Sunday, June 17, 2007

Es ist EIN Gott

Sonntag, 17. Juni 2007, ich höre den Wind in der Kiefer vor meinem Fenster, das Hupen eines Autos und Vögel singen. Um ruhig zu werden, muss ich die Lautsprecherrufe von den Moscheen, die am frühen Morgen, gegen vier Uhr zum Gebet rufen und die Glocken der Kirchen hier oben auf dem Ölberg und die Rufe der Nachbarn im Gästehaus, die an meinem Fenster vorbei in ihren Tag gegangen sind, aus meinem Speicher löschen. Die Nachrichten, die von Nachrichtenagenturen, Fernsehsendern und andere Websites über den Laptop zu mir gekommen sind, ich muss sie aus meinem Sinn verbannen. Wie soll ich sonst ruhig werden, und ruhig werden will ich. Es ist Sonntag, ein Tag, den ich von unserem Friedensprogramm frei genommen habe. Meine beiden Kolleginnen haben auch frei genommen. eine ist zu einem Team im Norden des Palästinensergebietes gefahren. Die andere hat einen Tag in der Wellnesseinrichtung eines großen Hotels gebucht. Mir haben sie das Versprechen abgenommen, nichts zu machen, was zu unserer Arbeit gehört. Und geh nicht in die Kirchen!, haben sie gefordert, weil das unweigerlich zu Gesprächen mit alten oder neuen Bekanntschaften über die Lage im Lande führen würde. Und die freien Tage sollen doch dazu dienen, Abstand davon zu gewinnen. Also sitze ich in meinem Zimmer und versuche, still zu werden.

Die Tageslosung heißt heute – und die darf ich sogar an meinem freien Tag lesen: „Es ist ein Gott und Vater aller, der über allen und bei allen und in allen ist.“ Das ist ein Wort aus dem Brief, den der Missionar Paulus an Menschen im damaligen Kleinasien geschickt hat. Es war sein Versuch, den Menschen, die zwischen vielen Religionen, Sprachen und Kulturen gelebt haben, einen Standort zu zeigen, von dem aus sie freundlichen und feindlich gesonnenen Menschen gleich gerecht werden konnten.

Draußen, in Ostjerusalem, in den besetzten Gebieten der Westbank, im Gazastreifen und auch in Israel sind die Menschen aufgeregt; aufgebracht von den Ereignissen, die unmittelbar im Land passieren, aufgebracht auch gegeneinander. Die Bilder von Bürgerkrieg, von Hinrichtungen, von Hass und von der Zerstörung dessen, was anderen heilig ist, die Erklärungen, die Hamas, der Fatah, der israelischen Regierung und der westlichen Regierungen, die alle die Fatah stützen wollen – sie alle sind zutiefst verstörend. Je nachdem, welcher Seite man zuhört, geben die Fakten und Ereignisse ein anderes Gesamtbild. Hört man der Hamas zu, so war es richtig, den Verrat der palästinensischen Interessen durch die Fatah zu stoppen; sie weisen nach, wie Politik und Sicherheitsdienste der PLO mit Israel und den USA abgestimmt waren bzw. sind und wie die Palästinenser durch sie alles verlieren würden, was ihnen noch gehört. Hört man der Fatah zu oder den Beratern des Palästinenserpräsidenten, so haben die Kräfte der Hamas einen von langer Hand geplanten Putsch durchgeführt, mit dem Ziel, einen islamistischen Gottesstaat im Gazastreifen, in Palästina und in der Region zu errichten. Und den kann nur die Fatah stoppen. Hört man den arabischen Nachbarn zu, so warnen sie beide Parteien vor dem Bruderkrieg und vor dem Verrat des Eides, den sie auf den Koran geschworen haben, in Mekka, vor einigen Monaten. Aber die Nachbarn haben nichts getan und auch nichts zu bieten, was Vertrauen aufbauen könnte. Hört man zu und glaubt, dann hat die eine oder die andere Seite die Lösung.

Hört man nicht zu, dann vernichten die Bilder alle Hoffnungen, die Normalität des menschlichen Daseins finden, ein Leben in Ruhe führen zu können. Die Menschen wollen sich nicht zwischen der Propaganda der einen oder der anderen Seite entscheiden. Sie sind zutiefst verunsichert, weil die Zerstörung des Lebens, das durch die Israelische Besatzung ohnehin stark eingeschränkt ist, ihnen wieder nahe kommt. Krieg und Tod, Hass und Vergeltung, Furcht und Misstrauen – das wollen sie nicht. Aber es wird ihnen aufgezwungen. Die Menschen, denen wir tagtäglich begegnen, leiden. Und sie verlieren die kleine Hoffnung, die sie sich bewahrt hatten.

