik. Sie hat mich an Smetana erinnert, an das Quartett, in dem er die Violine seinen Ohrton aufnehmen lässt. Schostakowitsch hat diese Musik 1944 komponiert, für seine Freunde gut erkennbar als Kritik am Stalinismus; aber er hat ironischerweise dafür den Stalinorden umgehängt gekriegt. Die Musik ist also so etwas wie eine Darstellung des Leidens an den Ohren derer vorbei, die für das Leiden mit verantwortlich sind. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass unsere schmerzlich disharmonische Debatte, was Frieden in diesem Land bedeutet, zwischen uns hing, während die Musik von Schostakowitsch den Raum füllen wollte.

Fortsetzung des Gesprächs mit Israelis
Na, und das erste, was die Nachbarin tat, als der Beifall für die Musiker abgeklungen war: Sie wandte sich mir zu und fragte, ob irgendjemand von uns und irgendjemand in der Welt nach dem entführten israelischen „jungen Mann“ fragt – sie sagte nicht „Soldaten“ – , er heißt Gilad Schalit. Aber selbstverständlich, versuchte ich zu sagen... Jedenfalls war sie, auf eine schmerzlich dichte Weise im Sinne von Schostakowitschs Musik, am Thema geblieben, das uns dann aber mehr auseinander trieb, als verband. Wir verabschiedeten uns herzlich und höflich, ich mit der Skizze in der Hand und mit dem Gefühl, dass ich ihnen etwas schulde und nicht wusste, was. Ich vergaß sogar, ihnen „Schabat Schalom!“ zu wünschen, und es war doch Freitag Abend.

Portrait
Erst draußen vor dem Kloster, am Neuen Tor, nahm ich das Programmblatt in die Hand und betrachtete aufmerksam die Rückseite. Die Skizze zeigt mich im Profil, aber ich erkenne meinen Bruder Michael, als würde er neben mir sitzen. Nie hätte ich gedacht, dass unsere Ähnlichkeit, ansonsten doch verloren gegangen, im Profil immer noch vorhanden ist. Was mich am meisten bewegt: Hier hat mich ein Fremder, der mich als Hörer schöner Musik beobachtet hat, gezeichnet. Das ist doch ungewöhnlich, noch nie hat mich jemand gezeichnet. Warum hier, im Konzert im Franziskanerkloster in der Jerusalemer Altstadt?

Über der Klagemauer
Ja, und mit dieser Begegnung habe ich den Abend noch nicht abgeschlossen, sondern habe mit Tina die verabredete Tour durch die Altstadt gemacht, um einige Fotos von Orthodoxen Juden auf dem Weg zur Klagemauer zu machen. Du kennst ja den Weg und hast mit mir an derselben Stelle gestanden: über der Klagemauer. Man steht dort im Jüdischen Viertel über einer kleinen Moschee und einem der letzten Wohnhäuser, die dort von den ursprünglicheren Häusern stehen geblieben waren und die auch noch zum muslimischen Viertel gehören. Tina, die mit mir war, zeigte mir die Terrasse, auf der sie vor 2 Wochen gestanden hatte; das war auf einer Pressekonferenz gegen Hausabrisse gewesen. Die Veranstalter, Israelis gegen die Zerstörung von Häusern, hatten an die Geschichte des Marokkanischen Viertels erinnert, das hier bis 1967 gestanden hatte und am letzten Tag des Sechstagekrieges vollkommen zerstört und abgetragen worden ist. An seiner Stelle wurde dann der Platz vor der Klagemauer geebnet. Die Bewohner, zum Teil Nachkommen von Marokkanern, die hier, wie Armenier, Griechen und spanische Juden in anderen Vierteln gewohnt hatten, mussten in Flüchtlingslager ausweichen. Während der Pressekonferenz hatten Kinder der jüdischen Siedler, die hier in das muslimische Viertel vordringen, Klumpen von nassem Toilettenpapier auf die Presseleute geworfen. Solche Ereignisse sind wie eine Erinnerung daran, dass hier unterschwellig ein Krieg weiter geführt wird. Bei den Orthodoxen Juden heißt das „Wiederherstellung Jerusalems“.

Ende des Tages
Tina und ich waren in dem Augenblick mehr daran interessiert, die Atmosphäre dort unter uns, die nächtliche Szene vor der Klagemauer in Fotos einzufangen, Beten und Tanzen. Und dann sind wir nach Hause auf den Ölberg gegangen, wie so oft buchstäblich mit dem letzten Bus, und haben das Essen, das ich schon vorbereitet hatte, als echtes Nachtmahl gegessen.

So hat mein Abend ausgesehen und vielleicht verstehst Du, warum ich vorhin am Telefon so empfindlich bei der Frage war, warum dieses Jahr noch weniger als letztes Jahr auf meine Berichte reagieren, geschweige denn inhaltlich auf sie eingehen. Das versetzt mich noch mehr in den Abstand, in den diese verrückte heillose Heilige Stadt einen zur scheinbar heilen Welt in Europa stellt. Wer bin ich
Dann habe ich geschlafen und hatte heute früh den Eindruck, als hätte ich die ganze Nacht nur geträumt, von Israelis, denen ich Antworten schulde und von Leuten, die in unser Programm eingeführte werden wollen und von Wegen, die ich suche und verliere und weiter suche. Es war wie eine Tour durch eine Stadtlandschaft mit der Frage „wer bin ich“. Einmal war ich sogar mit Roller Skates unterwegs, brach das aber ab, um mein Fahrrad zu holen, denn die Strecke ging bergauf und ich fand, da war ich mit den Roller Skates zu langsam und bergab, fand ich, sollte ich mich bei der wichtigen Mission, die ich hatte, als Anfänger nicht wagen. Ich hätte ja nicht mal gewusst, wie ich bremsen kann… Warum Roller Skates im Traum, wo ich noch nie so was an meinen Füßen hatte? Wir hatten auf dem Heimweg zwischen Klagemauer und Damaskustor in der engen, schon verlassenen und noch nicht aufgeräumten und gereinigten Gasse einen Jungen gesehen, der uns leichtfüßig auf Roller Skates entgegenkam und hinter uns wie ein Geist verschwand, so schnell war er. Und dann tauchte er erst in meinem Traum wieder auf.

