Tuesday, July 22, 2008

Illegal im eigenen Haus

Zu Besuch in An Nu'man
Wir sitzen in einem Garten in An Nu’man, einem kleinen Dorf östlich von Jerusalem. Es ist ein warmer Sommertag. Jamal Dirawi, der Hausherr, hat uns seine Taubenzucht gezeigt, die umliegenden Dörfer, die man über das Tal weg sieht, und die Bäume, unter denen wir jetzt sitzen, die über den Sommer verteilt Mandeln, Askadinia, Pfirsiche und Birnen tragen werden. „Was ist das für ein Programm, in dem ihr arbeitet? Was heißt ökumenisch?“, fragt Jamal.
Wir erzählen vom ÖRK und von der Zusammenarbeit der Kirchen in der Welt. Wir nennen ihm die Herkunftsländer unseres Teams: Schweden, USA, Deutschland und Südafrika. Seit sechs Jahren kommen Freiwillige nach Palästina und Israel, um die Situation der Leute aus der Nähe kennen zu lernen, um ihre Solidarität mit denen zu zeigen, die unter dem Konflikt und der Besetzung Palästinas leiden, und um später zu Hause, in ihren Kirchen und ihren Herkunftsländern, davon zu berichten. „Das ist nötig“, seufzt Jamal, „die Welt hat sich darauf eingespielt, weg zu gucken und nicht zu sehen, was hier geschieht.“ Es klingt bitter. Er macht eine große Handbewegung über sein Haus, sein Dorf und das Tal unter uns. Die israelische Sperranlage zieht sich als Zaun mit Wachtürmen und mit der Straße für Militärfahrzeuge quer durch die Landschaft. „Hier herrscht Krieg“, sagt er, „unser Land wird gestohlen, unser Wasser wird abgeleitet und wir müssen es teuer zurück kaufen. Wir leben in unserem eigenen Dorf wie Gefangene, wie Freigänger in einem Gefängnis. Aber warum seid ihr hier, was kann Menschen, die aus so schönen Ländern kommen, in dieses deprimierende Land bringen?“
Und wieder erklären wir. Justice erzählt vom langen Freiheitskampf in Südafrika und davon, wie sich das Leben jetzt ändert. Er möchte etwas von den guten Entwicklungen weiter geben, die sein Land erlebt. Ich erzähle von meiner Kindheit in der DDR, von meiner Jugend in den Zeiten des Kalten Krieges, der mich von meinen Eltern und Schwestern getrennt hatte. Und von der Nacht, in der ich gesehen habe, wie die Menschen in Berlin die Mauer sozusagen durchbrochen haben. Wir reden über Hoffnung und über das Ende von Unrechtssystemen, die wir erlebt haben. Wo die Welt nichts mehr erwartet hat, haben die Menschen gewonnen, die an das Unwahrscheinliche geglaubt haben.
Jamals Blick bleibt an dem dürren kleinen Baum in seinem Garten hängen. Ibrahim, sein älterer Cousin folgt seinem Blick und erklärt, dass das Wasser immer wieder gesperrt wird, angeblich wegen Problemen beim Bau der Straße. Aber die Straße ist längst fertig. „Sie sperren uns auch den Strom regelmäßig. Die Telefonleitung ist ganz abgeschaltet. Sie wollen, dass wir das Dorf verlassen.“ Da sind wir beim Thema.

