Sunday, July 01, 2007

Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes

Kein ruhiger Morgen

Die Morgen sind kühl in den Gärten Getsemanes. Die Sonne kommt spät über den Ölberg, da liegt die Altstadt, eng zwischen ihre Mauern gezwängt, schon lange im hellen Licht. Die Kuppel des Felsendoms spiegelt die Morgensonne, bevor sie ihre Hitze über die Hänge hier legen kann. Zwischen den Gärten und Hainen, die die Menschen hier im Respekt vor ihrer Bedeutung für die Christen „Getsemane“ nennen, und den höher gelegenen Klöstern und Kirchen des Ölbergs drängen sich einige wenige Häuser. Sie sind meist hunderte Jahre alt, zum Teil sind sie erneuert, mit Anbauten oder Obergeschossen erweitert. Seitdem Israel diesen Teil Jerusalems annektiert hat, sind alle diese Baumaßnahmen illegal. Diese Stadtplanung ist neu. Die Familien dagegen leben hier seit Jahrhunderten… Aber bleiben wir bei diesem Morgen.
Es ist der 19. Juni. Said und Amira Mu’aket sitzen auf ihrer Terrasse. Sie trinken ein Glas Tee. Die Tauben gurren, Kolibris schwirren durch die Baumkronen, Zikaden stimmen den Sommertag ein. Und dann setzt dieser kurze Augenblick der unnatürlichen Stille ein, in dem Vögel und Zikaden und sogar der Wind in den Baumkronen schweigen. In die Stille hinein hört man das das Brummen von schweren Motoren, es weht den Hang herüber.
Wenige Minuten später ist die Vorhut der Militärjeeps überall, ist das Haus, das Grundstück, der Hang von 250 Soldaten umstellt und dröhnen die schweren Abrissbagger den Feldweg zum Haus herauf.
Said Mu’aket hat drei Söhne. Für alle hat er ein Haus gebaut. Die drei bescheidenen Häuser stehen im Rohbau aneinander gereiht etwas abseits vom Wohnhaus, in dem bis jetzt die große Familie zusammengedrängt lebt. Drei Generationen leben hier, es ist ein altes und kleines Haus, viel zu eng für die Familie. Und weil darin für eine weitere Familie kein Platz war, konnte einer der drei Söhne bisher nicht heiraten. Er ist es vor allem, der den Bau betrieben hat. Aber hier sind jetzt die Baufahrzeuge und die Arbeiter, die die drei flachen Reihenhäuser abreißen sollen. Vor allem sind hier die Soldaten, die das Gelände weiträumig abgesperrt haben. Kein Nachbar, kein Rechtsanwalt, kein Pressefotograf kommt bis zum Haus. Telefonleitung, Wasser und Strom werden als erstes gekappt. Über Handy kriegen die Söhne Anweisung von ihrem Rechtsanwalt, nach dem Abrissbefehl zu fragen, weil die Familie keine Vorwarnung erhalten hat. Aber der israelische Offizier verhöhnt die Männer. Der Vater, über siebzig Jahre alt, Professor für Sozialwissenschaften, sagt, das könnt Ihr doch nicht machen, zeigt erst den Befehl vor, ich will die Anweisung sehen. Der Offizier lacht ihn aus, „wenn du sehen willst, was wir machen, stell dich ans Fenster und schau zu! Dann kannst du sehen, was wir machen können“. Und da steht dann wirklich die Familie hinter dem Fenster, von Soldaten bewacht und sieht zu, wie ihre Häuser zertrümmert und Hof und Garten verwüstet werden.
Die Familie ist ins Haus gedrängt. Die Abrissarbeiten beginnen ohne Verzug. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Die ganze Geschichte erfahre ich erst, als ich mittags komme und das Unglück der Familie mit meinen Augen sehe, und nach einer Woche wieder und ein drittes Mal komme.