Und ein neuer Tag: Demonstration für Beduinen
Okay, das war die Nacht. Und jetzt fange ich den Tag an. Tlago und Dudu haben einen freien Tag. Mit Tina fahre ich nach Susya, dort ist eine Demonstrations-Tour angesagt, von drei Israelischen Organisationen veranstaltet. Wir wollen dabei unsere Solidarität mit den Beduinen von Susya, südlich von Hebron zeigen. Die Beduinenfamilien sollen ihre Zelte auf ihrem eigenen Land, die den israelischen Behörden gemäß nicht genehmigt sind, abbrechen, während ganz in der Nähe die jüdischen Siedler auf Land, das ihnen nicht gehört, wohnen bleiben dürfen. Das ist nach internationalem und israelischem Recht illegal. Den Beduinen hilft das aber gar nichts. Die Armee, die dort vor Ort das Sagen hat, beschützt die Siedler, nicht die Beduinen. Wir waren vor einigen Wochen im Supreme Court dabei gewesen, als das vorläufige Urteil mehr gegen, als für die Beduinen gesprochen worden war. Und darum wollen wir auch heute dabei sein, wenn unsere israelischen Partner diese Tour machen. Für mich ist diese Tour schon ein Teil dieser letzten Wochen bzw. Tage, in denen wir noch einmal aufnehmen, was wir gesehen und getan hatten und dabei auch die Entwicklung wahrnehmen, die wir begleitet haben. Sicher ist, heute wird es heiß und die Landschaft dort ist schon auf halbem Weg in die Negev-Wüste. Ich erzähle Euch deshalb davon, weil Tobias bei den Beduinen war und von ihrer Kultur so begeistert erzählt hat. Es wäre wirklich schön, wenn die beiden an einem solchen Tag mit mir wären, so wie sie bei der letzten Demonstration in Tel Aviv dabei waren.

Grüße
Jetzt wünsche ich Euch einen schönen Tag, auch bei Euch wird schon die Abschiedsstimmung mitschwingen, wir ich annehme. Tobias und Yaara werden die letzten Tage genießen, bevor sie wieder nach Hause fliegen, nach Tel Aviv. Hier wartet Pnina schon auf sie. Und ich will sie ja auch gleich besuchen.
Sicher erlebt Ihr in Blankenfelde und Berlin die gemeinsamen Tage ähnlich intensiv, wie ich hier meine Tage in Jerusalem. Lasst es Euch gut gehen und genießt die Zeit miteinander, ich wäre gern bei Euch oder hätte Euch gerne hier. Und das ist jetzt jedenfalls kein Brief für Paula, sondern für Euch drei Große, auch wenn ich fürchte, dass Tobias und Yaara bei meinen Beschreibungen des Gesprächs im Konzert, dem Besuch im ehemaligen Maghrebinischen Viertel und der Demonstration in Susya anders empfinden, als ich und vielleicht schon bei meiner Wortwahl stöhnen. Vielleicht ist es diesmal ein Brief in Moll, und ein anderer in Dur muss folgen.
Alles Gute,
Dein Gottfried

Tuesday, July 03, 2007

Jerusalem, Al Quds, Die Heilige Stadt


Lieber Jürgen!
Schon lange will ich Dir diesen Brief schreiben. Aber die brennende Situation hier ließ ein ruhiges und gelassenes Nachdenken, wie ich dafür brauchte, nicht zu.
Es geht mir darum, eine Brücke zu suchen zwischen den Erfahrungen mit der Spiritualität der Stille und dem Trieb, mit Aktion und Engagement sich die Liebe Gottes verdienen zu wollen. Vom ersten verstehst Du mehr, vom zweiten weiß ich was. Das sage ich natürlich selbstironisch, wissend, dass Du das nicht gelten ließest. Wenn wir hier beide zusammen wären, wäre das einfacher zu diskutieren. Wir könnten zwischendrin auch lachen.
Ich will also heute von meiner Abscheu gegen den Titel, den diese Stadt Jerusalem trägt, abweichen, so als wärest Du neben mir und ich hätte Dir meine Bilder gezeigt und würde mir Deine zeigen lassen. Du wirst kaum in den nächsten Tagen her kommen können. Also nehme ich Dich jetzt mit, in Gedanken. Und ich bitte Dich, dafür meinen letzten Bericht über die Freitagsgebete in dieser Heiligen Stadt zu lesen. Da ist er, der Titel Jerusalems, der mich so stört: Heilige Stadt.

Das Kamel
Du erinnerst Dich an meine erste Geschichte über das Kamel? Ich hatte seinen Auftritt hier oben auf unserer Straßenkreuzung beschrieben. Dabei hatte ich mich über das Kamel lustig gemacht. Immerhin erscheint es doch anachronistisch, wenn ein Kamel in seiner ernsthaften und übertrieben würdevollen Haltung bei Rot über die Kreuzung schreitet. Und dann hatte ich noch den Vergleich mit all den geistlichen Würdenträgern angestellt, die hier auch wie eine ferne Erinnerung aus dem Mittelalter, noch früher: aus der byzantinischen Zeit!, durch die Straßen und Gassen wehen. Anachronistisch eben, wie mir schien. Aber jetzt bin ich beim Kamel zuhause gewesen und muss mich fast entschuldigen. Denn das Kamel ist ein sehr sympathisches Tier, wenn man sich erstmal auf seine Natur einlässt. Es sind die Touristen, die die Nachfrage nach exotischen Fotos auf dem Rücken des Kamels schaffen. Das Kamel möchte vielleicht ernst genommen werden und es hätte uns was zu sagen, wenn wir nur zuhören würden. Aber lassen wir endlich das Kamel in Ruhe. Du kannst die Geschichte ja nachlesen.