Ein bürokratischer Fehler
An Nu’man ist ein sehr kleines Dorf mit 20 Häusern und ebenso vielen Familien. Eigentlich sind es zwei große Familien mit etwa 220 Einwohnern, die hier wohnen und denen das Land gehört. An Nu’man gehört seit 1967 zu dem Teil Palästinas, das Israel zum Stadtgebiet Jerusalems zugefügt und annektiert hat. Die Dorfbewohner waren aber nicht als Bürger Jerusalems anerkannt worden; sie behielten ihre palästinensischen Ausweise. Später hat die Stadtverwaltung das als Versehen erklärt. Für das Leben im Dorf hatte sich nichts geändert: Man hatte, wie vorher schon, die ärztliche Versorgung und die Krankenhäuser in Jerusalem genutzt, die höheren Schulen, Arbeitsplätze und Bildungseinrichtungen. Es war ein Fußweg bis in den nächsten Vorort, der mit Autobussen an das Verkehrsnetz Jerusalems angebunden war. Aber Freunde und Verwandte wohnten auch in den nächsten palästinensischen Dörfern. Das Leben blieb dörflich und durch die Arbeit auf den Feldern geprägt.
Das hat sich erst geändert, als Israel 2002 seine Sperranlage gebaut hat und einen Kontrollpunkt, den nun jeder passieren musste, der in die Nachbardörfer wollte. Jetzt waren die Bewohner von An Nu’man von allen abgeschnitten: In Israel gelegen, mit palästinensischen Ausweisen ausgestattet, galten sie als illegal in ihren eigenen Häusern. Der Feldweg nach Jerusalem wurde zugeschüttet und bewacht, niemand durfte nach Jerusalem gehen, Autos konnten nicht mehr fahren. Es blieb nur der Weg durch die Sperranlage bzw. der Kontrollpunkt unten im Tal. Verwandte, Freunde, Geschäftspartner und Ärzte wurden nicht mehr durch den Kontrollpunkt gelassen. Auch wir haben immer wieder Schwierigkeiten, passieren zu dürfen. Das Schlimme aber ist, dass die Soldaten an diesem Kontrollpunkt Willkür und Schikanen walten lassen. Als ich das erste Mal 2006 von Jerusalem aus das Dorf besuchte, war ein Bauer auf seinen Esel gebunden worden; der Esel war in Panik ausgebrochen und hatte den Mann hinter sich her geschleift; das hat der Bauer nicht überlebt. Es gab einen Prozess vor dem Verfassungsgericht, wo diese Fälle – von der Militärbehörde geleugnet – das Anliegen des Dorfes stützen sollten, entweder die Sperranlage so zu verlegen, dass das Dorf im Palästinensischen Gebiet liegt, oder den Bewohnern Jerusalemer Ausweise zu geben und den Zugang dorthin wieder zu öffnen.
Demonstration der Siedler
Damals, 2006, habe ich eine Demonstration jüdischer Siedler miterlebt, die den Bau einer Straße nach Jerusalem durch die Felder von An Nu’man forderten. Bei dieser Demonstration waren Armee und berittene Polizei zum Schutz der Siedler eingesetzt worden. Damals habe ich gelernt, dass nach israelischer Sicherheitsauffassung nicht die gut bewaffneten Siedler für die Dorfbewohner gefährlich sind, sondern umgekehrt die Dorfbewohner für die Siedler. Und ich habe gelernt, dass die Siedler professionell vorgehen und bestens organisiert sind. Die Siedler haben ihre Straße bekommen. Sie ist tief in den Berg eingesprengt, der früher An Nu’man mit Jerusalem verbunden hat. Jetzt ist dort kein Durchkommen mehr.
Vor einem Jahr, im Sommer 2007, war ich bei der Anhörung im Verfassungsgericht dabei. Der Spruch der Richter hat „beiden Seiten“, der Armee, die die Sperranlage bewacht und dem Dorf, das von ihr eingeschlossen wird, auferlegt, ihre Beziehungen zu verbessern. Wie sollen die Dorfbewohner ihre Beziehung zur Sperranlage und zu den Soldaten verbessern? Ein endgültiges Urteil war verschoben worden.
Keine Gäste für An Nu'man
Wir sitzen, zwei Gastgeber im eingesperrten Dorf und zwei Besucher aus der weiten Welt, im Garten. Nur Ausländer dürfen noch durch den Checkpoint. Das Abendlicht taucht alles in freundliche Farben. Unsere Gastgeber sind fast überschwänglich. Schon lange sei es her, dass sie Gäste gehabt hätten. Sein Salon – er zeigt auf die beiden großen Fenstern im Obergeschoss – sei verweist. Früher war sein Haus bekannt in ganz Palästina, erzählt er. Aber jetzt sei er abgeschrieben. Zwei Tauben spielen ihr Spiel: Der Täuberich steckt der Taube Essen in ihren Schnabel. Es ist eine lange, tänzelnd ausgeführte Szene. „Pass auf, was er vorhat“, sagt lachend Jamal. Der Täuberich, nach gelungenem Transfer des Geschenkes, springt auf die Taube und tut, was Täuberiche und andere Hähne in aller Welt tun. Die Männer lachen und entschuldigen sich sofort: Sie würden nur lachen, weil unser Besuch sie so glücklich mache. „Wir kriegen doch praktisch keine Gäste mehr“, wiederholt er.
Dieses Jahr, am 9. Juli 2008, wird der Fall wieder aufgerufen. Und das war der Grund, warum wir diesen Besuch bei Jamal Dirawi in An Nu’man gemacht haben.

Unterstützung für An Nu'man - Nachtrag 5. Juli
Unterdessen sind zwei Wochen vergangen. Heute Abend werden wir zu einem Vortrag gehen, den Jamal Dirawi, Richter am Schiedsgericht in Ramallah, über die Situation seines Dorfes halten wird. Dabei wird er, unterstützt von der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al Haq, auch über den Prozess und den Termin in der nächsten Woche berichten. Ich habe keine Hoffnung auf ein Urteil zugunsten des Dorfes – Verlegung der Sperranlage oder Legalisierung innerhalb Jerusalems. Aber meine Aufgabe ist es, Hoffnung zu unterstützen und an das Unwahrscheinliche zu glauben. Wie soll ich das für die Dorfbewohner tun? Werden die Kinder von An Nu’man das Ende der unseligen Besatzung erleben? Und wie bald? Wird meine Kirche ihr eigenes Trauma, die Schuld gegenüber den Juden, so handhaben können, dass sie die Tabusprache gegenüber Israel, die jede wirkungsvolle Kritik an der israelischen Politik behindert, überwinden kann? Ich glaube, sie wird, und ich hoffe, sie tut es bald.

Das Urteil - Nachtrag am 12. Juli 08:
Das Gericht hat gegen das Dorf entschieden, die Sperranlage ist endgültig, die Dorfbewohner müssen einzeln beim Innenministerium Israels Anträge auf Wohnrecht in ihren Häusern stellen, was sie schon dreimal vergeblich getan hatten. Unser Team war heute in An Nu’man und hat sich verabschiedet. Ich habe versprochen, dass ich in einigen Wochen wiederkommen und das neue Team vorstellen werde. Es wird die Aufgabefortführen, die Hoffnung wach zu halten.

Friday, July 04, 2008

Groß Israel

10 Agorot
Es ist eine kleine Münze, aber sie hat großen Ärger gemacht, eine Zehner-Münze mit dem Wert von 2 Cent. Sie sieht aus wie ein Groschen, 10 dieser Zehner haben den Wert eines Schekels. Sie zeigt auf der einen Seite die Zahl 10 und den Schriftzug „Agorot“ in hebräischen und in lateinischen Buchstaben. Auf der anderen Seite zeigt sie im Halbkreis von drei Schriftzügen den Staatsnamen Israel, hebräisch, arabisch und lateinisch. Darüber ist sehr klein und kunstvoll das Siegel der Israelischen Bank aufgeprägt, eine Menora von zwei Ähren gerahmt und sehr groß: das Bild.
Das Bild: Eine Menora, der siebenarmige Leuchter und darunter ein Umriss, nicht rund, nicht eckig, einfach unförmig. Aber dieses Bild, das religiöse Symbol des siebenarmigen Leuchters mit diesem Umriss – dieses Bild ist das Ärgernis.

