Friday, May 30, 2008

Geschichten über Kinder

Schulweg
Nennen wir sie Hiba. Sie ist 11 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in An Nu’man. Wie ihre Eltern hat sie einen grünen Ausweis, der sie als Palästinenserin definiert. Und wie ihre Eltern wird sie vom Israelischen Staat als illegal in Jerusalem lebend angesehen. Das ganze Dorf gehört zu Palästina, aber Israel hat seine Sperranlage so um das Dorf herum gelegt, dass die etwa 20 Familien jetzt von den besetzten Palästinensergebieten abgeschnitten sind. Zum Einkaufen, Arbeiten, zum Arzt und zu ihren Freunden und Familienangehörigen müssen sie jetzt eine Grenz passieren und eine strenge Kontrolle über sich ergehen lassen. Jedesmal.
Und da sind wir wieder bei Hiba. Jeden Morgen geht sie zur Schule im palästinensischen Nachbardorf Al Khas und mittags kommt sie zurück. Immer muss sie durch die Kontrolle und ist dabei dem guten oder bösen Willen der Soldaten ausgesetzt. Es ist ein kleiner Kontrollpunkt, von drei oder vier Soldaten bemannt, selten von höheren Offizieren besucht. Die Willkür der gelangweilten Soldaten nimmt hier besonders krasse Formen an. Schon vor einem Jahr hatte ich eine ganze Reihe unglaublicher Geschichten gehört, die in einem Fall mit dem Tod eines Dorfbewohners geendet hatten. Und nun stehe ich Hiba gegenüber, während ihr Vater die Geschichte ihrer Einschüchterung, um ein ganz vorsichtiges Wort zu gebrauchen, erzählt. Eine TV-Gruppe ist etwa gleichzeitig mit uns an dem Kontrollpunkt angekommen und mit der Dokumentation der Situation der Schulkinder beschäftigt. Hiba steht dabei, den Blick gesenkt, während ihr Vater redet. Alle anderen Schulkinder, Mädchen und Jungs verschiedenen Alters, stehen um sie herum. Die Kinder halten sich an das strenge Gebot ihrer Eltern, immer zusammen zu gehen, nie jemanden allein zurück zu lassen.

Hiba war eines Morgens von einer Soldatin in der Drehtür eingeschlossen worden. Sie konnte nicht vor und nicht zurück. Die Soldatin kam hinter ihrem schusssicheren Fenster hervor und verlangte von ihr, sie solle laut und deutlich aussprechen, sie sei eine Hure. Noch mehr Vorschläge von Selbstbeschimpfungen hatte die Soldatin für Hiba bereit. Hiba hat sich verweigert. Die Soldatin brachte ihr Bier, das sollte sie trinken. Für Muslime und erst recht für Mädchen in ihrem Alter ist das eine Provokation und Beleidigung. Auch das hat Hiba verweigert. 15 Minuten hielt die Soldatin das elfjährige Mädchen in der engen Drehtür gefangen. Schließlich hat sie es entlassen, aber angedroht, heute Nachmittag werde sie länger festgehalten, falls sie sich immer noch weigere, den Anweisungen der Soldaten zu folgen. Hiba ist an diesem Nachmittag nicht Hause gegangen. Nach der Schule hat sie den anderen Kindern Bescheid gesagt und ist zu ihrem Onkel gegangen, der in Al Khas wohnt. Abends hat ihr Vater sie abgeholt.

Ich weiß nicht, wie sie es schafft, jeden Tag wieder durch die Grenzkontrolle zu gehen, aber einen anderen Schulweg gibt es nicht und zur Schule will sie doch. Ich weiß auch nicht, wie die Angelegenheit, die von den Eltern als Beschwerde vor die Militärbehörde gebracht worden ist, intern geklärt worden ist. Wurde die Soldatin bestraft? Hängt jetzt ein Aushang in dem Wachhäuschen „Du sollst nicht kleine Mädchen belästigen und einschüchtern“? Ich weiß vor allem nicht, ob die Generale und die Minister und die Parteiführer darüber nachdenken, dass die Besetzung Palästinas durch Israel mit jedem Tag, die sie andauert, nicht nur die Besetzten sondern mehr noch den Besatzern, hier den Soldaten und Soldatinnen mehr ihr menschliches Gesicht nimmt.

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