Ich war in einigen dieser uns Protestanten so fremden Kirchen. Ich hätte nie gedacht, dass es mir so gut tun würde, dort die Enge und die Geschwätzigkeit meiner Welt für einige kostbare Augenblicke zu verlassen.

Bei den Armeniern
Ich war zum Beispiel bei den Armeniern. Ihre große Kirche wird für die Nachmittagsvesper geöffnet. Ich war einige Minuten früher da und dachte, das wird nichts, da ist ja niemand. Ich habe mich auf eines der kleinen Bänkchen vor der Säule gesetzt. Es gab da eine unscheinbare kleine Empore, auf der saß ein Mann. Er blätterte in einem großen Buch, ohne uns da unten zu beachten. Unvermittelt begann er zu singen. Daraufhin füllte sich der Chorraum mit Mönchen und Seminaristen. Die verteilten sich auf zwei Gruppen und respondierten dem Liturgen am Altar und dem Lektor am Lesepult. Manchmal waren es zwei unterschiedliche Antworten, die den Gebetsrufen des jeweiligen Liturgen folgten. Ich konnte der Liturgie nicht einmal in Grundzügen folgen, sondern nur raten, welche Teile der Bibel gelesen wurden, welche Gebete gesungen wurden. Die Sprache war Armenisch und die Liturgie offensichtlich sehr alt, mit Gesängen in Kirchentonarten, aber auch mit einigen neueren Melodien. Ich brauchte es auch gar nicht zu wissen, es reichte, mich darauf verlassen, dass hier eine alte und erprobte Feier durchgeführt wurde. Es war, wie wenn in diesem alten dunklen Gemäuer mit den unendlich vielen Öllampen unsichtbare Fenster geöffnet würden; als ob der Blick frei gegeben würde auf etwas, was man sonst nicht sieht. Es war, ganz einfach gesagt, ein schöner Gesang nach einer fremden Ordnung. Ich konnte mich dem hingeben. Eine halbe Stunde – dann war das vorbei. Die Seminaristen, die Mönche, der Priester verschwanden.
Ein Mann, der offensichtlich seine klerikale Kleidung abgelegt hatte, trat zu uns und führte uns durch die Kirche, erzählte von den Armeniern, die sehr früh schon nach Jerusalem gekommen waren; auch von Zeiten unter der Türkenherrschaft, wo es ihnen nicht gut ging, wo sie zum Beispiel keine Glocken läuten durften. Sie schlagen noch heute an eine große Holzplatte, die im Kirchenhof hängt, um zum Gottesdienst zu rufen. Auch die Führung durch die Kirche dauerte nicht lange. Und ich konnte gehen – ruhiger, als ich gekommen war.
Heute habe ich einen Anlass, von den Armenischen Christen zu erzählen: Heute ist es genau 1706 Jahre her, dass die ganze, damals große und angesehene Armenische Nation zum Christentum übergetreten war.

Die große Stille
Dann war da der Deutsche Ökumenische Kirchentag von Jerusalem. Mit dem Motto des Kirchentages in Köln hieß es auch hier: Lebendig, Kräftig und Schärfer. Ich will nur von dem Abend erzählen, an dem wir in der Deutschen Erlöserkirche den Film über die Karthäusermönche gesehen haben. Es ging um das Wort von der Ruhe, die dem Volk Gottes noch zugesagt ist. Der Hinweis auf die Ruhe geht dem anderen Hinweis auf die Lebendigkeit, Kraft und Schärfe des Wortes Gottes voraus. Der Film hat den Titel: „Die große Stille“. Bestimmt kennst Du ihn. Er zeigt das Leben der Mönche, die schweigen. Die Jahreszeiten kommen und gehen, man hört den Schnee fallen, Hähne krähen, Dielen knarren, man hört sogar die Knochen der alten Mönche, wenn sie sich nach langen Minuten aus der knienden Haltung aufrichten. Man hört die Glocken, die zum Gebet rufen und die Blätter der Bücher, in denen sie lesen, diese strengen Mönche. Aber die Mönche schweigen. Der Film ist sehr einfühlsam und gleichzeitig mit großem Humor gemacht. Oft muss man lachen. Auch das leise Lachen der Zuschauer hört man dann, und das Knarren der Stühle im Vorführraum, also der Kirche und ab und zu Geräusche der Stadt. Ansonsten sieht man aber das schweigsame Leben und Beten der Mönche. Und man sieht auch hinter der großen Leinwand, die aus vier Bettlaken zusammengenäht quer vor dem Altarraum gespannt hängt, man sieht dahinter den realen Altar, wenn das Licht gerade auf ihn fällt, auf den Blumenstrauß und die weißen Kerzen und das Kreuz. Oder man sieht die Säulen, die hier Chor und Kirchenschiff verbinden. Man sieht immer nur Teile dieses schönen ruhigen Baues. Und auf einmal erscheint dieser Bau wunderschön und gesammelt und würdevoll. Der Film hat keine Handlung, er dauert zwei und eine halbe Stunde und doch war ich keine Minute lang müde. Ich kann sagen: Ich war bei den Karthäusermönchen. Zwei und eine halbe Stunde Stille in einer Kirche, die sonst nur still ist, wenn keine Menschen darin sind. Die wohltuende Stille, die dem Sturm und dem Beben und dem Kriegslärm draußen in und vor der Stadt folgt.