Drecksgeld
Ein palästinensischer Busfahrer hat, als ich ihm 5 dieser 10-Agoroth-Münzen für einen halben Schekel (dem Äquivalent von 50 Agorot) geben wollte, verärgert reagiert: Dreck, nichts wert, das soll ich wieder nach Israel bringen, dort arbeiten sie mit diesem Mistgeld… Der ganze Bus hat gelacht. Aber ich war verunsichert, weil ich schon einige Male unwirsch zurück gewiesen worden war, wenn ich jemandem mit dieser Münze gekommen war. In Ostjerusalem und in Palästina werden nur die Münzen mit dem Wert 1 und 2 und ½ Schekel benutzt. Alle Zahlen hinter dem Komma werden auf halbe oder ganze Schekel auf- oder abgerundet. Der Groschen wird nicht gebraucht.

Zeit für Geschichten
Eines Tages hat mir ein junger Palästinenser die Geschichte erzählt, die Geschichte zum Ärgernis. Wir waren in Abu Gosh zusammen, einem ehemaligen Standort der Israelischen Armee. Das Gelände gehört der Gemeinde von Beit Sahour, einer der Nachbarstädte von Bethlehem, aber die jüdischen Siedler haben ein Auge darauf geworfen. Sie haben einige Wochen lang jeweils vor dem Sabbat versucht, das Gelände zu besetzen. Einige Nichtregierungsorganisationen, vor allem ihre internationalen Freiwilligen, haben im Gegenzug versucht, an Freitagen noch vor den Siedlern dort zu sein, die rassistischen und zionistischen Sprüche der Siedler zu übermalen und das Gelände zu benutzen. Auf dem Gelände will die Stadt Spielplätze, einen Park und ein Kinderkrankenhaus bauen. Die Aktionen sollen zeigen, dass dieses Gelände nicht für neue illegale Siedlungen zur Verfügung steht. An diesem Tag haben wir Bingo gespielt. Etwa 40 Leute waren auf dem kleinen Hügel zwischen den Bauruinen versammelt und haben sich vergnügt. Falls Siedler kommen würden, sollte ein Schild mit der Aufschrift „Bingo: Mitspielen für 2 Schekel“ sie zum Mitspielen einladen. Die Losung hieß: Keine Provokation, keine Handgreiflichkeiten – nur die freundliche Einladung.
Als ich meine 2 Schekel bezahlen wollte, mehr aus Spaß, denn um Geld ging es ja gar nicht, fiel mir eine 10 Agorot Münze aus dem Geldbeutel. Der Palästinenser neben mir, Walid nahm sie mit spitzen Fingern und warf sie mir zu. Und dann erzählte er erst die Geschichte zur Münze und dann die Geschichte zur Geschichte.

Groß-Israel
Was siehst Du? fragte er mich. Sieht komisch aus… Was für ein Umriss ist das? Ein misslungner Pfannkuchen. Guck genau hin! Siehst du die Mittelmeerküste von Libanon bis zum Nil? Echt, das soll die Mittelmeerküste sein? Was ist dann das große Land östlich davon? Na, vielleicht Israel, Palästina, Jordanien? Und Syrien und Irak! Das ganze ist Groß-Israel, dominiert von der Menora. Das ist doch nicht dein Ernst, habe ich eingewendet. Meiner nicht, das ist der Traum der Zionisten, behauptete Walid. Eine so kleine unbedeutende Münze mit dem Traum von einem so großen Groß-Israel? Israel vom Nil bis zum Euphrat? Ja, sagte Walid, die Landkarte von Groß-Israel und die Menora darüber. Die anderen Palästinenser lachten. So ist das hier, sagte die Holländerin, hier haben alle eine Geschichte.

Ein Gastgeschenk
Und dann erzählte Walid die zweite Geschichte. Ein Israeli sei bei ihm zu Hause gewesen, ein Studienfreund. Nachdem der Gast die Toilette benutzt habe, habe Walid im Regal eine 10-Agoroth-Münze gefunden, habe sie dem Besucher gebracht und zurückgeben wollen. Nein nein, habe der gesagt, das sei ein guter Brauch, so wünsche man Freunden Segen für das Haus, die Münze habe eine freundliche Bedeutung. Nimm das mit, das will ich nicht in meiner Toilette haben, hat Walid den israelischen Besucher beschieden und die Geschichte beendet.
Mir wollte Walid mit der Geschichte zur Geschichte bewiesen, dass dies eine kleine feindselige Münze mit dem Traum der Zionisten sei.

Bingo ohne Siedler
Unser Bingospiel ging gut zu Ende. Siedler waren keine gekommen. Einige von uns bedauerten das, schließlich hätte man gern ihre Reaktion gesehen. Die drei Soldaten, die uns beobachten und Verstärkung holen sollten für den Fall, dass die Siedler wirklich wieder auftauchen und beschützt werden müssten, haben von ihrem Kommandeur Weisung erhalten, uns vom Gelände zu schicken, was wir befolgt haben. Einer der Palästinenser hat ihre telefonischen Verhandlungen abgehört. Sie hatten dem Kommandeur den Vorschlag gemacht, uns wegen unerlaubten Glücksspiels zu belangen. Aber so weit wollte der Kommandeur offensichtlich nicht gehen. Er hat wohl befunden, das sei doch ein Spaß von uns, denn der Soldat am Telefon hat ihm beteuert, nein, das sei gar nicht witzig… Der Vormittag war vergnüglich verlaufen, der Sabbat war nahe, keine gewalttätigen Aktionen für die nächsten Tage auf diesem Gelände zu erwarten. Zuhause habe ich den Computer aufgetan und nachgeschlagen.