Eine jüdische Siedlung im Palästinenserland

An diesem Morgen, dem 19. Juni, sitze ich im Bus. Wir fahren über Land, auf schönen Straßen, die für Palästinenser nicht zugelassen sind. Wir fahren zu einer Siedlung. Juden haben hier mitten im Palästinenserland eine schöne Wohnsiedlung gebaut. Wir fahren nach Teko’a, um mit diesen fanatischen Siedlern zu sprechen. Das gehört zum Programm: Direkt und ungefiltert sollen wir aus dem Mund dieser Leute erfahren, warum sie nach Israel gekommen sind, warum sie nicht zufrieden waren, in Israel zu leben, warum sie hier einen weiteren Vorposten besetzt haben, der das Palästinenserland zerstückeln wird; warum sie ganz Palästina zu jüdischem Land machen wollen. „Judaisierung Palästinas“ heißt das Programm, und die Westbank heißt nicht Westbank oder Besetztes Territorium oder einfach Palästina, sondern „Judäa und Samaria“, wie zuletzt vor zweitausend Jahren. Wir wissen, es wird nicht leicht sein, diesen Leuten nur zuzuhören und zu akzeptieren, was ihr Gedankengebäude ist und welches ihre Gefühle bei diesem langfristigen Werk des Landraubes sind. Wir sehen schon die roten Dächer, die typisch für die jüdischen Siedlungen im Palästinenserland sind. Da klingeln die Telefone. Zeitgleich greifen Tina, Tlago und ich in die Westentasche, in der die Mobiltelefone stecken. Die schriftliche Nachricht heißt: “House demolition on Mount of Olive, family needs support”. Wir wären jetzt gerne in Jerusalem, aber das Programm für diese ganze Woche hat uns aus unserer Arbeit heraus genommen. Keine Chance.
Wir laufen stattdessen durch eine schöne Siedlung, Bäume, Büsche, Blumen, alles wächst – weil Wasser da ist. Später erklärt uns eine der Frauen stolz, wie sie Geld investiert hätten, um mit einer Tiefenbohrung Wasser aus dem Bergaquifer herauf zu pumpen. Und das ist einer der vielen Vorteile, die die Siedlungen vor den palästinensischen Dörfern der Umgebung haben: Palästinenser dürfen nicht tiefer als 60 Meter gehen, um an Wasser zu gelangen, was hier oben in den Bergen natürlich nicht ausreicht. Israelis dürfen dagegen das Wasser aus einigen hundert Metern Tiefe schöpfen. Wir sehen also diese schöne Siedlung, Gärten um die Häuser, die die Regierung gebaut hat und in der Ferne die palästinensischen Dörfer, arm wie das trockene Bergland ringsum. Und sehen vor unserem inneren Auge Bilder von Hauszerstörungen, wie wir sie bei früheren Gelegenheiten gesehen haben.
Trümmer, wo ein Neubau stand

Mittags sind wir zurück in Jerusalem. Ich fahre auf den Ölberg und suche nach dem Haus. Am Schluss muss ich nach dem Augenschein gehen: Wo liegt Staub auf den Bäumen und wo sind Trümmer zu sehen. Eine alte Frau kämpft sich durch den zerstörten Fußweg, über dem Bauschutt liegt. Ich kann sie nicht ansprechen, ihr nicht die Hand geben, das wäre ungehörig. Offensichtlich ist sie eine Nachbarin der betroffenen Familie. Ich gehe langsamer und warte auf ein Zeichen von ihr, ob sie Hilfe braucht. Sie schüttelt den Kopf und das kann beides bedeuten, ich will keine Hilfe oder: das hier ist unglaublich. Ein schlichtes Gusseisengitter hängt in beschädigten Torpfosten. Was immer hier als Einfriedung gedient hat, ist nicht mehr da. Trümmer in einer Reihe von fast 30 Meter säumen die alte Mauer, hinter der ein Klostergarten liegt. Große Brocken Beton liegen übereinander, eine ganze Wand ist mitten im Fall schräg stehen geblieben, Pfosten und überall die Stahlstreben, bloß und gekrümmt oder anklagend in den Himmel weisend. Vor dem alten Haus im Hintergrund ist ein überwachsenes Dach, einige Bäume, Oliven und niedrige Fichten schaffen eine schattige Terrasse. Dort steht und erwartet mich ein alter Mann, der unglückliche Besitzer des zerstörten Anwesens. Zwei Presseleute machen Aufnahmen. Ein gut gekleideter Mann, offensichtlich Rechtsanwalt, verabschiedet sich gerade. Drei Frauen sitzen unter dem Dach von wildem Wein. Jenseits von ihnen tut sich eine wunderbare Sicht auf die tiefer gelegene Altstadt von Jerusalem auf. Ich spreche mit Herrn Said Mu’aket und erfahre in Umrissen, was vorgegangen ist. Ich will aber nicht lange stören, das Entsetzen liegt noch auf den Gesichtern, der Staub verdeckt die Brillengläser von Herrn Mu’aket. Ich mache einige Fotos und verabschiede mich. Ich soll wieder kommen und die Fotos bringen, bittet Herr Mu’aket.
Hausabrisse in Ostjerusalem