Der Gesang der Benediktiner
In der Erlöserkirche saß abends auch der Abt der Benediktinerabtei. Auch er sah sich diesen Film über die Karthäuser in dem Kloster in den französischen Alpen an. Die Benediktiner halten ihrerseits in Jerusalem den Ort, an dem Jesus, der Überlieferung nach natürlich, mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl gehalten hat.
Am nächsten Morgen – es war so früh, dass ich den fast einstündigen Weg zu Fuß laufen musste – war ich dort zur Morgenmesse. Danach waren wir zum Frühstück eingeladen. Es gab Hefekranz, den ein österreichischer Franziskaner, ebenfalls zu Besuch, mitgebracht hatte. Und nun kann ich sagen: Ich war auch bei diesen streng gewandeten heiligen Männern, den Benediktinern, zuhause. Sofort war ich mit ihnen mitten in der Messe, die ich diesmal verstand, weil sie ja auf Deutsch gesungen wurde und sich wenig von unserem eigenen Abendmahlsgottesdienst unterscheidet. Und da es einen Zettel mit Ablauf und Texten gab, konnte ich auch mitsingen. Wie viel habe ich hier und da in meinem Leben schon von Benediktinern gehört, ihre Kirchen besichtigt, auf ihren Wiesen gezeltet. Aber hier konnte ich mich auf die Spiritualität ihrer Feier einlassen.
An der Stelle muss ich wieder sagen, dass ich doch die ganze Woche, die vor dieser Morgenvesper lag, in verschiedenen Veranstaltungen mit Palästinensern oder kritischen Israelis verbracht, dass ich fünf Tage lang intensiv der 40-jährigen Besatzung Palästinas gedacht hatte, dass ich im Flüchtlingslager, an den Kontrollpunkten, im Gerichtssaal und in den Bussen war, die mitten in Jerusalem angehalten und einer rüden Ausweiskontrolle unterzogen werden. Es war eine ganz und gar politische Woche gewesen. Aber hier saß ich in einer Feier, die darauf mit keinem Wort einging. Es sei denn, man nimmt die alten Psalmen und Bibelworte ernst und vertraut darauf, dass sie auch in dieser Situation aktuell sind, ohne dass jemand das auslegen und den Zusammenhang klug nachweisen muss. Die Benediktiner sind stolz auf ihre alte Tradition, sie nehmen diese Feier mit großer Gelassenheit wahr, sie singen schön, sie bewegen sich würdevoll.
Beim Friedensgruß und beim Abendmahl gibt der Abt den Gruß und die Sakramente an zwei der Mönche weiter, die sie ihrerseits den nächsten geben, einer nach links und einer nach rechts, bis jeder ihn empfangen und weitergegeben hat. So wird vielleicht die Idee dargestellt, dass Gott sich den Menschen vermittelt, von Mensch zu Mensch, aber auch von Generation zu Generation. Aber die Bewegungen sind gelöst und getragen, Hast und Ängstlichkeit oder andere Anstrengung bleibt außen vor. Es war schön und wieder hatte ich hinterher das Gefühl, dass ich einen Ausflug in eine Sphäre getan hatte, in der Hoffnung und Sehnsucht nach Gerechtigkeit und nach Heil, die in dieser geteilten Stadt so offensichtlich nicht wachsen können, eine Nische des Überlebens finden.
Tja – es war wohltuend, warum will ich mich da rechtfertigen.

Mehr Begegnungen will ich nicht erzählen. Sonst leidet auch dieser Bericht an der Geschwätzigkeit und an dem Hang, Empfindungen rational filtern zu wollen, wo sie doch auch ohne das ihre Aufgabe erfüllen. Ich war der letzte in der Runde in der Benediktinerabtei, also gebe ich den Friedensgruß aus der Benediktinerabtei jetzt an Dich weiter.

Unheilige Heilige Stadt
Lieber Jürgen, eigentlich wollte ich über die Spannung schreiben, in der ich diese Stadt erlebe. Sie muss ständig ihren alten und überlasteten Titel als heilige Stadt rechtfertigen und ist doch so geprägt vom Unheil seiner Bewohner. Sie könnte ohne diesen Titel viel leichter leben. Auch die Zukunft dieser Stadt im Konfliktfeld der israelisch-palästinensischen Frage wäre leichter zu finden ohne den Anspruch, den derzeit jede Religion – gegen die anderen Religionen – erhebt, dass nämlich Jerusalem ihr und ihr allein gehören muss. Für die ganze Stadt gilt, was in Bethlehem an der Mauer, die das Palästinensergebiet dort gegen Israel abgrenzt, geschrieben steht: Gott ist zu groß für nur eine Religion.
Über die Spannung schreibe ich nun also nicht. Ich bin zu klein dafür. Aber ich finde mich besser darin zurecht, wenn ich von Zeit zu Zeit die heiligen Männer da besuche, wo sie zuhause sind. Ich will diese Besuche immer noch mit Dir gemeinsam machen. Sie sind wie ein Ausflug in ein anderes Land. Unter anderem habe ich bei diesen Besuchen gelernt: Gott will uns verführen und wir wollen uns verführen lassen. Dieser Brief soll Dich verführen, einen Plan für eine Reise nach Jerusalem zu machen, wo das Kamel Touristen verführt, wo es auch zuhause ist.