Die wahre Geschichte
Und da war wirklich die Geschichte: Die Münze hat ihre neuzeitliche Geschichte im Zusammenhang mit dem Wechsel vom israelischen Pfund zum Schekel, ihren antiken Bezug und ihren Skandal.
Als die 10-Agorot-Münze 1988 im Zug einer Währungsreform in Umlauf kam, hat Arafat eine Pressekonferenz einberufen und Israel beschuldigt, mit dieser Münze eine Karte des künftigen Groß-Israel vom Nil bis zum Roten Meer und zum Euphrat in Umlauf zu bringen. Das sei zionistischer Expansionismus. Soweit der Vorwurf, der einen weiten Nachhall in der arabischen Welt hatte.
Die Bank von Israel gab sich ganz überrascht und trat mit dem antiken Vorbild der Agorot-Münze an die Öffentlichkeit. Diese ist für die Zeit um 40 vor der Zeitrechnung belegt: eine Münze, von dem letzten Hasmonäer-König, Mattathias Antigonus II., geprägt. Von dieser alten Münze gibt es Bilder im Nationalmuseum. Da das originale Fundstück nicht mehr neu und leicht beschädigt war, hat es angeblich den Umriss, der jetzt auf der modernen Nachahmung zu sehen ist. Der Umriss ist nicht identisch, der israelische Künstler, der die Münze entworfen hat, hat von seiner künstlerischen Freiheit Gebrauch gemacht. Aber sie sei keine Landkarte. Soweit die Erklärung.

Die Geschichte von dem verräterischen Umriss indessen, sie bleibt lebendig. Sie hat ihre Wahrheit in dem Misstrauen der Palästinenser gegenüber den aggressiven Zionisten, die immer wieder Ölbaum-Plantagen abbrennen, in ihre kleinen Dörfer eindringen, die nahe bei den großen Siedlungen in den besetzten Gebieten liegen und die Vorposten bauen, wo später Siedlungen von der Regierung anerkannt werden sollen. Das Misstrauen wird täglich von Meldungen dieser Art genährt.
Und die heimliche Einlagerung in palästinensischen Toiletten?

Sunday, June 22, 2008

Nachts am Kontrollpunkt

Zwei Uhr dreißig
Samuel steht jeden Morgen um zwei Uhr auf und geht zum Kontrollpunkt, zum Grenzübergang zwischen Bethlehem und Jerusalem. Er will unbedingt unter den ersten sein wenn das Tor geöffnet wird. Wenn er kommt, sitzen schon ein halbes Dutzend oder mehr Männer vor dem Eingang der Kontrollanlage. Sie haben sich Kartons mitgebracht, zum Teil neben den Müllbehältern aufgelesen, darauf sitzen sie, zwei von ihnen haben sich auf Pappe gelegt und mit Pappe zugedeckt, es sieht aus wie ein Pappsarg. Darunter schlafen sie. Aber sie werden unter den ersten sein, die um fünf Uhr in die Kontrollanlage eingelassen werden. Es ist ruhig um diese Zeit. Die großen Lichtstrahler, die 9 Meter höher oben auf der Mauer angebracht sind, sind noch nicht eingeschaltet. Und der Wind, der vor Sonnenaufgang aufkommen wird, ist auch noch still. Alle paar Minuten kommen mehr Männer, setzen sich oder lehnen sich an die stählernen Gitterstäbe, die hier den 300 Meter langen Käfig bilden, durch den die Männer jeden Morgen geschleust werden. Ab und zu leuchtet ein Feuerzeug auf und Zigarettenrauch weht herüber.

Samuel
Samuel wohnt in einem Dorf nahe bei Herodion, südöstlich von Bethlehem. Es ist zu weit, um jeden Tag mit dem Taxi zu fahren, viel zu früh für eine Buslinie. So schläft Samuel bei einem Bruder in Bethlehem und läuft jede Nacht zum Kontrollpunkt. Seine Familie sieht er, wenn es gut geht, nur am Wochenende. Er hat keine feste Arbeit. Er muss sich an die große Kreuzung in die Gilo-Siedlung stellen und warten, ob ihn jemand für den Tag anheuert. Wie lange steht er dort? Bis 9 Uhr, danach hat er keine Chance mehr, angeheuert zu werden. Und dann fährt er auch nicht gern nach Hause, weil er der Familie kein Geld und nichts zu essen bringen kann. Hat er eine Arbeitserlaubnis? Ja, aber die läuft am Ende der Woche ab. Danach, hofft er, kriegt er eine neue, beantragt ist sie schon; aber es wird schwer, weil er keinen festen Arbeitsplatz hat. Samuel hat drei Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen. Der Junge bereitet sich auf die Oberschule vor. Wenn er es schafft, kann die Familie in einigen Jahren auf ein besseres Einkommen hoffen.

Die Frauen
Samuel ist sicher nicht allein mit dieser Geschichte. Aber er kann Englisch und kann uns deshalb seine Geschichte erzählen. Unterdessen ist es 3 Uhr 25 und die ersten Frauen kommen durch die Gitterschleuse zum Eingang. Sie setzen sich innerhalb der Mauer, in den kleinen Raum, der zwischen Mauer und dem ersten Durchgang liegt. Hier wird später der Wind noch kräftiger wehen, aber Frauen halten sich in der Regel von Männern getrennt auf. Sie kommen jetzt schon, weil sie später kaum eine Chance haben, sich durch die Reihen der Männer zu schlängeln, die dann dicht gedrängt in dem etwa einen Meter breiten Gang stehen. Frauen müssen vorgelassen werden, sie dürfen nicht in eine Situation gebracht werden, wo Männer sie berühren. Na – und das ist in diesem Kontrollpunkt schwer durchzusetzen. Gegen vier Uhr dreißig werden es etwa 15 Frauen sein, danach haben sie etwa eine Stunde lang keine Chance mehr, durch diesen schmalen Schleuse durchzukommen. Fünf Minuten nach vier Uhr kommt ein Soldat und befiehlt den Frauen, diesen Raum diesseits der Mauer zu verlassen. Sie ziehen sich still ein bisschen zurück, einige argumentieren mit dem Soldaten. Der merkt irgendwann, dass er sich nicht durchsetzen kann und zieht sich zurück. Die Frauen setzen sich wieder auf ihren Karton, still, um keinen Anlass für die Durchsetzung der Forderung zu geben.
Wir stehen auf der Bethlehemer Seite der Mauer. Auch hier ist das Schleusengitter etwas verbreitert und bisher ist es auch hier ruhig. Unten, wo der Gang beginnt und die neutrale Beschilderung „Eingang“ angebracht ist, wird es lauter. Taxis kommen an und die Männer fangen an zu streiten.