Eine Woche später komme ich wieder, Tina, meine Kollegin und Peter, ein Gast unseres Programms sind bei mir. Herr Mu’aket erkennt mich und bittet uns herein. Wir tragen die Gartenstühle unter das grüne Dach vor das Mäuerchen, unter dem sich der herrliche Blick auf das alte Jerusalem auftut. Wir sehen Teile vom Garten Getsemane und vom Kidrontal. Ich gebe ihm die Fotos, die ich mitgebracht habe, sie sind immerhin unsere Eintrittskarte für diesen Besuch. Und dann hören wir die unglaubliche Geschichte von dem Abriss. Eines ist die Zerstörung des Hauses, der riesige finanzielle Schaden für die Familie. Ein anderes sind die Umstände, die diesen Abriss begleitet haben, die Demütigungen. Und ein drittes ist der Zusammenhang, in dem dieser Abriss steht, der dem „demographischen Faktor“ geschuldet ist, der Tatsache, dass aus Sicht des israelischen Staates „zu viele Araber“ in Ostjerusalem leben. Mit der Umwidmung von Land in Grünflächen, für die Armee und für städtische Verwaltung und Straßenbau vorbehaltene und andere gesperrte Flächen stagniert praktisch jeglicher Neu- und Ausbau von vorhandenen Häusern. Herr Mu’aket erklärt mir die Zusammenhänge. Sein Fazit ist: Sie lassen uns keine Ruhe.
Wir erfahren die Geschichte einer Familie, die in der alten Tradition gelebt hat. Der Vater unseres Gastgebers hatte mehrere Frauen – seine eigene Frau, Amira, etwa 65 Jahre alt, lacht bei dieser Erzählung – und für jede Frau und ihre Kinder ein Haus. Aber Haus um Haus hat er verloren; er hat das noch erlebt, der Familiengründer: 1947 wurde ein Haus in Westjerusalem konfisziert; dort leben jetzt jüdische Familien, die keine Ahnung von der Geschichte der palästinensischen Besitzer haben. Und 1967 hat sich das wiederholt mit zwei Häusern im eroberten und annektierten Ostjerusalem. Ein Haus steht in der Altstadt, im muslimischen Viertel, ist aber enteignet. Israelische Fahnen hängen aus den Fenstern. Und nun dieses Haus hier. Man sammelt Schulden über unserem Haupt, erklärt der Mann, bis wir eines Tages mit einer Summe konfrontiert werden, die den Verkauf dieses Hauses hier erzwingt. Dann sind wir obdachlos.
Er spricht ruhig. Kein Hass klingt aus seinen Worten. Aber die Fassungslosigkeit liegt wie ein Vorhang über seinem Blick, über seiner Rede und über unserem Gespräch. Er beschreibt die gezielten Demütigungen, das Verhalten des Offiziers, eines Menschen, der seine Menschlichkeit abgelegt hat für dieses Geschäft. Er schluckt, er übergeht die Soldaten, von denen werde ich erst im dritten Gespräch mit dem Sohn erfahren. Said und Amira Mu’aket sind vor allem von der Unmenschlichkeit der Israelis – sie sagen „Juden“ – erschüttert. Warum! fragen sie. Warum behandeln sie uns schlechter als Tiere? Warum hassen sie uns? Was macht ihnen denn solche Angst? Und er erzählt, wie sie sie hier früher nebeneinander gelebt haben, Muslime, Christen, Juden, Ausländer. Friedlich, mit gegenseitigem Respekt, es war ein buntes Leben, sagt er und erzählt von seiner Kindheit. Das war die Zeit vor der Teilung und der Staatsgründung Israels. Aber jetzt? Warum müssen sie uns denn vertreiben? Und wohin?
Wir fragen nach den Schulden, die gegen ihn angesammelt werden. Seht ihr, sagt er, so wie sie mir keine Abrissorder geschickt haben, teilen sie mir nicht mit, wie hoch die Steuer auf mein Land ist und wie ich sie bezahlen soll. Eines Tages werden sie mir eine unglaublich hohe Summe nennen… und er erzählt die Geschichte eines Nachbarn. Sie wollen nicht die Steuer, sie wollen das Grundstück, schließt er. Und vorher geben sie keine Ruhe. Was für Schulden er denn schon hat, will ich wissen. Na ja, sagt er, seit letzter Woche sind 82.000 Schekel (ca. 15.000 €) dazu gekommen, das ist die Rechnung für den Hausabriss. Den Hausabriss müssen Sie bezahlen? rufe ich aus. Ja, muss ich, kann ich aber nicht, ist seine schlichte Antwort. Aber sie werden uns keine Ruhe lassen.
Zwischendrin ist ein Anruf von einem der Söhne gekommen. Frau Mu’aket spricht mit ihm. Sie reicht mir das Telefon. Der Sohn, Yussuf, ist beunruhigt. Er weiß nicht, wer wir sind. Er sieht es nicht gern, wenn Fremde, gerade jetzt in dieser Situation, im Haus auftauchen, wenn die Eltern allein sind. Er spricht gut Englisch und ich kann ihm erklären, wer wir sind. Ich biete ihm an, abends wieder zu kommen. Ja, das wäre ihm sehr recht. Also verabreden wir, dass ich abends wiederkomme. Wir verabschieden uns von den beiden Alten.
Die Ruhe Gottes finden
Der Satz von der Ruhe geht mir nicht aus dem Sinn. Immer wieder hat er ihn gesagt, Said Mu’aket, aus der angesehenen Altjerusalemer Familie: „Sie geben uns keine Ruhe“. Das Wort aus dem Hebräerbrief drängt sich mir auf, das vor einigen Wochen mit dem Kirchentagsthema in mein Bewusstsein gespült worden war: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes“. Dort predigt der Bischof einer jüdisch-christlichen Gemeinde, dass sie eine gute Chance auf Vergebung hat, auf einen Neubeginn ihrer Geschichte mit Gott. Und „die Ruhe Gottes“ ist das Bild für ein gutes Ende einer bösen Zeit. So wie Gott am siebenten Tag ruht, weil er das Chaos in eine gute Schöpfung umgewandelt hat, so wird das Volk Gottes seine Ruhe bei Gott finden – wenn es nur seinen Ungehorsam bezwingt. Der Bischof – wie ich mal vereinfachend sage – dringt in die Hörer oder Leser seiner Schrift, dass sie doch vom Ungehorsam zum Gehorsam finden. Er setzt sich dabei mit Psalmen und mit Worten aus den Büchern Mose auseinander. Mich fasziniert in diesem Zusammenhang, das wir heute entscheiden müssen, wer das Volk Gottes ist und wie wir einen Weg zu diesem Verhalten finden, das im Hebräerbrief mit „Gehorsam“ bezeichnet wird. Hier in Jerusalem ist es ganz offensichtlich, dass es keinen Sinn hat, ein Volk Gottes gegen andere Völker zu definieren oder Ungehorsam bei einem der beiden Völker und Unschuld bei dem anderen zu suchen. Erst wenn wir uns als Menschen verstehen, die von Gott gleich geliebt werden und von denen er partnerschaftlich Verantwortung für diese Welt erwartet, kann es zu dem kommen, was wir hier brauchen: gegenseitigen Respekt und Zutrauen in den Nachbarn und Partner. Wäre nicht das der Weg, um Ruhe zu finden für die Völker, die hier in Palästina und Israel leben?
Man kann das alles sehr viel einfacher sagen. Man braucht nicht den Weg über die Bibel zu gehen. Aber immerhin hat Said Mu’aket in dem Gespräch gesagt, was ich von vielen anderen Muslimen auch gehört habe: Haben die denn keinen Respekt vor Gott? Und darum denke ich, mein Nachdenken als Christ, wie wir hier zueinander finden, ist wichtig. Darum frage ich mich, wie wir eine Ruhe finden, in der Gottes Schöpfung als Sieg über das Chaos erkannt wird. Und will wissen, wie auch die Nutzung dieses wilden schönen Landes die Menschen verbindet und nicht gegeneinander aufbringt.