Und nun will ich die Bilder loswerden, die ich zuletzt gesehen habe. Das war vor 2 Tagen, am Freitag. Danach war ich nach Tel Aviv gefahren, wo man sich fühlen kann, als sei man in einem ganz anderen Land. Die Menschen gehen an die Strandpromenade, essen und trinken dort, liegen in der Sonne, spielen und schwimmen. Und tun so, als wäre das Leben sicher. Das war gestern. Aber zu den Bildern von vorgestern. Der Bürgerkrieg im Gazastreifen war soweit entschieden. Die ersten Auseinandersetzungen in den Zentren der Westbank waren erfolgt. Jetzt war Freitag, der Tag des Großen Mittagsgebetes. An diesem Tag strömen immer Menschen aus dem ganzen Land nach Jerusalem, in die Altstadt und zur Al-Aqsa-Moschee. So auch vorgestern.

Erstes Bild: Auf dem Weg vom Ölberg hinunter in die Stadt fanden wir Straßensperren. Gitter versperrten die Kreuzungen. Polizisten, schwer bewaffnet standen hinter diesen Sperren. Unser Bus musste einen riesigen Umweg fahren. Die Geschäftsstraßen gegenüber dem Damaskustor waren voll, wie immer, aber eine große Unruhe lag über den Menschen. Am Himmel schwebte ein Zeppelin, offensichtlich mussten Verkehr und Straßensperren vom Himmel aus kontrolliert werden. Später fielen die Busse ganz aus; als ich mittags noch einmal unterwegs war, musste ich zu Fuß laufen.

Zweites Bild: Die Stadttore waren ganz und gar gesperrt, Polizisten bildeten dichte und doppelte Kordons, durch die niemand vordringen konnte, den sie nicht durchlassen wollten. Wie immer bei solchen Sperren hieß es: Männer unter 45 oder unter 40 dürfen nicht in die Altstadt. Aber auch Frauen mit ihren Produkten für den Markt wurden nicht durchgelassen. Juden im Habit der Orthodoxen wurden seitlich an den aufgeregten Massen vorbei in die Altstadt eskortiert. Polizeikräfte waren tief in die Geschäftsstraßen hinein gestaffelt.

Drittes Bild: Mittags war ich zu unserem Büro nahe dem Neuen Tor unterwegs. Ich musste laufen. Auf dem kurzen Abschnitt der Stadtmauer nach Norden, entlang der Sultan Suleiman Straße, das sind etwa 1 ½ km, waren vier Gruppen von Männern, die offensichtlich nicht zur Al Aqsa Moschee durchgelassen worden waren, zum Freitagsgebet versammelt. In einem Fall waren es mehr als 200 Männer, von Polizei umstellt. Im Schatten eines Baumes standen zwei dieser Hannoveraner, Pferde, die in Deutschland speziell für Krawall-Einsätze trainiert worden sind. Um die Ecke stand ein Wasserwerfer in Bereitschaft. Die Männer saßen auf dem Asphalt der Kreuzung. Vor ihnen stand ein Prediger. Über einen Lautsprecher richtete er seine Worte an die Versammelten. Weit weg noch war seine Predigt zu hören. Frauen, die nicht in den Reihen der Männer beten können, standen und hörten zu. In einem anderen Fall war eine kleine Gruppe von einem Dutzend Männer direkt unter der Stadtmauer versammelt, im Gras sitzend, die Schuhe ausgezogen, im Schatten eines Baumes. Auch sie hörten auf einen Prediger. In wieder einem anderen Fall sah ich die Ladenbesitzer, die für ihre Kunden Pappen auf der Straße auslegten, die auch sofort zum Gebet, bei dem der Betende auf die Knie und mit dem Gesicht auf den Boden geht, verwendeten. Und im vierten Fall sah ich zwei Reihen Betender, die einen Vorbeter vor sich hatten und diesem in allen Gebetshaltungen folgten. Viele Männer standen auch einfach da und sahen sich das Spektakel an, ohne ihre Gemütsregung zu zeigen, aber so, dass keiner meinen durfte, sie seien gleichgültig.