Das Morgengebet
Aber ich muss einige Minuten zurückgehen, um von dem Gebet zu erzählen. Schon viertel nach drei Uhr hatte ich einen Mann gesehen, der zwischen den Sitzenden aufgestanden war, um sein Gebet zu beginnen. Später, drei Uhr fünfundfünfzig, mit den Rufen der Muezzin von den nahen Minaretten Bethlehems, stehen alle Männer auf. Sie beginnen das Gebet, jetzt gemeinsam. Sie reinigen symbolisch Augen und Ohren, gehen auf die Knie und beugen sich nach vorn, der schmale Gang erlaubt es nicht, mit der Stirn den Boden zu berühren. Sie verharren, ich höre aus der Mitte des umgitterten Gangs einen Vorbeter singen, dann antworten die Männer, singen gemeinsam. Sie legen die Hände auf die Knie und beugen sich vor, nach Süden, in Richtung Mekka. Es ist eindrucksvoll. Es gibt in diesen Minuten nichts anderes als dieses konzentrierte gemeinsame Gebet. Der mit einem Stahlzaun geschlossene und mit Stacheldraht und schwarzer Schmiere gesicherte Gang ist angefüllt von Betenden. Der letzte Ruf des Vorbeters verklingt, die Männer setzen sich, einige Zigaretten werden angezündet. Unten beginnt das Gerangel und schlimmer: Die ersten jungen Männer kommen, gehen an dem Gitter-Gang vorbei nach vorne, klettern über die Stahlgitter und springen zwischen die Wartenden. Die dort Wartenden schreien und schimpfen, aber noch nie habe ich gesehen, dass einer auch nur die Hand erhoben, geschweige denn geschlagen hätte. Und doch ist dieser Kampf zwischen denen, die früh kommen und brav anstehen und den anderen, die sich auf diese Weise vordrängen, unschön und ein schwer erträglicher Kontrast zu dem Gebet.

Fünf Uhr
Unterdessen ist ein kalter Wind aufgekommen. Der Nachthimmel im Osten zeigt Schwächen, die Sterne werden dort blasser. Wir frieren richtig. Aber wir haben eine Ecke besetzt, zwischen Mauer und der Gittertür, wo das Gedrängel uns nicht erreicht. Die Unruhe und die Kampfstimmung um die vorderen Plätze werden jetzt unerträglich. Wir sehen, dass Samuel vorn an der Drehtür steht. Die Frauen lehnen an dem Gitter, dicht bei der Drehtür, die Männer werden sie bevorzugt durchlassen. Punkt fünf Uhr erscheint der Soldat in der Kabine aus Beton und kugelsicherem Glas, er schaltet den Monitor und die Drehtürkontrolle ein, das Licht draußen vor der Mauer und über der Drehtür leuchtet das grüne Lämpchen auf.
Nach zehn Minuten sind auch wir durch die Drehtür gegangen und auf dem Rückweg. Wir müssen diesen ersten Teil der Kontrollanlage hinter uns bringen, um uns gleich hinter der Kabine wieder nach links zu wenden und den Ausgang zu nehmen. Wir laufen den ganzen, von wartenden Männern gefüllten Käfig-Gang, auch hier getrennt durch die zweieinhalb Meter hohen Stahlgitter, hinunter. Viele der Männer, die uns kennen, sehen uns fragend an: Wir haben euch heute gar nicht kommen sehen? Unten begrüßen uns die Händler hinter ihren Tischen oder kleinen Handkarren; einige von ihnen hatten halb drei Uhr morgens schon ihre Stände aufgebaut und uns begrüßt. Jetzt bedanken sie sich und bieten uns Kaffee an, umsonst! Sie erklären den Umstehenden, dass wir schon nachts gekommen seien, weil wir unsere Aufgabe, sie hier moralisch zu unterstützen, so ernst nähmen. Für drei oder fünf Minuten, die wir stehen bleiben und uns unterhalten, auch unsere arabischen Begrüßungsworte hersagen, ist hier eine freundliche, fast euphorische Stimmung.

Wir sind durchgefroren und müde und schämen uns, dass wir uns zuhause hinlegen können, während die Männer hier noch bis zu zwei Stunden Warten vor sich haben und dann ihren Arbeitstag.

Nachtrag
Eine Woche später. Die Leiterinnen unseres Programms kritisieren, dass ich keine Fotos von den Männern gemacht habe, die im Käfig schlafen und beten. Für die Dokumentation wäre das wichtig gewesen. Also mache ich mich heute auf Sonntag den 22. Juni 2008, und gehe noch einmal nachts zum Kontrollpunkt. Nach den ersten Fotos hört die Kamera auf und will neue Batterien. Der Kaffeeverkäufer, Ameen, hat Batterien, aber nicht die richtigen. Er hilft mir, einen Taxifahrer zu finden, der mich zu unserer Wohnung und wieder zum Kontrollpunkt fährt. Ich mache meine Fotos, einige Männer wollen nicht fotografiert werden, vor allem nicht beim Gebet. Ich mache einige Fotos von den Schlafenden. Dann unterhalte ich mich unten bei den Händlern. Trinke einen Kaffee, Ameen will kein Geld.

Said
Said verkauft mit seinen zwei Brüdern süßes Gebäck. Er ist 15 Jahre alt, ein bzw. zwei Jahre jünger als seine beiden Brüder. Sein Vater ist schwer krank und kann nicht mehr arbeiten. Said hat die Schule aufgegeben und verkauft jetzt jeden Morgen hier die süßen Stückchen, die seine Mutter bäckt. Ameen unterstützt die Familie. Er kann gut Englisch und erzählt mir die Geschichte, Said steht daneben und lächelt stolz. Dann nimmt er eines der Bleche auf den Kopf und einen kleinen Karton mit schwarzem und gelbem Tee von Ameen und läuft den eingezäunten Gang nach oben und bietet den wartenden Männern davon an. Den ganzen Morgen lang tut er das, immer werden einige Männer schwach und kaufen ihm was ab. Said krieg einen Schekel für das Gebäck seiner Mutter und einen Schekel für den Tee, der er Ameen abgibt.

