Tuesday, May 29, 2007

Mit den Augen der anderen sehen oder: Wo ich zuhause bin

Am ersten der Tage, an denen unsere Vorgänger uns in die Aufgaben des Jerusalem Teams einweisen sollten, sind wir abends ins Kino gegangen. Kino ist nicht der richtige Ausdruck, Palästinensisches Nationaltheater muss ich sagen. Und es war auch kein Spielfilm, sondern ein Dokumentarfilm über Palästinenser, die 40 Jahre nach ihrer Flucht oder Vertreibung aus Jerusalem in ihre ehemaligen Häuser oder Wohnungen zurückkehren, als Besucher. Wie sie das erleben, wie die neuen Besitzer, die in diesen Häusern oder Wohnungen längst zuhause sind, auf sie reagieren, wie der Zuschauer das nachvollzieht und hinein genommen wird in die Blicke und Erzählungen und Gespräche der alten und neuen Besitzer, das war auf der Leinwand des Nationaltheaters zu sehen und zu hören.
Gestern war ich in einem wunderschönen Konzert, in dem palästinensische Musiker klassische Musik aus Tradition und Moderne gespielt haben. Auch das war in diesem Nationaltheater, diesmal auf der Bühne, zu sehen und zu hören. Wir waren dort, die drei Jerusalemer Freiwilligen aus dem Friedensprogramm, wir haben Bekannte getroffen, Jerusalemer und Leute aus der internationalen Szene. Wir haben die Musik unterschiedlich gehört. Und das hat mich an den Dokumentarfilm vor drei Wochen erinnert.
Vierzig Jahre Flucht und Vertreibung oder Eroberung und Aufbau einer neuen Nation – wie unterschiedlich erleben Palästinenser und Israelis dieses Jahr mit der Erinnerung an die vierzig Jahre, ja, wie muss ich hier sagen, ein neutrales Wort gibt es ja nicht: 40 Jahre Wiedervereinigung, manche sprechen von Befreiung Jerusalems oder 40 Jahre Okkupation, manche sagen: Kolonialismus.