Ruinen und schöne Aussicht

Am Abend bin ich wieder drüben am Hang über dem Garten Getsemane. Tina, Tlago und Peter haben ein anderes Programm. Aber der Sohn, Yussuf Mu’aket hat mich ohnehin als den Repräsentanten der Gruppe ausgemacht. Und ich komme gern. Said und Amira strahlen, als sie mich sehen. Jetzt bist du zum dritten Mal hier, sagt der alte Herr, jetzt steht dir das Haus offen. Yussuf verdreht die Augen in Panik: Das ist genau der Punkt. Er hat Angst, dass jetzt die Geier kommen und Kaufangebote machen. Er drängt mich ab. Wir sitzen ein Stück von dem romantischen Plätzchen mit der Aussicht auf Kidrontal und die Stadt entfernt. Solange ich stehe, kann ich sie sehen, Al Quds, die Heilige. Das letzte Abendlicht wird auf der goldenen Kuppel des Felsendoms gesammelt. Der Himmel im Westen ist hell. Die Skyline des modernen Jerusalem zeichnet sich ab, grau und im Dunst eines heißen staubigen Tages. Über uns zeigt sich der Abendstern. Gleich werden die Muezzin zum Gebet rufen.
Ein Teller mit Scheiben von Wassermelone ist für mich vorbereitet. Ein Hockerchen steht zwischen uns. Später kommt ein Kaffee. Yussuf ist höflich, zu höflich. Er erzählt, was sich an jenem Morgen wirklich zugetragen hat. Und ich hatte ja auf dem Herweg oben auf dem offenen Platz Bekannte getroffen, die wissen wollten, wohin und woher. Und die hatten das Wort von „krankenhausreif geschlagen“ fallen lassen. Yussuf will mir die Einzelheiten erzählen, die sein Vater ausgelassen hat. Aber immer wieder wird er aggressiv, greift mich an, weil wir Europäer die Juden herüber geschickt haben; weil ich hier meine schöne Geschichte zusammensuche, während er mit den Trümmern seines Lebens weiterleben muss; weil ich nachhause fahre zu meiner Familie, während er keine Wohnung hat und keine Familie gründen kann. Ich verstehe seine Frustration und biete an, ob es ihm besser geht, wenn ich mich verabschiede. Aber das ist ihm furchtbar peinlich. Nein, er kann einfach seine Gefühle nicht zügeln. Ich frage seinem älteren Bruder und der Geschichte mit dem Krankenhaus.
Die Soldaten haben die Familie ins Haus getrieben, damit sie die Abrissarbeiter bei ihrem Zerstörungswerk nicht stören. Die Kinder durften nicht in den Laden laufen, um Milch zu kaufen. Die Nachbarin, eine polnische Nonne, haben sie rüde verjagt. Sie haben die Kinder angeschrieen. Die Mutter durfte die Kinder nicht beschützen. Sie haben sie ins Haus gestoßen. Sie ist auf den Steinfußboden aufgeschlagen. Das ist ungeheuerlich, das tut man keiner Frau an. Die Brüder haben sich vor die Mutter gestellt und die Soldaten zur Ordnung gerufen. Da haben sie zugeschlagen. Der Jüngere hatte Glück, er ist mit blauen Striemen über den Rücken gut weggekommen. Der Ältere wurde mit Handfesseln abgeführt, in den Olivenhain unten am Hang geführt und dort zusammen geschlagen, bewusstlos. Die Familie musste einen Krankenwagen rufen. Im Krankenhaus wurde er geröntgt und behandelt. anschließend musste er zum Zahnarzt, aber der konnte den ausgeschlagenen Zahn nicht retten. Die Rechnungen für Krankenwagen, Krankenhaus und Zahnbehandlung liegen schon auf dem Tisch.
Olivenbäume und Taube

Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Haus, sagt Yussuf, gut, das ist ein Ding. Das zerstören sie. Sie haben ein Gesetz und nach dem Gesetz handeln sie. Ein schlimmes Gesetz. Aber einen Baum umzubringen! Was ist mit dem Baum? Komm, ich zeig es dir. Und Yussuf führt mich in den Hof, wo ein alter Ölbaum zertrümmert liegt. Der Führer des Bulldozers, der die Bitte, doch etwas sorgsamer zu Werke zu gehen, nicht gut aufnehmen konnte, griff mit seinem Greifer eine Zwischendecke, hob sie hinüber in den Hof, in dessen Mitte ein wunderschöner uralter Ölbaum stand. Und ließ den großen Beton auf den alten Baum fallen. Der Baum ist bis zur Wurzel zertrümmert. Für Palästinenser ist das ein ungeheuerlicher Frevel. Bäume, Pflanzen, Blumen sind Leben, von Gott geschaffen, Grundlage menschlichen Lebens. Und ein Ölbaum noch mehr: Von ihm leben Familien, Generationen, eine nach der andern ernährt er sie. Wie kann man einen Ölbaum so ohne Not, so frevelhaft, so gottlos umbringen?!
Jetzt ist Yussuf in Fahrt. Siehst du die Tauben dort? Natürlich sehe ich sie, in einer Voliere tänzeln sie, kleine weiße Tauben. Ein Soldat hat aus Langeweile mit Betonbrocken auf die Tauben geworfen. Und? Ist was passiert? Ja, er hat zwei umgebracht. Er hat einfach so die Tauben umgebracht? Ja, er hat vielleicht gehofft, dass wir ihm dabei zusehen. Das ist ja furchtbar. Ich kann mir die Gedanken und Empfindungen eines Soldaten, der Abrissarbeiten absichert und dabei Tauben umbringt, nicht vorstellen. Das ist noch nicht alles, fährt Yussuf fort und schreit jetzt: Ein Soldat hat sich hier vor unserem Fenster, wo die Kinder standen, hingestellt und hat in diesen Blumentopf hier gepisst.
Ich stelle keine Fragen mehr. Und ich vermeide auch die Situation, in der Yussuf laut wird, obwohl ich auch glaube, es tut ihm gut, das herauszuschreien. Er stellt sich vor den Blumentopf und hält die Hand vor den Hosenschlitz, streckt den Unterleib vor und macht das Geräusch. Dann bricht er ab und dreht sich weg. Ich setze mich auf den Stuhl. Er kommt schweigend dazu.
Der Garten Getsemane - ein Ort der Ruhe?

Die Familie, die zu Besuch gekommen ist, sitzt und redet leise. Manchmal höre ich sogar Lachen. Über sie hinweg kann ich jetzt das hell erleuchtete Jerusalem sehen, die Altstadt, dahinter die Höhen von Westjerusalem und auch einige der Hänge, die zu Ostjerusalem gehören. Es ist wunderschön: die Familie, die im Kreis zusammensitzt, selbst jetzt noch im Schatten vor dem Mond, der hell hinter uns aufgegangen ist; die Terrasse mit diesem faszinierend schönen Blick hinunter auf diese Stadt. Al Quds, die Heilige, mit ihrem neuen Namen, mit ihrem alten Namen Jeruschalajim. Es ist ein schönes Anwesen, eines von dem man sagt: Das schönste, das ich kenne. Wenn ich in Jerusalem leben müsste, hier über dem Garten Getsemane, mit diesem Blick, wäre es am schönsten.
Ich verabschiede mich. Die Mutter schaut prüfend auf mich und auf ihren Sohn, sie kennt ihn. Ich bedanke mich. Said, der Vater, bedankt sich. Ich gehe, aber ich schaue nicht nach links, wo die Trümmer im Mondlicht leuchten. Ich gehe behutsam über den zerstörten Fußweg, durch die Gittertür zwischen verlorenen Torpfosten, die keine Umfriedung mehr bewachen. Hinter mir, das leise Gespräch zwischen Besuchern und Besuchten setzt sich fort. Ich halte meinen Blick nach rechts, wo der eigentliche Garten Getsemane liegt. Davor ist das Haus von Muhamed. Er pflegt den Garten. Und er erzählt auf Deutsch die Geschichte von Jesus: „Als er hier hoch gelaufen war, siehst du, wo mein Finger zeigt, und an meinem Haus angekommen war, hat er beschlossen, er wollte Ruhe halten, in dem Garten…“

2 comments:

Anonymous said...

Exakt richtig

Anonymous said...

Hallo.
Ich mochte mit Ihrer Website gottfried-kraatz.blogspot.com Links tauschen