Noch einmal: Morgengebet
Kurz vor vier Uhr beten die Männer. Ich mache ein Bild unten auf der Straße, wo ich den Scheich gebeten hatte, fotografieren zu dürfen. Der Scheich ist den ganzen Morgen hier und lädt immer wieder kleine Gruppen von Männern zum Gebet ein; dann sammelt er Geld für die Moschee, die er in seinem Dorf südlich von Hebron bauen will.

Dreiviertel fünf
Meine Kollegen kommen mit dem Gast, einem Quäker aus England. Die Frauen kämpfen sich durch die Gitterschleuse, der Gast ist bald abgehängt. Die Männer machen hinter den beiden Frauen, deren Gegenwart drinnen im Terminal sie schätzen, wieder zu. Der Gast, eher als Tourist eingeschätzt, steckt fest. Von außen lotse ich ihn durch, die Männer kennen mich und machen Platz für den Fremden. Es dauert geschlagene 13 Minuten, bis ich ihn vorne am Eingang bei den beiden Frauen, die unsere Weste tragen, „abliefern“ kann. Wieder unten an der Straße, gibt Ameen mir einen Kräutertee. Alles ist still und friedlich und ich berichte per Handy an Anna oben am Eingang, dass heute ein guter Tag ist, die Männer stehen weit die Straße hinunter, in Viererreihen, diszipliniert und ruhig. Ich stecke das Handy ein. Da bricht ein Sturm los, Geschrei und Gerenne: gut hundert Männer laufen auf den Käfig-Eingang zu, daran vorbei und stürmen weit vorne die Stahlgitter, klettern hinüber und lassen sich drin im Gang auf die Wartenden fallen… Also doch. Ich mache automatisch einen Eintrag in meinen Notizblock: “4.59 am, the men from the end of the line are storming the steel rods to climb and jump”.

Verstört, wie immer nach dieser Frühschicht, verlasse ich diesen ungastlichen Ort. Aber ich kaufe Said 5 süße Stückchen ab, zum Frühstück für das Team und den Gast. Sie sehen aus wie Schoko-Croissants und kosten einen Schekel jedes Stück. Sie machen sich gut auf dem Tisch, weil doch Sonntag ist.

Friday, June 13, 2008

Himmel über Bethlehem

Der Himmel über Bethlehem ist voller Gebete
Es gibt Tage, wo die Luft spürbar schlecht ist, an anderen Tagen fegt der Wind durch die Straßen, wirbelt Staub auf und drückt einem die Dreckfahne eines geschäftigen Tages ins Gesicht. Der Wind lässt dann kühlere Luft zurück und darum nimmt man seine Aggression hin. Es gibt Abende, an denen die Luft eine Spur feuchter ist als sonst, weil es ein Westwind war, der sich vom Mittelmeer die Berge herauf gemüht hat. Regen bringt auch dieser Wind nicht, Wolken vielleicht, graue Wolken, die den Abendhimmel frühzeitig färben, aber keinen Regen. Angenehm ist der Wind aus Osten, er ist trocken und treibt die angestaute Luft aus der Stadt.
Weiter oben, aber das stelle ich mir nur vor, über den Städten Jerusalem und Bethlehem, da steht die Luft still. Sie ist angefüllt von Gebeten, muslimischen Gebeten, die den melodischen Rufen der Muezzine folgen, fünf Mal am Tag steigen diese Gebete in dichten Reihen auf. Christliche Gebete folgen ihnen, über den ganzen Tag verteilt, meist in arabischer, aber auch mal in aramäischer Sprache in den vielfältigen Traditionen der orientalischen und westlichen Kirchen. Schließlich sind dort, hoch am Himmel über diesen Städten, die jüdischen Gebete, die von der Klagemauer aufsteigen, von den Tischen der Sabbatfeiern, aus Synagogen. Der Himmel ist wie ein reifer Olivenbaum, voller bläulicher Früchte. Würde einer den Himmel schütteln, würden sie alle herabfallen, die leichten und die schweren Früchte, die Litaneien, die Stoßgebete, die leisen dankbaren und die laut geschrienen. Der Himmel über Bethlehem ist verhangen von Empfindungen, Schmerzen, Wut und Sehnsucht nach Erlösung.

Was macht der Himmel mit all diesen Gebeten?

Der Jüdische Soldat
Wenn die Zeit für das Gebet gekommen ist, breitet der Muslim, der gut vorbereitet ist, auch wenn er weit weg von einer Moschee oder von zu Hause ist, den Teppich oder den Pappkarton aus und beginnt sein Gebet. Wir sehen Männer, die durch den Checkpoint durch gekommen sind und in der ersten Ecke, die sich bietet, ihr Gebet beginnen. Und keiner schenkt ihnen Beachtung oder lacht. Der jüdische Soldat in der Kabine unterbricht seine Arbeit, die Arbeitserlaubnisse der Männer zu überprüfen und sie durchzuschleusen, Männer, die vielleicht schon über eine Stunde lang anstehen und durch die Kontrolle wollen. Der Soldat legt sich den Gebetsschal über Kopf und Schulter, dreht sich in eine Ecke, wo er niemanden sehen muss und betet. Draußen die Muslime warten schweigend und hoffen, der Beter in Waffen ist von der schnellen Sorte. Der Besitzer des Andenkenladens im Souk bewegt langsam den Rosenkranz in seinen Fingern und verfolgt gleichzeitig das Geschehen in der Gasse vor seinem Laden. Er kann nicht zur Marienvesper gehen, aber mit seinen Gebeten ist er dabei.