Hausabriss in Ostjerusalem


Es ging in dem Film um Palästinenser, die 1948 oder 1967 das Land verlassen hatten, oder während der Kriege im Ausland waren und danach nie mehr in ihre Heimatstadt Jerusalem zurück gelassen wurden. Ein Israeli hatte einige von ihnen ausfindig gemacht und die heutigen Besitzer oder Bewohner ihrer Häuser bzw. Wohnungen dazu überredet, sie einzuladen und ihnen ein Wiedersehen mit ihrem früheren Zuhause zu ermöglichen. Der Film wurde mit englischen Untertiteln gezeigt. Aber bei den Dialogen, die auf arabisch oder hebräisch geführt wurden, habe ich oft nur auf die Gesichter geachtet und nicht auf den Text. Besonders eindrucksvoll war die folgende Szene: Ein älteres Ehepaar, Palästinenser, die aus Jordanien angereist waren, fand mit großem Erstaunen, dass Lampen und andere Einrichtungsgegenstände noch die gleichen waren, wie zu ihrer Zeit, als das Haus ihnen gehört hatte. Sie saßen beim Tee und redeten vorsichtig und höflich miteinander, Besiegte und Sieger, Vertriebene und neue Bewohner. Der neue Hausherr, der wohl zu schätzen wusste, was für eine geschmackvolle Einrichtung er damals übernommen hatte, zeigte an dieser Stelle eine Art Schrecksekunde, in der er still war. Dann sah er sich erneut im Wohnzimmer um, als sehe er alles zum ersten Mal. Schließlich fand er seine Sprache wieder und er fragte seinen Gast, dann sei das jetzt für ihn sicher ein ganz schmerzliches Wiedersehen mit seiner Kindheit und Jugend. Ja, sagte der, und hatte Tränen in den Augen. Der Blick des neuen Besitzers, der 4 Jahrzehnte lang ohne viele Gedanken an die Bewohner und Eigentümer dieses Haus bewohnt hatte, erkannte mit einem Mal die befremdliche Situation: Hier war ein weiteres Ehepaar, das dieses Haus als ihr Zuhause ansah. In den Augen der beiden Palästinenser dagegen war Schmerz, Verlust und Demütigung zu sehen, neben der kleinen Genugtuung, dass ihre kostbare Einrichtung geehrt und gepflegt worden war.
Beide Augenpaare verrieten etwas von der Widersinnigkeit des Kampfes um dieses Land Palästina/Israel: Es ist das Zuhause zweier Völker. Die Palästinenser haben die Vergangenheit auf ihrer Seite, die Israelis die Macht.
Der Film zeigte viel von der Ausweglosigkeit, in der Menschen sich begegnen konnten, ohne das geschehene Unrecht zu leugnen oder einzuklagen.
Groß war die Trauer, die in den Augen der Verlierer ihrer Vergangenheit stand.
Schön war in diesem Film, dass die Wahrheit sichtbar werden konnt, auch wenn keine Lösung in Sicht war.
Nachlese 1: Ich war mit Tlago im Film, der Freiwilligen aus Südafrika. Ich erzählte ihr von dem Buch, das ich gerade verschenkt hatte und selber lesen wollte, das genau von diesem Moment der Erkenntnis ausgeht. Angelika Schrobsdorff („Jerusalem war immer eine schwere Adresse“) fängt ihre Erzählung der Zeit des Palästinenseraufstandes damit an, dass sie erkennt, dass das Haus, in dem sie in Jerusalem wohnt, vertriebenen Palästinensern gehört. Sie ist mit ihren Eltern aus Deutschland vertrieben worden, das Haus ihrer Kindheit ist damals von Deutschen in Besitz genommen worden, Nutznießern des Faschismus. Die Erkenntnis öffnet ihr die Augen für die beklemmende Situation ihrer neuen Heimat. Im Film war eine ähnliche Szene gezeigt worden, wo ein altes Ehepaar offensichtlich aus Deutschland kommend, damals glücklich in das Haus gezogen war, ohne zu ahnen, warum die Besitzer verschwunden waren. Wir sind enteignet und vertrieben worden, sagt der Palästinenser. Aber sie haben doch eine Wiedergutmachung erhalten, sagt die Frau, die dem Faschismus in Deutschland entkommen ist. Nein, sagt der Palästinenser, anders als sie haben wir keine Entschädigung bekommen.
Wir laufen während dieses Nachgespräches durch die Altstadt von Jerusalem. Es ist dunkel. Die Läden sind längst geschlossen. Die Gassen leer. Wir reden leise, weil man das Gefühl hat, dass die ganze Altstadt schläft.
Nachtrag 2: Tlago hat mir mit Ungeduld zugehört. Ihre Eltern sind auch vertrieben worden, in den 50iger Jahren aus Johannesburg, in die Townships von Soweto raus. Ich frage nach, wie weit die Verhandlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission gekommen ist, bei denen es um die Entschädigung der Apartheidsopfer gehen sollte. Gar nicht weiter, sagt Tlago. Und erzählt von einer Gruppe junger Schwarzer, die sich organisiert haben, um mehr Druck auf die Regierung zu machen und Entschädigungen einzuklagen. Und die sind verhaftet und verklagt worden, bricht es aus ihr heraus. Was?! Von der Regierung des Neuen Südafrika. Ja, sagt sie, genau von der. Und im Vergleich zu der Situation, die im Film gezeigt worden war, fügt sie hinzu: Unser Land gehört uns immer noch nicht.



Lifta, ein palästinensisches Dorf, aus dem die Bewohner 1947 vertrieben worden sind. Die Häuser sind immer noch ihr Eigentum, aber sie dürfen nicht nach Jerusalem kommen, schon gar nicht hier wohnen


Mit meinen Augen möchte ich für Palästina/Israel eine baldige Lösung des Streites um dieses Land sehen; ich bin ungeduldig. Tlago sieht einen langen Weg für die Palästinenser, die mehr verloren haben, als man ihnen kurzerhand wiedergeben könnte; bei ihr überwiegt der Zorn.

No comments: