Tuesday, July 03, 2007

Jerusalem, Al Quds, Die Heilige Stadt


Lieber Jürgen!
Schon lange will ich Dir diesen Brief schreiben. Aber die brennende Situation hier ließ ein ruhiges und gelassenes Nachdenken, wie ich dafür brauchte, nicht zu.
Es geht mir darum, eine Brücke zu suchen zwischen den Erfahrungen mit der Spiritualität der Stille und dem Trieb, mit Aktion und Engagement sich die Liebe Gottes verdienen zu wollen. Vom ersten verstehst Du mehr, vom zweiten weiß ich was. Das sage ich natürlich selbstironisch, wissend, dass Du das nicht gelten ließest. Wenn wir hier beide zusammen wären, wäre das einfacher zu diskutieren. Wir könnten zwischendrin auch lachen.
Ich will also heute von meiner Abscheu gegen den Titel, den diese Stadt Jerusalem trägt, abweichen, so als wärest Du neben mir und ich hätte Dir meine Bilder gezeigt und würde mir Deine zeigen lassen. Du wirst kaum in den nächsten Tagen her kommen können. Also nehme ich Dich jetzt mit, in Gedanken. Und ich bitte Dich, dafür meinen letzten Bericht über die Freitagsgebete in dieser Heiligen Stadt zu lesen. Da ist er, der Titel Jerusalems, der mich so stört: Heilige Stadt.

Das Kamel
Du erinnerst Dich an meine erste Geschichte über das Kamel? Ich hatte seinen Auftritt hier oben auf unserer Straßenkreuzung beschrieben. Dabei hatte ich mich über das Kamel lustig gemacht. Immerhin erscheint es doch anachronistisch, wenn ein Kamel in seiner ernsthaften und übertrieben würdevollen Haltung bei Rot über die Kreuzung schreitet. Und dann hatte ich noch den Vergleich mit all den geistlichen Würdenträgern angestellt, die hier auch wie eine ferne Erinnerung aus dem Mittelalter, noch früher: aus der byzantinischen Zeit!, durch die Straßen und Gassen wehen. Anachronistisch eben, wie mir schien. Aber jetzt bin ich beim Kamel zuhause gewesen und muss mich fast entschuldigen. Denn das Kamel ist ein sehr sympathisches Tier, wenn man sich erstmal auf seine Natur einlässt. Es sind die Touristen, die die Nachfrage nach exotischen Fotos auf dem Rücken des Kamels schaffen. Das Kamel möchte vielleicht ernst genommen werden und es hätte uns was zu sagen, wenn wir nur zuhören würden. Aber lassen wir endlich das Kamel in Ruhe. Du kannst die Geschichte ja nachlesen.

Ich war in einigen dieser uns Protestanten so fremden Kirchen. Ich hätte nie gedacht, dass es mir so gut tun würde, dort die Enge und die Geschwätzigkeit meiner Welt für einige kostbare Augenblicke zu verlassen.

Bei den Armeniern
Ich war zum Beispiel bei den Armeniern. Ihre große Kirche wird für die Nachmittagsvesper geöffnet. Ich war einige Minuten früher da und dachte, das wird nichts, da ist ja niemand. Ich habe mich auf eines der kleinen Bänkchen vor der Säule gesetzt. Es gab da eine unscheinbare kleine Empore, auf der saß ein Mann. Er blätterte in einem großen Buch, ohne uns da unten zu beachten. Unvermittelt begann er zu singen. Daraufhin füllte sich der Chorraum mit Mönchen und Seminaristen. Die verteilten sich auf zwei Gruppen und respondierten dem Liturgen am Altar und dem Lektor am Lesepult. Manchmal waren es zwei unterschiedliche Antworten, die den Gebetsrufen des jeweiligen Liturgen folgten. Ich konnte der Liturgie nicht einmal in Grundzügen folgen, sondern nur raten, welche Teile der Bibel gelesen wurden, welche Gebete gesungen wurden. Die Sprache war Armenisch und die Liturgie offensichtlich sehr alt, mit Gesängen in Kirchentonarten, aber auch mit einigen neueren Melodien. Ich brauchte es auch gar nicht zu wissen, es reichte, mich darauf verlassen, dass hier eine alte und erprobte Feier durchgeführt wurde. Es war, wie wenn in diesem alten dunklen Gemäuer mit den unendlich vielen Öllampen unsichtbare Fenster geöffnet würden; als ob der Blick frei gegeben würde auf etwas, was man sonst nicht sieht. Es war, ganz einfach gesagt, ein schöner Gesang nach einer fremden Ordnung. Ich konnte mich dem hingeben. Eine halbe Stunde – dann war das vorbei. Die Seminaristen, die Mönche, der Priester verschwanden.
Ein Mann, der offensichtlich seine klerikale Kleidung abgelegt hatte, trat zu uns und führte uns durch die Kirche, erzählte von den Armeniern, die sehr früh schon nach Jerusalem gekommen waren; auch von Zeiten unter der Türkenherrschaft, wo es ihnen nicht gut ging, wo sie zum Beispiel keine Glocken läuten durften. Sie schlagen noch heute an eine große Holzplatte, die im Kirchenhof hängt, um zum Gottesdienst zu rufen. Auch die Führung durch die Kirche dauerte nicht lange. Und ich konnte gehen – ruhiger, als ich gekommen war.
Heute habe ich einen Anlass, von den Armenischen Christen zu erzählen: Heute ist es genau 1706 Jahre her, dass die ganze, damals große und angesehene Armenische Nation zum Christentum übergetreten war.