Da war der Jeep, der quer in der Straße hinter dem Ar Ram Checkpoint stand. Zwei Soldaten, einer saß mit dem Sturmgewehr in beiden Händen auf dem Kühler, der andere hatte die Waffe umgehängt, aber eben auch den Gebetsschal, Helm ab, die Kippa auf dem Kopf und, von der Straße abgewandt betend. Einige Jungs machen sich den Spaß und spielen mit einer Blechbüchse Fußball, der Soldat, der die Wache doppelt wachsam halten muss, guckt zu, sein Kopf ist klar nach rechts gerichtet. Währenddessen klettern links drei Jungs über die Mauer, die hier nicht hoch ist, hinüber. Das Manöver war klar. Das Gebet und die Ablenkung. Und kaum sind die drei Jungs hinüber, hören die anderen mit ihrer Blechbüchse auf und rennen lachend davon.

Gebet an der Mauer
Jeden Freitag Abend treffen sich die Caritas-Schwestern vom Kinderkrankenhaus an der Mauer zum Gebet. Die Brüder der Christlichen Schulen (vom La-Salle-Orden) schließen sich ihnen an, manchmal eine Novizin des nahen Emanuel Klosters oder auch Pilgergruppen aus aller Welt. Es ist das Stück Mauer zwischen dem großen Tor, das nur für Touristenbusse und Ausländer mit eigenem PKW geöffnet ist und dem Kloster. Es ist nicht weit von unserer Wohnung entfernt und wir gehen möglichst regelmäßig hin. So lernen wir den Grundbestand der Rosenkranz Litanei auf Italienisch, Arabisch, Englisch und Deutsch. Wir gehen auf und ab, dreimal, eine halbe Stunde lang. Dann tauschen sich die Beter noch über dies und das vom Tage, über wichtige Ereignisse und über das kleingeschriebene Menschliche aus. Dann gehen sie jeder seiner Beschäftigung nach. Warum haben sich die Schwestern diesen Ort ausgesucht, beten sie für oder gegen was? „Nein“, sagen sie, „die Juden haben ihre Klagemauer und wir begnügen uns mit dieser Mauer hier, Gott hört und sieht uns alle“. Mehr Kommentar ist von ihnen nicht zu kriegen. Gebet? Muss man das erklären?

Gebet im Käfig
Es ist früh, zwei Uhr dreißig, der Sternenhimmel klar, die Nacht noch lange nicht fertig. Wir kommen zum Kontrollpunkt, dem viel gehassten Checkpoint. Wir wollen mit eigenen Augen sehen, ob die ersten Männer wirklich schon vor drei Uhr hier ankommen. Und es stimmt: Sechs Männer liegen, in Pappkartons eingepackt, am oberen Ende des Gitterweges. Hier ist der schmale Durchgang durch die ca. 45 cm dicke Mauer. Davor sitzen und liegen sie. Sie sind um 2 Uhr gekommen. Wir zählen und schreiben auf, wie viele in den nächsten 2 Stunden kommen. Um fünf Uhr wird der Eingang geöffnet und sie wollen die ersten sein, die durchkommen. Die Männer, die erst gegen fünf Uhr kommen, haben dann ca. 800 Frühaufsteher vor sich und müssen bis zu zwei Stunden warten, bis sie durch die Kontrollen durch sind.
Um 2.55 Uhr, sagen meine Notizen, steht ein einzelner Mann auf und betet. Ein früher Muezzin hat zum Gebet gerufen, ich weiß nicht, warum so früh. Um 3.55 Uhr, da ist der eingezäunte Weg schon bis unten hin voll von sitzenden Männern, erheben sich alle, die Muezzin singen von allen Minaretten. Die Männer stehen Schulter an Schulter nach Mekka ausgerichtet und vollziehen die gleichen Bewegungen, das Symbol der Waschung, das Hinknien, mit der Stirn den Boden berührend und so weiter. Dann hören wir einen Vorsänger, schön singt er, schlicht und die Männer antworten im Chor. Sie stehen auf, stehen still und gesammelt, legen die Hände über die Knie und senken die Köpfe. Es ist eindrucksvoll, es lädt ein, mitzubeten, es ist ein bewegender Anblick. Ein gemeinsames kräftiges Gebet steigt über diesen Käfig aus Stahl und Stacheldraht, in denen die Männer eingezwängt sind. Hat das Gebet einen Bezug zu dem Ort und der Situation, in der die Betenden sich befinden? Sie sind fertig und setzen sich wieder auf ihre Pappkartons. Und unmittelbar danach bricht weit unten das Geschrei aus. Es kommt von den Männern innerhalb des eingezäunten Weges und betrifft die jungen starken Männer, die wie Gangs aus den Sammeltaxis an der eingezäunten Schlange der Wartenden vorbei gehen, bis dahin, wo die Soldaten den Stacheldraht jeden Tag neu befestigen. Dort klettern sie und springen zwischen die Frühaufsteher, die hier schon seit einer Stunde sitzen und rauchen oder schweigend warten. So sparen die Eindringlinge eine gute Stunde Warten. Lautes Schimpfen, aber keine Handgreiflichkeiten.
Was für ein Kontrast: Das Gebet und das Kampfgeschrei!

Der Himmel wird licht von Osten her. Ein kalter Wind kommt auf und die Männer hier vorne vor dem Mauerdurchlass schützen sich mit den Kartons, die sie mitgebracht haben. Die Soldaten haben Wachwechsel, für einen Moment steht die Tür vom Wachturm, der in die Mauer integriert ist, offen. Oben im Wachturm ist Licht. Die Kamera hat die Bilder vom Gebet der Männer in den Raum dort oben übertragen. Was bedeutet den Soldaten, vielleicht frommen Juden, die selber viermal am Tag beten – was bedeutet ihnen das Gebet der Männer, die sie gleichzeitig verachten und fürchten?

Der Gott Abrahams
In meinem Pfarrkonvent in Berlin kam einmal die Frage auf, ob der Gott der Muslime, der Juden und der Christen derselbe Gott ist. Keine Zweifel: Der Gott Israels und der Vater von Jesus ist in unserer Theologie derselbe. Aber Zweifel, Scheu und heftige Abwehr herrschen vor gegen den Gedanken, auch Allah könnte der Gott unseres Glaubensbekenntnisses sein. Wie wenig relevant ist diese Frage hier, in der Situation Palästinas! Wie viel wichtiger ist die Frage: Wessen Auslegung der Thora, der Bibel und des Koran ist richtig oder ist verbindlich oder verdient unser Vertrauen. Oder, mit dem Blick in den Himmel über Bethlehem: Welche Gebete dringen durch zum Gott der Kinder Abrahams?

