Monday, December 04, 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem


Anife – Latife
Für das letzte Stück Weg brauchen wir immer das Telefon. Wir sind an der richtigen Kreuzung aus dem richtigen Bus gestiegen, der richtigen Straße gefolgt und den Hang abwärts gelaufen. Nach 20 Minuten haben wir die Straßensperre mit der Grenzkontrolle erreicht und sie passiert.

Wir sind jetzt im Flüchtlingslager Shu’fat und wissen, dass dies einer der gefährlichsten Orte Jerusalems ist. Wer hat den Kontakt, fragt Brian. Ich hole mein Telefon raus und rufe Diyala an, die Sozialarbeiterin, mit der wir reden wollen. Ihr Telefon ist besetzt. Wir gehen tiefer in das Wohngebiet hinein und versuchen, möglichst sicher zu wirken. Wir tragen unsere Westen mit dem Logo des Ökumenischen Friedensprogramms. Diyala ruft zurück und dirigiert uns. An der besagten Kreuzung, wo der große Gemüseladen ist, will sie uns weitere Weisung geben. Ich halte das Telefon am Ohr und bin schon über die Kreuzung nach links gegangen, Carol ist hinter mir mitten auf der Kreuzung, Kristine und Brian sind am Gemüseladen stehen geblieben. Vor mir bauen sich vier Jugendliche auf. Warum kommen die anderen nicht? Ich wende mich zurück und sehe, dass Kristine von einer Frau mit Kuss auf die Wangen, links und rechts, begrüßt wird. Wen trifft Kristine hier mitten im Flüchtlingslager? Die Frau begrüßt die anderen, Brian mit Handschlag und am Ende auch mich, der zum Gemüseladen zurückgekommen ist. „Sie müssen Gottfried sein“, sagt die Frau. „Dann sind Sie Diyala“, kann ich antworten und das Telefon in die Tasche stecken.

Diyala bringt uns in das Gesundheitszentrum, das von der UN Flüchtlingsbehörde betrieben wird. Hier hat sie ihr Zimmer, hier bietet in dem sie sozial-psychologische Beratung an. Sie führt uns durch das Zentrum, in dem Ärzte und Schwestern ihre Arbeit machen, in viel zu kleinen Räumen, mit zu vielen Patienten, zu früh gealterten Männern und Frauen und Müttern mit Säuglingen. Der Rundgang hat mehr den Zweck, jedem zu zeigen, wer wir sind und zu erklären, was sie mit uns, den Fremden, hier zu tun hat.

Das Flüchtlingslager ist als Zeltstadt 1966 von der Jordanischen Behörde für 17.000 Flüchtlinge bzw. Vertriebene eingerichtet worden. Damals musste ein Stück Innenstadt von Jerusalem aus hygienischen Gründen geschlossen werden. Kein Mensch dachte damals daran, dass das Lager eine Dauereinrichtung mit festen Häusern und der Perspektive für lebenslanges Elend würde. Die Flüchtlinge, genauer gesagt, die Bewohner der zweite Generation haben kleine Häuser vorgefunden, Wohnungen über den kleinen Häusern und allmählich dreistöckige Häuser gebaut. Ein Hausungetüm haben wir besichtigt, in dem sich 17 Wohnungen befinden. Entsprechend sieht die Stadtstruktur im Lager aus: Um zwei Hauptstraßen, in denen auch Autos und Busse fahren, fügen sich Gassen, die manchmal weniger breit als ein Meter sind. Die Infrastruktur in dieser „Stadt“ spottet aller Beschreibung. Müll liegt überall, Kabel hängen planlos von Häuserwänden, die Stadt stinkt. Nachbarn schauen sich über die Gasse in die Wohnungen oder hören einander und werden gehört, auch wo sie lieber ganz unter sich sein wollen. Eine Frau, erzählt Diyala, kommt zu ihr, weil sie mit ihrem Ehemann kein Stück Intimität teilen kann. In den letzten Jahren sind neue Bewohner in das Camp eingedrungen, Leute, die aus Ost-Jerusalem ausgezogen sind, wo das Leben für sie zu teuer geworden ist. Nun ist die Stadt nicht nur unsäglich überfüllt, sondern hat ihre soziale Struktur verloren. Wo sich die Familien vorher kannten, wo soziale Kontrolle und gegenseitige Hilfe funktioniert haben, stellen sich jetzt alle Nachteile einer anonymen Urbanität ein. Die Jugendlichen und die Kinder folgen nicht mehr den tradierten Verhaltensregeln, wo zum Beispiel Frauen und Mädchen auch in der Öffentlichkeit Schutz genießen und nicht einmal angesprochen, geschweige denn berührt werden dürfen. Drogen werden gehandelt und konsumiert.