Das schreibt Dir Dein Freund aus Jerusalem, Gottfried
Jerusalem, 17.06.2007

Sunday, July 01, 2007

Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes

Kein ruhiger Morgen

Die Morgen sind kühl in den Gärten Getsemanes. Die Sonne kommt spät über den Ölberg, da liegt die Altstadt, eng zwischen ihre Mauern gezwängt, schon lange im hellen Licht. Die Kuppel des Felsendoms spiegelt die Morgensonne, bevor sie ihre Hitze über die Hänge hier legen kann. Zwischen den Gärten und Hainen, die die Menschen hier im Respekt vor ihrer Bedeutung für die Christen „Getsemane“ nennen, und den höher gelegenen Klöstern und Kirchen des Ölbergs drängen sich einige wenige Häuser. Sie sind meist hunderte Jahre alt, zum Teil sind sie erneuert, mit Anbauten oder Obergeschossen erweitert. Seitdem Israel diesen Teil Jerusalems annektiert hat, sind alle diese Baumaßnahmen illegal. Diese Stadtplanung ist neu. Die Familien dagegen leben hier seit Jahrhunderten… Aber bleiben wir bei diesem Morgen.
Es ist der 19. Juni. Said und Amira Mu’aket sitzen auf ihrer Terrasse. Sie trinken ein Glas Tee. Die Tauben gurren, Kolibris schwirren durch die Baumkronen, Zikaden stimmen den Sommertag ein. Und dann setzt dieser kurze Augenblick der unnatürlichen Stille ein, in dem Vögel und Zikaden und sogar der Wind in den Baumkronen schweigen. In die Stille hinein hört man das das Brummen von schweren Motoren, es weht den Hang herüber.
Wenige Minuten später ist die Vorhut der Militärjeeps überall, ist das Haus, das Grundstück, der Hang von 250 Soldaten umstellt und dröhnen die schweren Abrissbagger den Feldweg zum Haus herauf.
Said Mu’aket hat drei Söhne. Für alle hat er ein Haus gebaut. Die drei bescheidenen Häuser stehen im Rohbau aneinander gereiht etwas abseits vom Wohnhaus, in dem bis jetzt die große Familie zusammengedrängt lebt. Drei Generationen leben hier, es ist ein altes und kleines Haus, viel zu eng für die Familie. Und weil darin für eine weitere Familie kein Platz war, konnte einer der drei Söhne bisher nicht heiraten. Er ist es vor allem, der den Bau betrieben hat. Aber hier sind jetzt die Baufahrzeuge und die Arbeiter, die die drei flachen Reihenhäuser abreißen sollen. Vor allem sind hier die Soldaten, die das Gelände weiträumig abgesperrt haben. Kein Nachbar, kein Rechtsanwalt, kein Pressefotograf kommt bis zum Haus. Telefonleitung, Wasser und Strom werden als erstes gekappt. Über Handy kriegen die Söhne Anweisung von ihrem Rechtsanwalt, nach dem Abrissbefehl zu fragen, weil die Familie keine Vorwarnung erhalten hat. Aber der israelische Offizier verhöhnt die Männer. Der Vater, über siebzig Jahre alt, Professor für Sozialwissenschaften, sagt, das könnt Ihr doch nicht machen, zeigt erst den Befehl vor, ich will die Anweisung sehen. Der Offizier lacht ihn aus, „wenn du sehen willst, was wir machen, stell dich ans Fenster und schau zu! Dann kannst du sehen, was wir machen können“. Und da steht dann wirklich die Familie hinter dem Fenster, von Soldaten bewacht und sieht zu, wie ihre Häuser zertrümmert und Hof und Garten verwüstet werden.
Die Familie ist ins Haus gedrängt. Die Abrissarbeiten beginnen ohne Verzug. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Die ganze Geschichte erfahre ich erst, als ich mittags komme und das Unglück der Familie mit meinen Augen sehe, und nach einer Woche wieder und ein drittes Mal komme.

Eine jüdische Siedlung im Palästinenserland

An diesem Morgen, dem 19. Juni, sitze ich im Bus. Wir fahren über Land, auf schönen Straßen, die für Palästinenser nicht zugelassen sind. Wir fahren zu einer Siedlung. Juden haben hier mitten im Palästinenserland eine schöne Wohnsiedlung gebaut. Wir fahren nach Teko’a, um mit diesen fanatischen Siedlern zu sprechen. Das gehört zum Programm: Direkt und ungefiltert sollen wir aus dem Mund dieser Leute erfahren, warum sie nach Israel gekommen sind, warum sie nicht zufrieden waren, in Israel zu leben, warum sie hier einen weiteren Vorposten besetzt haben, der das Palästinenserland zerstückeln wird; warum sie ganz Palästina zu jüdischem Land machen wollen. „Judaisierung Palästinas“ heißt das Programm, und die Westbank heißt nicht Westbank oder Besetztes Territorium oder einfach Palästina, sondern „Judäa und Samaria“, wie zuletzt vor zweitausend Jahren. Wir wissen, es wird nicht leicht sein, diesen Leuten nur zuzuhören und zu akzeptieren, was ihr Gedankengebäude ist und welches ihre Gefühle bei diesem langfristigen Werk des Landraubes sind. Wir sehen schon die roten Dächer, die typisch für die jüdischen Siedlungen im Palästinenserland sind. Da klingeln die Telefone. Zeitgleich greifen Tina, Tlago und ich in die Westentasche, in der die Mobiltelefone stecken. Die schriftliche Nachricht heißt: “House demolition on Mount of Olive, family needs support”. Wir wären jetzt gerne in Jerusalem, aber das Programm für diese ganze Woche hat uns aus unserer Arbeit heraus genommen. Keine Chance.
Wir laufen stattdessen durch eine schöne Siedlung, Bäume, Büsche, Blumen, alles wächst – weil Wasser da ist. Später erklärt uns eine der Frauen stolz, wie sie Geld investiert hätten, um mit einer Tiefenbohrung Wasser aus dem Bergaquifer herauf zu pumpen. Und das ist einer der vielen Vorteile, die die Siedlungen vor den palästinensischen Dörfern der Umgebung haben: Palästinenser dürfen nicht tiefer als 60 Meter gehen, um an Wasser zu gelangen, was hier oben in den Bergen natürlich nicht ausreicht. Israelis dürfen dagegen das Wasser aus einigen hundert Metern Tiefe schöpfen. Wir sehen also diese schöne Siedlung, Gärten um die Häuser, die die Regierung gebaut hat und in der Ferne die palästinensischen Dörfer, arm wie das trockene Bergland ringsum. Und sehen vor unserem inneren Auge Bilder von Hauszerstörungen, wie wir sie bei früheren Gelegenheiten gesehen haben.
Trümmer, wo ein Neubau stand

