Samuel steht jeden Morgen um zwei Uhr auf und geht zum Kontrollpunkt, zum Grenzübergang zwischen Bethlehem und Jerusalem. Er will unbedingt unter den ersten sein wenn das Tor geöffnet wird. Wenn er kommt, sitzen schon ein halbes Dutzend oder mehr Männer vor dem Eingang der Kontrollanlage. Sie haben sich Kartons mitgebracht, zum Teil neben den Müllbehältern aufgelesen, darauf sitzen sie, zwei von ihnen haben sich auf Pappe gelegt und mit Pappe zugedeckt, es sieht aus wie ein Pappsarg. Darunter schlafen sie. Aber sie werden unter den ersten sein, die um fünf Uhr in die Kontrollanlage eingelassen werden. Es ist ruhig um diese
Samuel
Samuel wohnt in einem Dorf nahe bei Herodion, südöstlich von Bethlehem. Es ist zu weit, um jeden Tag mit dem Taxi zu fahren, viel zu früh für eine Buslinie. So schläft Samuel bei einem Bruder in Bethlehem und läuft jede Nacht zum Kontrollpunkt. Seine Familie sieht er, wenn es gut geht, nur am Wochenende. Er hat keine feste Arbeit. Er muss sich an die große Kreuzung in die Gilo-Siedlung stellen und warten, ob ihn jemand für den Tag anheuert. Wie lange steht er dort? Bis 9 Uhr, danach hat er keine Chance mehr, angeheuert zu werden. Und dann fährt er auch nicht gern nach Hause, weil er der Familie kein Geld und nichts zu essen bringen kann. Hat er eine Arbeitserlaubnis? Ja, aber die läuft am Ende der Woche ab. Danach, hofft er, kriegt er eine neue, beantragt ist sie schon; aber es wird schwer, weil er keinen festen Arbeitsplatz hat. Samuel hat drei Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen. Der Junge bereitet sich auf die Oberschule vor. Wenn er es schafft, kann die Familie in einigen Jahren auf ein besseres Einkommen hoffen.
Die Frauen
Samuel ist sicher nicht allein mit dieser Geschichte. Aber er kann Englisch und kann uns deshalb seine Geschichte erzählen. Unterdessen ist es 3 Uhr 25 und die ersten Frauen kommen durch die Gitterschleuse zum Eingang. Sie setzen sich innerhalb der Mauer, in den kleinen Raum, der zwischen Mauer und dem ersten Durchgang liegt. Hier wird später der Wind noch kräftiger wehen, aber Frauen halten sich in der Regel von Männern getrennt auf. Sie kommen jetzt schon, weil sie später kaum eine Chance haben, sich durch die Reihen der Männer zu schlängeln, die dann dicht gedrängt in dem etwa einen Meter breiten Gang stehen. Frauen müssen vorgelassen werden, sie dürfen nicht in eine Situation gebracht werden, wo Männer sie berühren. Na – und das ist in diesem Kontrollpunkt schwer durchzusetzen. Gegen vier
Wir stehen auf der Bethlehemer Seite der Mauer. Auch hier ist das Schleusengitter etwas verbreitert und bisher ist es auch hier ruhig. Unten, wo der Gang beginnt und die neutrale Beschilderung „Eingang“ angebracht ist, wird es lauter. Taxis kommen an und die Männer fangen an zu streiten.