Während der Intifada ist die Lager-Stadt von Drogen regelrecht überschwemmt worden. Diyala erklärt das als Strategie Israels, das Moral und Gesundheit der Jugendlichen auf diese Weise untergraben wollte. Und sie bot uns im Ernst an, die Straßensperre, an der der einzige Zugang zum Lager kontrolliert wird, zu beobachten. Dann könnten wir mit eigenen Augen sehen und mit Fotos beweisen, dass die Soldaten dort Drogen an Kinder und Jugendliche verkaufen. Es gibt, lautet die Antwort auf meine Frage, keinen Ansprechpartner, keine israelische Behörde im Lager. Die UNO hat ein Selbstverwaltungskomitee organisiert, das aber machtlos ist, besonders wo es um die Kontrolle von Drogenhandel geht. Wir haben uns bei der Militärbehörde beschwert, aber niemand reagiert darauf, sagt sie.

Wir sitzen eng in der Kammer, die Diyala als Beratungszimmer dient. Wir essen von dem Obst und Gemüse, das sie im Laden an der besagten Kreuzung gekauft und das sie dann gewaschen, geschnitten und uns als „Frühstück“ angeboten hat. Bei den Fällen, die sie erwähnt, um die Probleme der Lager-Stadt zu illustrieren, stockt uns der Atem. Am schwersten aber fällt uns der Bericht über den sexuellen Missbrauch auf die Seele, den sie, immer mit Fällen aus ihrer Praxis, gibt. Mädchen und Jungs werden sexuell missbraucht, die Mädchen in den Wohnungen und die Jungs hinter den Bäumen, die unten am Hang, am Lagerrand stehen. Frauen werden geschlagen und Mütter sind nicht in der Lage, ihre Töchter zu schützen.

Diyala nimmt uns mit in die Mädchenschule. Hier gibt sie regelmäßig, einmal die Woche, sexuellen Aufklärungsunterricht. Nicht allgemein, sondern gezielt gegen den Missbrauch dieser Mädchen, die sie hier in der Schule vor sich hat. Wir glauben es kaum, die Direktorin, die wir als erstes in der Schule begrüßen müssen, führt uns – nicht in die fünfte oder sechste, sondern in die erste Klasse.

37 Mädchen im Alter zwischen 6 und 7 Jahren sitzen hier eng in der Klasse. Sie machen die hinteren Bänke frei, damit wir dort sitzen und zuhören können. Zunächst führt die Lehrerin ihren Unterricht fort. Sie benutzt ein Buch und lässt die Kinder eine Seite aufschlagen, auf der eine ländliche Szene mit Bäumen und Tieren dargestellt ist. Sie fragt offensichtlich: Wie viele Pferde, wie viele Hasen seht ihr? Und wir üben im Stillen mit und murmeln die richtige Zahl auf Arabisch, falls wir schneller als die Kinder sind. Und suchen in der Zahlenreihe über der Tafel die richtige arabische Ziffer aus, die von einem der Mädchen in das Kästchen an der Tafel eingetragen werden muss. Das ist eigentlich eine sehr schöne Übung für uns und nicht nur mir kommt der Gedanke, dass wir an diesem Unterricht teilnehmen könnten, weil die Lehrerin langsam und deutlich spricht und die Kinder das gemeinsam laut wiederholen, so dass wir die Vokabeln für Pferd und Hase und Hühner und natürlich für eins oder drei oder vier und so weiter lernen könnten.

Die Kinder sind sauber und hübsch angezogen, haben verschiedene sorgfältig gerichtete Frisuren für ihre langen schwarzen Haare und sie können lachen, dass einem das Herz aufgeht. Ihr Anblick ist ein Kontrast zu der Wohnsituation, in der Vernachlässigung und Armut herrschen. Der Blick aus dem Fenster fließt mit den chaotischen Häuserreihen abwärts und weiter die fernen Hügelketten hinab bis in das Jordantal, auch das ein Kontrast zwischen der herben Schönheit der Bergwüste und der unwürdigen Ansiedlung von Menschen, die niemand haben will. Die Mittagssonne leuchtet die Szene gnadenlos oder liebevoll oder gleichgültig aus, die Szene eines vergewaltigten Landes.

Die Lehrerin tritt zurück. Diyala übernimmt. Sie hat uns vorher erklärt, dass sie ihren Aufklärungsunterricht heute fortsetzen wird und zwar „über das gute und das böse Streicheln“. Sie zeigt den Kindern Zeichnungen, Kopien, die sie offensichtlich aus einem Buch hat. Es sind Zeichnungen von Mädchen, die sich in verschiedenen Situationen befinden: umarmt vielleicht vom Vater; gezerrt, vielleicht vom Bruder; in Berührung mit verschiedenen Situationen, mit Mutter, Onkel, Fremden. Die Klasse soll entscheiden, ob das Mädchen glücklich oder unglücklich aussieht, ob es sich um eine gute oder eine gefährliche Situation handelt, um eine gute oder eine böse Berührung. Die Mädchen streiten und einigen sich am Ende. „Anife“ (gut), rufen sie im Chor, oder „lanife!“ (schlecht). Diyala bestätigt das Urteil und geht weiter zum nächsten Bild.

Die Mädchen sind hoch konzentriert. Sie melden sich, wenn ein Bild nachgestellt oder gespielt werden soll, aber dann agieren sie scheu und vorsichtig. Die Klasse lacht, wenn das Rollenspiel gelingt und dankt den Akteurinnen mit Klatschen. Wir fühlen uns unwohl und werden die Angst nicht los, dass eine Situation zu dicht gerät. Immerhin sagt die Statistik, dass ein Teil dieser Mädchen von dem Missbrauch, um den es hier geht, bereits betroffen ist. Und tatsächlich steigen immer wieder Schülerinnen aus, legen ihren Kopf auf den Tisch, halten sich die Ohren zu, oder haben den abwesenden Blick. Diyala macht unbeirrt und ohne Verlegenheit zu zeigen weiter. Mit Tempo geht sie zum nächsten Thema: Mädchen im Bad. Hier heißt der Lehrsatz: Nur die Mutter darf mit der Tochter im Bad sein, keine andere Person. Der letzte Teil der, wie wir finden, langen und anspruchsvollen Unterrichtsstunde zielt geradewegs auf Situationen, in denen Mädchen sexuell berührt und belästigt werden. Sie sollen lernen, NEIN! zu sagen. Das ist schwer, weil das der arabisch-muslimischen Kultur widerspricht. Mädchen haben zu gehorchen, Vätern, Brüdern, Onkels, ohne Widerrede. Hier also ein Kulturbruch. Die Lehrerin zeigt Nervosität.
Es war warm geworden im Klassenraum, klar mit über 40 Personen und der Sonne auf den Fenstern. Diyala hatte zwischendurch Fenster und Tür zum Klassenraum geöffnet. Ein frischer Wind ist durch gezogen. Jetzt macht sie beides zu. Die Mädchen sind mucksmäuschenstill. Was hat sie vor? Sie erzählt langsam, offensichtlich malt sie eine Situation aus. Sie fordert die Mädchen auf, wie sie eben gelernt haben, zu reagieren. Also? Und ein 37-stimmiges laut geschrienes „LA!“, NEIN erschüttert den Raum.

Zumindest von uns, den Beobachtern, kann ich zu Protokoll geben, dass wir tief bewegt sind: von der Ernsthaftigkeit der Psychologin und der emotionalen Dichte mit der dieser Unterrichtsstoff von den 6 und 7 Jahre alten Mädchen verhandelt worden ist.

Wir schließen unseren Besuch im Lager von Shu’fat mit einem kleinen Rundgang ab. Wir gehen durch eine der beiden Hauptstraßen und durch einige der kleinen Gassen, die hier vor allem den Hang aufwärts führen. Wir hören den Erklärungen von Diyala zu, über die Geschichte des Lagers und immer wieder über Einzelfälle, die die Lebenssituation hier beschreiben. Als hätte es des Beweises bedurft, werden wir beworfen. Diyala kriegt einen Kiesel an den Hinterkopf, Carols Hose Teile eines rohen Eies und mein Rucksack Eseldung. Kinder, nicht Jugendliche, bewerfen uns. Sie rufen uns hinterher: What is your name? Oder einfach „Fuck you“. Diyala fasst zusammen: Seht ihr, das wollte ich euch sagen, ihr könnt hier nicht allein rum laufen und es wird eine Weile dauern, wenn einer von euch hier arbeitet, bis ihr bekannt seid und akzeptiert. Na ja, denke ich im Stillen, und es wird auch eine Weile dauern, bis wir, was es hier zu verstehen gibt, wirklich verstanden haben. Und akzeptiert. Anife und Latife.

Vorerst läuft unser Tagewerk weiter. Wir sitzen zu dritt im Bus nach Ramallah. Der Bus muss einen weiten Umweg immer östlich von Jerusalem fahren, das heißt in diesem Fall, immer ins Tal hinunter und wieder hinauf. Manchmal kommen wir der Mauer oder dem Zaun näher, dann entfernen wir uns wieder. Einmal habe ich das Gefühl, ich kann Jericho sehen. Die Fahrt beträgt normalerweise fünf Kilometer, aber mit dieser Grenze ist es mindestens das Dreifache. Ich habe das Telefon am Ohr und gebe meinem Kontakt in Ramallah bescheid, dass ich mich verspäten werde. Latife, schlecht.


Jerusalem, am 1. Advent

1 comment:

Anonymous said...

Bush is forever saying that democracies do not invade other countries and start wars. Well, he did just that. He invaded Iraq, started a war, and killed people. What do you think? How does that work in a democracy again? How does being more threatening make us more likeable?Isn't the country with
the most weapons the biggest threat to the rest of the world? When one country is the biggest threat to the rest of the world, isn't that likely to be the most hated country?
Are we safer today than we were before?
We have lost friends and influenced no one. No wonder most of the world thinks we suck. Thanks to what george bush has done to our country during the past three years, we do!