Mittags sind wir zurück in Jerusalem. Ich fahre auf den Ölberg und suche nach dem Haus. Am Schluss muss ich nach dem Augenschein gehen: Wo liegt Staub auf den Bäumen und wo sind Trümmer zu sehen. Eine alte Frau kämpft sich durch den zerstörten Fußweg, über dem Bauschutt liegt. Ich kann sie nicht ansprechen, ihr nicht die Hand geben, das wäre ungehörig. Offensichtlich ist sie eine Nachbarin der betroffenen Familie. Ich gehe langsamer und warte auf ein Zeichen von ihr, ob sie Hilfe braucht. Sie schüttelt den Kopf und das kann beides bedeuten, ich will keine Hilfe oder: das hier ist unglaublich. Ein schlichtes Gusseisengitter hängt in beschädigten Torpfosten. Was immer hier als Einfriedung gedient hat, ist nicht mehr da. Trümmer in einer Reihe von fast 30 Meter säumen die alte Mauer, hinter der ein Klostergarten liegt. Große Brocken Beton liegen übereinander, eine ganze Wand ist mitten im Fall schräg stehen geblieben, Pfosten und überall die Stahlstreben, bloß und gekrümmt oder anklagend in den Himmel weisend. Vor dem alten Haus im Hintergrund ist ein überwachsenes Dach, einige Bäume, Oliven und niedrige Fichten schaffen eine schattige Terrasse. Dort steht und erwartet mich ein alter Mann, der unglückliche Besitzer des zerstörten Anwesens. Zwei Presseleute machen Aufnahmen. Ein gut gekleideter Mann, offensichtlich Rechtsanwalt, verabschiedet sich gerade. Drei Frauen sitzen unter dem Dach von wildem Wein. Jenseits von ihnen tut sich eine wunderbare Sicht auf die tiefer gelegene Altstadt von Jerusalem auf. Ich spreche mit Herrn Said Mu’aket und erfahre in Umrissen, was vorgegangen ist. Ich will aber nicht lange stören, das Entsetzen liegt noch auf den Gesichtern, der Staub verdeckt die Brillengläser von Herrn Mu’aket. Ich mache einige Fotos und verabschiede mich. Ich soll wieder kommen und die Fotos bringen, bittet Herr Mu’aket.
Hausabrisse in Ostjerusalem

Eine Woche später komme ich wieder, Tina, meine Kollegin und Peter, ein Gast unseres Programms sind bei mir. Herr Mu’aket erkennt mich und bittet uns herein. Wir tragen die Gartenstühle unter das grüne Dach vor das Mäuerchen, unter dem sich der herrliche Blick auf das alte Jerusalem auftut. Wir sehen Teile vom Garten Getsemane und vom Kidrontal. Ich gebe ihm die Fotos, die ich mitgebracht habe, sie sind immerhin unsere Eintrittskarte für diesen Besuch. Und dann hören wir die unglaubliche Geschichte von dem Abriss. Eines ist die Zerstörung des Hauses, der riesige finanzielle Schaden für die Familie. Ein anderes sind die Umstände, die diesen Abriss begleitet haben, die Demütigungen. Und ein drittes ist der Zusammenhang, in dem dieser Abriss steht, der dem „demographischen Faktor“ geschuldet ist, der Tatsache, dass aus Sicht des israelischen Staates „zu viele Araber“ in Ostjerusalem leben. Mit der Umwidmung von Land in Grünflächen, für die Armee und für städtische Verwaltung und Straßenbau vorbehaltene und andere gesperrte Flächen stagniert praktisch jeglicher Neu- und Ausbau von vorhandenen Häusern. Herr Mu’aket erklärt mir die Zusammenhänge. Sein Fazit ist: Sie lassen uns keine Ruhe.
Wir erfahren die Geschichte einer Familie, die in der alten Tradition gelebt hat. Der Vater unseres Gastgebers hatte mehrere Frauen – seine eigene Frau, Amira, etwa 65 Jahre alt, lacht bei dieser Erzählung – und für jede Frau und ihre Kinder ein Haus. Aber Haus um Haus hat er verloren; er hat das noch erlebt, der Familiengründer: 1947 wurde ein Haus in Westjerusalem konfisziert; dort leben jetzt jüdische Familien, die keine Ahnung von der Geschichte der palästinensischen Besitzer haben. Und 1967 hat sich das wiederholt mit zwei Häusern im eroberten und annektierten Ostjerusalem. Ein Haus steht in der Altstadt, im muslimischen Viertel, ist aber enteignet. Israelische Fahnen hängen aus den Fenstern. Und nun dieses Haus hier. Man sammelt Schulden über unserem Haupt, erklärt der Mann, bis wir eines Tages mit einer Summe konfrontiert werden, die den Verkauf dieses Hauses hier erzwingt. Dann sind wir obdachlos.
Er spricht ruhig. Kein Hass klingt aus seinen Worten. Aber die Fassungslosigkeit liegt wie ein Vorhang über seinem Blick, über seiner Rede und über unserem Gespräch. Er beschreibt die gezielten Demütigungen, das Verhalten des Offiziers, eines Menschen, der seine Menschlichkeit abgelegt hat für dieses Geschäft. Er schluckt, er übergeht die Soldaten, von denen werde ich erst im dritten Gespräch mit dem Sohn erfahren. Said und Amira Mu’aket sind vor allem von der Unmenschlichkeit der Israelis – sie sagen „Juden“ – erschüttert. Warum! fragen sie. Warum behandeln sie uns schlechter als Tiere? Warum hassen sie uns? Was macht ihnen denn solche Angst? Und er erzählt, wie sie sie hier früher nebeneinander gelebt haben, Muslime, Christen, Juden, Ausländer. Friedlich, mit gegenseitigem Respekt, es war ein buntes Leben, sagt er und erzählt von seiner Kindheit. Das war die Zeit vor der Teilung und der Staatsgründung Israels. Aber jetzt? Warum müssen sie uns denn vertreiben? Und wohin?
Wir fragen nach den Schulden, die gegen ihn angesammelt werden. Seht ihr, sagt er, so wie sie mir keine Abrissorder geschickt haben, teilen sie mir nicht mit, wie hoch die Steuer auf mein Land ist und wie ich sie bezahlen soll. Eines Tages werden sie mir eine unglaublich hohe Summe nennen… und er erzählt die Geschichte eines Nachbarn. Sie wollen nicht die Steuer, sie wollen das Grundstück, schließt er. Und vorher geben sie keine Ruhe. Was für Schulden er denn schon hat, will ich wissen. Na ja, sagt er, seit letzter Woche sind 82.000 Schekel (ca. 15.000 €) dazu gekommen, das ist die Rechnung für den Hausabriss. Den Hausabriss müssen Sie bezahlen? rufe ich aus. Ja, muss ich, kann ich aber nicht, ist seine schlichte Antwort. Aber sie werden uns keine Ruhe lassen.
Zwischendrin ist ein Anruf von einem der Söhne gekommen. Frau Mu’aket spricht mit ihm. Sie reicht mir das Telefon. Der Sohn, Yussuf, ist beunruhigt. Er weiß nicht, wer wir sind. Er sieht es nicht gern, wenn Fremde, gerade jetzt in dieser Situation, im Haus auftauchen, wenn die Eltern allein sind. Er spricht gut Englisch und ich kann ihm erklären, wer wir sind. Ich biete ihm an, abends wieder zu kommen. Ja, das wäre ihm sehr recht. Also verabreden wir, dass ich abends wiederkomme. Wir verabschieden uns von den beiden Alten.
Die Ruhe Gottes finden
Der Satz von der Ruhe geht mir nicht aus dem Sinn. Immer wieder hat er ihn gesagt, Said Mu’aket, aus der angesehenen Altjerusalemer Familie: „Sie geben uns keine Ruhe“. Das Wort aus dem Hebräerbrief drängt sich mir auf, das vor einigen Wochen mit dem Kirchentagsthema in mein Bewusstsein gespült worden war: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes“. Dort predigt der Bischof einer jüdisch-christlichen Gemeinde, dass sie eine gute Chance auf Vergebung hat, auf einen Neubeginn ihrer Geschichte mit Gott. Und „die Ruhe Gottes“ ist das Bild für ein gutes Ende einer bösen Zeit. So wie Gott am siebenten Tag ruht, weil er das Chaos in eine gute Schöpfung umgewandelt hat, so wird das Volk Gottes seine Ruhe bei Gott finden – wenn es nur seinen Ungehorsam bezwingt. Der Bischof – wie ich mal vereinfachend sage – dringt in die Hörer oder Leser seiner Schrift, dass sie doch vom Ungehorsam zum Gehorsam finden. Er setzt sich dabei mit Psalmen und mit Worten aus den Büchern Mose auseinander. Mich fasziniert in diesem Zusammenhang, das wir heute entscheiden müssen, wer das Volk Gottes ist und wie wir einen Weg zu diesem Verhalten finden, das im Hebräerbrief mit „Gehorsam“ bezeichnet wird. Hier in Jerusalem ist es ganz offensichtlich, dass es keinen Sinn hat, ein Volk Gottes gegen andere Völker zu definieren oder Ungehorsam bei einem der beiden Völker und Unschuld bei dem anderen zu suchen. Erst wenn wir uns als Menschen verstehen, die von Gott gleich geliebt werden und von denen er partnerschaftlich Verantwortung für diese Welt erwartet, kann es zu dem kommen, was wir hier brauchen: gegenseitigen Respekt und Zutrauen in den Nachbarn und Partner. Wäre nicht das der Weg, um Ruhe zu finden für die Völker, die hier in Palästina und Israel leben?
Man kann das alles sehr viel einfacher sagen. Man braucht nicht den Weg über die Bibel zu gehen. Aber immerhin hat Said Mu’aket in dem Gespräch gesagt, was ich von vielen anderen Muslimen auch gehört habe: Haben die denn keinen Respekt vor Gott? Und darum denke ich, mein Nachdenken als Christ, wie wir hier zueinander finden, ist wichtig. Darum frage ich mich, wie wir eine Ruhe finden, in der Gottes Schöpfung als Sieg über das Chaos erkannt wird. Und will wissen, wie auch die Nutzung dieses wilden schönen Landes die Menschen verbindet und nicht gegeneinander aufbringt.