Das Morgengebet
Aber ich muss einige Minuten zurückgehen, um von dem Gebet zu erzählen. Schon viertel nach drei Uhr hatte ich einen Mann gesehen, der zwischen den Sitzenden aufgestanden war, um sein Gebet zu beginnen. Später, drei Uhr fünfundfünfzig, mit den Rufen der Muezzin von den nahen Minaretten Bethlehems, stehen alle Männer auf. Sie beginnen das Gebet, jetzt gemeinsam. Sie reinigen symbolisch Augen und Ohren, gehen auf die Knie und beugen sich nach vorn, der schmale Gang erlaubt es nicht, mit der Stirn den Boden zu berühren. Sie verharren, ich höre aus der Mitte des umgitterten Gangs einen Vorbeter singen, dann antworten die Männer, singen gemeinsam. Sie legen die Hände auf die Knie und beugen sich vor, nach Süden, in
Fünf Uhr
Unterdessen ist ein kalter Wind aufgekommen. Der Nachthimmel im Osten zeigt Schwächen, die Sterne werden dort blasser. Wir frieren richtig. Aber wir haben eine Ecke besetzt, zwischen Mauer und der Gittertür, wo das Gedrängel uns nicht erreicht. Die Unruhe und die Kampfstimmung um die vorderen Plätze werden jetzt unerträglich. Wir sehen, dass Samuel vorn an der Dre
Nach zehn Minuten sind auch wir durch die Drehtür gegangen und auf dem Rückweg. Wir müssen diesen ersten Teil der Kontrollanlage hinter uns bringen, um uns gleich hinter der Kabine wieder nach links zu wenden und den Ausgang zu nehmen. Wir laufen den ganzen, von wartenden Männern gefüllten Käfig-Gang, auch hier getrennt durch die zweieinhalb Meter hohen Stahlgitter, hinunter. Viele der Männer, die uns kennen, sehen uns fragend an: Wir haben euch heute gar nicht kommen sehen? Unten begrüßen uns die Händler hinter ihren Tischen oder kleinen Handkarren; einige von ihnen hatten halb drei Uhr morgens schon ihre Stände aufgebaut und uns begrüßt. Jetzt bedanken sie sich und bieten uns Kaffee an, umsonst! Sie erklären den Umstehenden, dass wir schon nachts gekommen seien, weil wir unsere Aufgabe, sie hier moralisch zu unterstützen, so ernst nähmen. Für drei oder fünf Minuten, die wir stehen bleiben und uns unterhalten, auch unsere arabischen Begrüßungsworte hersagen, ist hier eine freundliche, fast euphorische Stimmung.
Nachtrag
Eine Woche später. Die Leiterinnen unseres Programms kritisieren, dass ich keine Fotos von den Männern gemacht habe, die im Käfig schlafen und beten. Für die Dokumentation wäre das wichtig gewesen. Also mache ich mich heute auf Sonntag den 22. Juni 2008, und gehe noch einmal nachts zum Kontrollpunkt. Nach den ersten Fotos hört die Kamera auf und will neue Batterien. Der Kaffeeverkäufer, Ameen, hat Batterien, aber nicht die richtigen. Er hilft mir, einen Taxifahrer zu finden, der mich zu unserer Wohnung und wieder zum Kontrollpunkt fährt. Ich mache meine Fotos, einige Männer wollen nicht fotografiert werden, vor allem nicht beim Gebet. Ich mache einige Fotos von den Schlafenden. Dann unterhalte ich mich unten bei den Händlern. Trinke einen Kaffee, Ameen will kein Geld.
Said
Said verkauft mit seinen zwei Brüdern süßes Gebäck. Er ist 15 Jahre alt, ein bzw. zwei Jahre jünger als seine beiden Brüder. Sein Vater ist schwer krank und kann nicht mehr arbeiten. Said hat die Schule aufgegeben und verkauft jetzt jeden Morgen hier die süßen Stückchen, die seine Mutter bäckt. Ameen unterstützt
Noch einmal: Morgengebet
Kurz vor vier Uhr beten die Männer. Ich mache ein Bild unten auf der Straße, wo ich den Scheich gebeten hatte, fotografieren zu dürfen. Der Scheich ist den ganzen Morgen hier und lädt immer wieder kleine Gruppen von Männern zum Gebet ein; dann sammelt er Geld für die Moschee, die er in seinem Dorf südlich von Hebron bauen will.
Dreiviertel fünf
Meine Kollegen kommen mit dem Gast, einem Quäker aus England. Die Frauen kämpfen sich durch die Gitterschleuse, der Gast ist bald abgehängt. Die Männer machen hinter den beiden Frauen, deren Gegenwart drinnen im Terminal sie schätzen, wieder zu. Der Gast, eher als Tourist eingeschätzt, steckt fest. Von außen lotse ich ihn durch, die Männer kennen mich und machen Platz für den Fremden. Es dauert geschlagene 13 Minuten, bis ich ihn vorne am Eingang bei den beiden Frauen, die unsere Weste tragen, „abliefern“ kann. Wieder unten an der Straße, gibt Ameen mir einen Kräutertee. Alles ist still und friedlich und ich berichte per Handy an Anna oben am Eingang, dass heute ein guter Tag ist, die Männer stehen weit die Straße hinunter, in Viererreihen, diszipliniert und ruhig. Ich stecke das Handy ein. Da bricht ein Sturm los, Geschrei und Gerenne: gut hundert Männer laufen auf den Käfig-Eingang zu, daran vor
Verstört, wie immer nach dieser Frühschicht, verlasse ich diesen ungastlichen Ort. Aber ich kaufe Said 5 süße Stückchen ab, zum Frühstück für das Team und den Gast. Sie sehen aus wie Schoko-Croissants und kosten einen Schekel jedes Stück. Sie machen sich gut auf dem Tisch, weil doch Sonntag ist.
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