Ich musste in unser Büro, weil nur dort eine feste Telefonleitung besteht. Mein Handy war für diesen Zweck nicht gut genug. Ich sollte ein Interview für den Westdeutschen Rundfunk geben. Ich wollte keinesfalls Fragen nach der politischen Situation beantworten. Dafür, wollte ich sagen, gibt es Spezialisten. Ich wollte auch keine eigene Meinung sagen, das ist nicht Teil unserer Aufgabe in diesem Friedensprogramm. Ich wollte erzählen, wie die Menschen die politischen Ereignisse aufnehmen und erleben. Wie reagieren die Menschen in Jerusalem? Auf diese Frage hatte ich gewartet, aber die kam dann nicht. Das Interview wurde aufgenommen – und wird in diesen Minuten ausgestrahlt – weil von heute an einige Tage lang in Amman eine große Konferenz des Weltkirchenrates zur Situation hier in Palästina und Israel und im Nahen Osten stattfindet. Und dazu sollte jemand, der für den Weltkirchenrat und seine Friedensmission vor Ort arbeitet, gehört werden. Stattdessen kam die Frage nach unseren konkreten Einsätzen und ob unsere Präsenz hier etwas bedeutet. Macht es einen Unterschied, ob Sie dort am Checkpoint stehen? So lautete die Frage. Und die andere hieß: Warum ist hier so wenig von der Realität der Palästinenser bekannt? Warum macht die Kirche nichts von dem, was Sie dort sehen, öffentlich?

Weil die Frage, wie sieht es heute in den Straßen von Jerusalem aus, nicht gekommen war, weil ich die Bilder, die meine Seele füllten, nicht zeigen konnte, muss ich es jetzt hier tun. Weil ich den Menschen in Deutschland keine fertige Meinung zumuten, sondern ihnen zutrauen will, dass sie mitdenken und mitfühlen, darum will ich beschreiben, wie die Menschen hier auf die Ereignisse reagieren.

Die Menschen auf den Märkten von Ostjerusalem, die sich nicht in die Häuser zurückziehen oder flach auf den Boden legen müssen, wie in Gaza-Stadt, sind tief frustriert. Sie wollen sich nicht von radikalen Gruppen vertreten lassen. Sie wollen keinen Krieg in ihren Straßen. Was beten ihre Imame? Und ich meine wieder nicht die, die im Radio gesendet oder die in unseren Zeitungen zitiert werden. Wen kann ich fragen?

Auf den Boulevards von Westjerusalem sind heute nach dem Sabbat die Geschäfte und Cafes wieder offen, die Menschen hier haben einen neuen Präsidenten, aber keine Regierung mit Visionen. Sie fragen sich gegenseitig, ob die Zukunft für sie dunkler oder heller scheinen wird. Was haben sie am Sabbat gebetet? Yael sagt: Wir Juden haben keine aktuell formulierten Gebete im Gottesdienst. Debbie sagt: Am Freitag haben wir das Gebet um Frieden gebetet wie immer, es stammt aus dem 19. Jahrhundert und hatte damals einen aktuellen Anlass. Und sie ist sicher, die Synagogenbesucher haben vorgestern das Gebet auf die gegenwärtige Situation bezogen und um Frieden für die Palästinenser und für sich selbst gebetet.

Die wenigen Christen, die heute in den Kirchen Jerusalems zusammen kommen, die nichts von der Konferenz in Amman wissen, die auch nur Zeitungen und Fernsehbilder kennen, von ihnen weiß ich: Sie fürchten die Islamisten, sie fürchten sie noch viel mehr als die gemäßigten oder die säkularen Muslime sie fürchten. Und sie sehen schwarz. Was beten sie in ihren Gottesdiensten? Ich werde sie fragen müssen.

Hier sitze ich und suche die Stille, die nötig ist, um mich auf das Wichtige zu besinnen. Ich spüre, dass ich noch viel lernen und verstehen will. Und ich hoffe, dass ich die Bilder, die ich nach Deutschland vermitteln will, dort verstanden werden. Ich hoffe auch, dass ich selbst in der Unruhe, die noch im Abstand vom Lärm der tragischen Ereignisse, bestehen bleibt, die Bewegung Gottes finde, die zu Gerechtigkeit und zu Frieden führen will. Aber zu dieser Mühe, die wirklichen Optionen für Gerechtigkeit und Frieden zu finden, gehört auch die Frage, die hier in Jerusalem so verdeckt und so von Lärm übertönt ist: Ist der Gott, den alle drei Religionen als Den Einen bekennen, ist er ein einigender Gott?

Unterdessen ist es Nachmittag. Der Wind hat zugenommen. Er ist unüberhörbar. Ich werde auf die Nacht warten. Dann wird es still. Und vielleicht lässt sich Gott, wie in der alten Geschichte vom Propheten Elias, in der Stille, die dem Sturm und dem Erbeben gefolgt waren, finden. Denn wenn wir ihn finden, werden wir wissen, dass er ein einigender Gott ist.

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