Ruinen und schöne Aussicht

Am Abend bin ich wieder drüben am Hang über dem Garten Getsemane. Tina, Tlago und Peter haben ein anderes Programm. Aber der Sohn, Yussuf Mu’aket hat mich ohnehin als den Repräsentanten der Gruppe ausgemacht. Und ich komme gern. Said und Amira strahlen, als sie mich sehen. Jetzt bist du zum dritten Mal hier, sagt der alte Herr, jetzt steht dir das Haus offen. Yussuf verdreht die Augen in Panik: Das ist genau der Punkt. Er hat Angst, dass jetzt die Geier kommen und Kaufangebote machen. Er drängt mich ab. Wir sitzen ein Stück von dem romantischen Plätzchen mit der Aussicht auf Kidrontal und die Stadt entfernt. Solange ich stehe, kann ich sie sehen, Al Quds, die Heilige. Das letzte Abendlicht wird auf der goldenen Kuppel des Felsendoms gesammelt. Der Himmel im Westen ist hell. Die Skyline des modernen Jerusalem zeichnet sich ab, grau und im Dunst eines heißen staubigen Tages. Über uns zeigt sich der Abendstern. Gleich werden die Muezzin zum Gebet rufen.
Ein Teller mit Scheiben von Wassermelone ist für mich vorbereitet. Ein Hockerchen steht zwischen uns. Später kommt ein Kaffee. Yussuf ist höflich, zu höflich. Er erzählt, was sich an jenem Morgen wirklich zugetragen hat. Und ich hatte ja auf dem Herweg oben auf dem offenen Platz Bekannte getroffen, die wissen wollten, wohin und woher. Und die hatten das Wort von „krankenhausreif geschlagen“ fallen lassen. Yussuf will mir die Einzelheiten erzählen, die sein Vater ausgelassen hat. Aber immer wieder wird er aggressiv, greift mich an, weil wir Europäer die Juden herüber geschickt haben; weil ich hier meine schöne Geschichte zusammensuche, während er mit den Trümmern seines Lebens weiterleben muss; weil ich nachhause fahre zu meiner Familie, während er keine Wohnung hat und keine Familie gründen kann. Ich verstehe seine Frustration und biete an, ob es ihm besser geht, wenn ich mich verabschiede. Aber das ist ihm furchtbar peinlich. Nein, er kann einfach seine Gefühle nicht zügeln. Ich frage seinem älteren Bruder und der Geschichte mit dem Krankenhaus.
Die Soldaten haben die Familie ins Haus getrieben, damit sie die Abrissarbeiter bei ihrem Zerstörungswerk nicht stören. Die Kinder durften nicht in den Laden laufen, um Milch zu kaufen. Die Nachbarin, eine polnische Nonne, haben sie rüde verjagt. Sie haben die Kinder angeschrieen. Die Mutter durfte die Kinder nicht beschützen. Sie haben sie ins Haus gestoßen. Sie ist auf den Steinfußboden aufgeschlagen. Das ist ungeheuerlich, das tut man keiner Frau an. Die Brüder haben sich vor die Mutter gestellt und die Soldaten zur Ordnung gerufen. Da haben sie zugeschlagen. Der Jüngere hatte Glück, er ist mit blauen Striemen über den Rücken gut weggekommen. Der Ältere wurde mit Handfesseln abgeführt, in den Olivenhain unten am Hang geführt und dort zusammen geschlagen, bewusstlos. Die Familie musste einen Krankenwagen rufen. Im Krankenhaus wurde er geröntgt und behandelt. anschließend musste er zum Zahnarzt, aber der konnte den ausgeschlagenen Zahn nicht retten. Die Rechnungen für Krankenwagen, Krankenhaus und Zahnbehandlung liegen schon auf dem Tisch.
Olivenbäume und Taube

Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Haus, sagt Yussuf, gut, das ist ein Ding. Das zerstören sie. Sie haben ein Gesetz und nach dem Gesetz handeln sie. Ein schlimmes Gesetz. Aber einen Baum umzubringen! Was ist mit dem Baum? Komm, ich zeig es dir. Und Yussuf führt mich in den Hof, wo ein alter Ölbaum zertrümmert liegt. Der Führer des Bulldozers, der die Bitte, doch etwas sorgsamer zu Werke zu gehen, nicht gut aufnehmen konnte, griff mit seinem Greifer eine Zwischendecke, hob sie hinüber in den Hof, in dessen Mitte ein wunderschöner uralter Ölbaum stand. Und ließ den großen Beton auf den alten Baum fallen. Der Baum ist bis zur Wurzel zertrümmert. Für Palästinenser ist das ein ungeheuerlicher Frevel. Bäume, Pflanzen, Blumen sind Leben, von Gott geschaffen, Grundlage menschlichen Lebens. Und ein Ölbaum noch mehr: Von ihm leben Familien, Generationen, eine nach der andern ernährt er sie. Wie kann man einen Ölbaum so ohne Not, so frevelhaft, so gottlos umbringen?!
Jetzt ist Yussuf in Fahrt. Siehst du die Tauben dort? Natürlich sehe ich sie, in einer Voliere tänzeln sie, kleine weiße Tauben. Ein Soldat hat aus Langeweile mit Betonbrocken auf die Tauben geworfen. Und? Ist was passiert? Ja, er hat zwei umgebracht. Er hat einfach so die Tauben umgebracht? Ja, er hat vielleicht gehofft, dass wir ihm dabei zusehen. Das ist ja furchtbar. Ich kann mir die Gedanken und Empfindungen eines Soldaten, der Abrissarbeiten absichert und dabei Tauben umbringt, nicht vorstellen. Das ist noch nicht alles, fährt Yussuf fort und schreit jetzt: Ein Soldat hat sich hier vor unserem Fenster, wo die Kinder standen, hingestellt und hat in diesen Blumentopf hier gepisst.
Ich stelle keine Fragen mehr. Und ich vermeide auch die Situation, in der Yussuf laut wird, obwohl ich auch glaube, es tut ihm gut, das herauszuschreien. Er stellt sich vor den Blumentopf und hält die Hand vor den Hosenschlitz, streckt den Unterleib vor und macht das Geräusch. Dann bricht er ab und dreht sich weg. Ich setze mich auf den Stuhl. Er kommt schweigend dazu.
Der Garten Getsemane - ein Ort der Ruhe?

Die Familie, die zu Besuch gekommen ist, sitzt und redet leise. Manchmal höre ich sogar Lachen. Über sie hinweg kann ich jetzt das hell erleuchtete Jerusalem sehen, die Altstadt, dahinter die Höhen von Westjerusalem und auch einige der Hänge, die zu Ostjerusalem gehören. Es ist wunderschön: die Familie, die im Kreis zusammensitzt, selbst jetzt noch im Schatten vor dem Mond, der hell hinter uns aufgegangen ist; die Terrasse mit diesem faszinierend schönen Blick hinunter auf diese Stadt. Al Quds, die Heilige, mit ihrem neuen Namen, mit ihrem alten Namen Jeruschalajim. Es ist ein schönes Anwesen, eines von dem man sagt: Das schönste, das ich kenne. Wenn ich in Jerusalem leben müsste, hier über dem Garten Getsemane, mit diesem Blick, wäre es am schönsten.
Ich verabschiede mich. Die Mutter schaut prüfend auf mich und auf ihren Sohn, sie kennt ihn. Ich bedanke mich. Said, der Vater, bedankt sich. Ich gehe, aber ich schaue nicht nach links, wo die Trümmer im Mondlicht leuchten. Ich gehe behutsam über den zerstörten Fußweg, durch die Gittertür zwischen verlorenen Torpfosten, die keine Umfriedung mehr bewachen. Hinter mir, das leise Gespräch zwischen Besuchern und Besuchten setzt sich fort. Ich halte meinen Blick nach rechts, wo der eigentliche Garten Getsemane liegt. Davor ist das Haus von Muhamed. Er pflegt den Garten. Und er erzählt auf Deutsch die Geschichte von Jesus: „Als er hier hoch gelaufen war, siehst du, wo mein Finger zeigt, und an meinem Haus angekommen war, hat er beschlossen, er wollte Ruhe halten, in dem Garten…“