Die große Stille
Dann war da der Deutsche Ökumenische Kirchentag von Jerusalem. Mit dem Motto des Kirchentages in Köln hieß es auch hier: Lebendig, Kräftig und Schärfer. Ich will nur von dem Abend erzählen, an dem wir in der Deutschen Erlöserkirche den Film über die Karthäusermönche gesehen haben. Es ging um das Wort von der Ruhe, die dem Volk Gottes noch zugesagt ist. Der Hinweis auf die Ruhe geht dem anderen Hinweis auf die Lebendigkeit, Kraft und Schärfe des Wortes Gottes voraus. Der Film hat den Titel: „Die große Stille“. Bestimmt kennst Du ihn. Er zeigt das Leben der Mönche, die schweigen. Die Jahreszeiten kommen und gehen, man hört den Schnee fallen, Hähne krähen, Dielen knarren, man hört sogar die Knochen der alten Mönche, wenn sie sich nach langen Minuten aus der knienden Haltung aufrichten. Man hört die Glocken, die zum Gebet rufen und die Blätter der Bücher, in denen sie lesen, diese strengen Mönche. Aber die Mönche schweigen. Der Film ist sehr einfühlsam und gleichzeitig mit großem Humor gemacht. Oft muss man lachen. Auch das leise Lachen der Zuschauer hört man dann, und das Knarren der Stühle im Vorführraum, also der Kirche und ab und zu Geräusche der Stadt. Ansonsten sieht man aber das schweigsame Leben und Beten der Mönche. Und man sieht auch hinter der großen Leinwand, die aus vier Bettlaken zusammengenäht quer vor dem Altarraum gespannt hängt, man sieht dahinter den realen Altar, wenn das Licht gerade auf ihn fällt, auf den Blumenstrauß und die weißen Kerzen und das Kreuz. Oder man sieht die Säulen, die hier Chor und Kirchenschiff verbinden. Man sieht immer nur Teile dieses schönen ruhigen Baues. Und auf einmal erscheint dieser Bau wunderschön und gesammelt und würdevoll. Der Film hat keine Handlung, er dauert zwei und eine halbe Stunde und doch war ich keine Minute lang müde. Ich kann sagen: Ich war bei den Karthäusermönchen. Zwei und eine halbe Stunde Stille in einer Kirche, die sonst nur still ist, wenn keine Menschen darin sind. Die wohltuende Stille, die dem Sturm und dem Beben und dem Kriegslärm draußen in und vor der Stadt folgt.

Der Gesang der Benediktiner
In der Erlöserkirche saß abends auch der Abt der Benediktinerabtei. Auch er sah sich diesen Film über die Karthäuser in dem Kloster in den französischen Alpen an. Die Benediktiner halten ihrerseits in Jerusalem den Ort, an dem Jesus, der Überlieferung nach natürlich, mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl gehalten hat.
Am nächsten Morgen – es war so früh, dass ich den fast einstündigen Weg zu Fuß laufen musste – war ich dort zur Morgenmesse. Danach waren wir zum Frühstück eingeladen. Es gab Hefekranz, den ein österreichischer Franziskaner, ebenfalls zu Besuch, mitgebracht hatte. Und nun kann ich sagen: Ich war auch bei diesen streng gewandeten heiligen Männern, den Benediktinern, zuhause. Sofort war ich mit ihnen mitten in der Messe, die ich diesmal verstand, weil sie ja auf Deutsch gesungen wurde und sich wenig von unserem eigenen Abendmahlsgottesdienst unterscheidet. Und da es einen Zettel mit Ablauf und Texten gab, konnte ich auch mitsingen. Wie viel habe ich hier und da in meinem Leben schon von Benediktinern gehört, ihre Kirchen besichtigt, auf ihren Wiesen gezeltet. Aber hier konnte ich mich auf die Spiritualität ihrer Feier einlassen.
An der Stelle muss ich wieder sagen, dass ich doch die ganze Woche, die vor dieser Morgenvesper lag, in verschiedenen Veranstaltungen mit Palästinensern oder kritischen Israelis verbracht, dass ich fünf Tage lang intensiv der 40-jährigen Besatzung Palästinas gedacht hatte, dass ich im Flüchtlingslager, an den Kontrollpunkten, im Gerichtssaal und in den Bussen war, die mitten in Jerusalem angehalten und einer rüden Ausweiskontrolle unterzogen werden. Es war eine ganz und gar politische Woche gewesen. Aber hier saß ich in einer Feier, die darauf mit keinem Wort einging. Es sei denn, man nimmt die alten Psalmen und Bibelworte ernst und vertraut darauf, dass sie auch in dieser Situation aktuell sind, ohne dass jemand das auslegen und den Zusammenhang klug nachweisen muss. Die Benediktiner sind stolz auf ihre alte Tradition, sie nehmen diese Feier mit großer Gelassenheit wahr, sie singen schön, sie bewegen sich würdevoll.
Beim Friedensgruß und beim Abendmahl gibt der Abt den Gruß und die Sakramente an zwei der Mönche weiter, die sie ihrerseits den nächsten geben, einer nach links und einer nach rechts, bis jeder ihn empfangen und weitergegeben hat. So wird vielleicht die Idee dargestellt, dass Gott sich den Menschen vermittelt, von Mensch zu Mensch, aber auch von Generation zu Generation. Aber die Bewegungen sind gelöst und getragen, Hast und Ängstlichkeit oder andere Anstrengung bleibt außen vor. Es war schön und wieder hatte ich hinterher das Gefühl, dass ich einen Ausflug in eine Sphäre getan hatte, in der Hoffnung und Sehnsucht nach Gerechtigkeit und nach Heil, die in dieser geteilten Stadt so offensichtlich nicht wachsen können, eine Nische des Überlebens finden.
Tja – es war wohltuend, warum will ich mich da rechtfertigen.

Mehr Begegnungen will ich nicht erzählen. Sonst leidet auch dieser Bericht an der Geschwätzigkeit und an dem Hang, Empfindungen rational filtern zu wollen, wo sie doch auch ohne das ihre Aufgabe erfüllen. Ich war der letzte in der Runde in der Benediktinerabtei, also gebe ich den Friedensgruß aus der Benediktinerabtei jetzt an Dich weiter.

Unheilige Heilige Stadt
Lieber Jürgen, eigentlich wollte ich über die Spannung schreiben, in der ich diese Stadt erlebe. Sie muss ständig ihren alten und überlasteten Titel als heilige Stadt rechtfertigen und ist doch so geprägt vom Unheil seiner Bewohner. Sie könnte ohne diesen Titel viel leichter leben. Auch die Zukunft dieser Stadt im Konfliktfeld der israelisch-palästinensischen Frage wäre leichter zu finden ohne den Anspruch, den derzeit jede Religion – gegen die anderen Religionen – erhebt, dass nämlich Jerusalem ihr und ihr allein gehören muss. Für die ganze Stadt gilt, was in Bethlehem an der Mauer, die das Palästinensergebiet dort gegen Israel abgrenzt, geschrieben steht: Gott ist zu groß für nur eine Religion.
Über die Spannung schreibe ich nun also nicht. Ich bin zu klein dafür. Aber ich finde mich besser darin zurecht, wenn ich von Zeit zu Zeit die heiligen Männer da besuche, wo sie zuhause sind. Ich will diese Besuche immer noch mit Dir gemeinsam machen. Sie sind wie ein Ausflug in ein anderes Land. Unter anderem habe ich bei diesen Besuchen gelernt: Gott will uns verführen und wir wollen uns verführen lassen. Dieser Brief soll Dich verführen, einen Plan für eine Reise nach Jerusalem zu machen, wo das Kamel Touristen verführt, wo es auch zuhause ist.

Das schreibt Dir Dein Freund aus Jerusalem, Gottfried
Jerusalem, 17.06.2007

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