Wäre er wie wir Menschen, er müsste zwischen Schmerz, Zorn und Mitleid schwanken. Lachen wäre sicher auch dabei. Aber er ist nicht wie wir. Vielleicht schickt er Petrus mit einem großen Besen und lässt ihn von Zeit zu Zeit den ganzen Himmel über Bethlehem ausfegen – mindestens, um Platz für neue Versuche zu machen. Besser: Die Beter sollten hören lernen, wie ihr Nachbar betet, wie er sein Leiden, seinen Dank, seine Sehnsucht vor Gott bringt.

Der Himmel über den Heiligen Städten dieses Landes ist voll von Gebeten. Hören wir sie?

Wednesday, June 11, 2008

60 Jahre Naqba in Bethlehm


Die Lebende Uhr von Bethlehem
Sonntag, 8. Juni 2008

Die Internationale Woche der Kirchen für Frieden in Palästina und Israel ist abgeschlossen. Sie hat in Jerusalem begonnen und wurde in New York mit einem Gottesdienst mit der Jerusalemer Liturgie beendet. Das war gestern, Sonntag, 8. Juni 2008.
Für uns in Bethlehem war der Höhepunkt die Aktion mit der Lebenden Uhr auf dem Platz vor der Geburtskirche. Ungefähr 100 Leute aus Bethlehem und aus aller Welt haben eine Uhr dargestellt, deren 60 Minuten den 60 Jahren der Naqba entsprechen sollten. 60 Leute mit den Nummern 1 bis 60 standen in einem großen Kreis. In der Mitte der Uhr hat sich ein Zeiger bewegt, die Menschen haben hier die Buchstaben für die Losung „It’s time for Palestine“ gezeigt. An der Spitze des Uhrzeigers trug der Mensch mit dem Buchstaben „e“ eine Fackel, mit der er die Fackel von jedem einzelnen Jahr der Gedenkuhr anzündete. Am Schluss brannten alle Fackeln und die Lebende Uhr des Gedenkens sang gemeinsam das Lied:
Yarabba ssalami amter aleina ssalam…= O Gott des Friedens, lass Frieden auf unser Land regnen…“

Der das Licht rund um die Uhr trug und alle Fackeln zum Brennen brachte, war Justice aus Südafrika von unserem Ökumenischen Begleitprogramm. Weitere 7 Freiwillige aus unserem Programm waren in der Uhr beteiligt, Gottfried war eine der beiden in Rot gehaltenen Zahlen, die 60 für die 60 Jahre der Naqba, der Katastrophe für Palästina.

Hier ist der Link zu dem Video, das die Aktion zeigt: http://www.youtube.com/watch?v=zI4Ja6loTWk

Friday, May 30, 2008

Brief an ein Kind

Liebe Paula!
Dein Geburtstagsgruß mit den vielen Wäscheleinen ist angekommen. Das hat gut gepasst, weil ich gestern meine ganze Wäsche gewaschen habe und die Wäscheleinen draußen im Hof gerade Mal so gereicht haben. Da war das Bild, das Du gemalt hast genau das richtige Thema. Vielen Dank dafür.

Ich konnte Dir nicht rechtzeitig zu Deinem Geburtstag schreiben, weil ich Eure Adresse nicht habe. Jetzt ist es zu spät und ich schicke den Brief durch die Computer – von meinem zu Eurem. Ich sitze also hier in Bethlehem, hoch in den Bergen von Palästina und denke an Dich, Du bist jetzt eben aus dem Kindergarten nachhause gekommen und spielst vielleicht allein für Dich in Deinem Zimmer. Bei mir ist fast jeden Tag gutes Wetter, aber das kann einem auch schnell mal zu viel werden, wenn man stundenlang in der Sonne steht und läuft und sitzt und dann einen kleinen Sonnenstich abgekriegt hat. Also: Nachträglich wünsche ich Dir zu Deinem Geburtstag ein schönes neues Kinderjahr, wo Du spielen und lernen und so fröhlich sein kannst, dass Dich die Erwachsenen darum beneiden. Du bist jetzt fünf Jahre alt und weißt schon, dass ein Geburtstag ein besonderer Tag ist: Dein Tag eben.

Bestimmt hast Du schöne Sachen geschenkt gekriegt. Ich schicke dir von hier schöne Fotos und kleine Geschichten dazu.

Da ist zuerst das Bild vom Esel. Vor einigen Tagen waren wir in einem Dorf, wo sich die Männer zu einer Demonstration versammelt haben, sie wollten nämlich bis ans Ende ihres Dorfes gehen, wo die Soldaten auf sie gewartet haben. Dort wollten sie den Soldaten sagen: Geht nach Hause, wir brauchen Euch hier nicht. Und vor dieser Demonstration haben die Männer, weil es Freitag war, der Tag, der in ihrer Religion für das besondere gemeinsame Gebet vorgesehen ist, wie bei uns der Sonntag, wo wir in die Kirche gehen. Diese Männer sind aber nicht in ihre schöne Moschee gegangen, die mitten im Dorf liegt, sondern sie haben sich an dieser Straße getroffen, zwei Minuten von den fremden Soldaten entfernt. Da haben sie sich auf die Straße gesetzt und haben ihr Gebet gemeinsam verrichtet, einer hat laut vorgesungen und dann haben alle in den Gesang eingestimmt. Es war sehr schön. Ich schicke Dir ein Foto davon mit.
Aber das Bild vom Esel. Als wir an dieser Straße ankamen, war noch niemand da. Nur ein Esel kam die Straße herunter getrabt. Der Esel war ziemlich beladen: mit einigem Werkzeug für die Arbeit auf dem Feld, mit Grasbüscheln als Abendbrot für den Esel, mit einem gelben Kanister mit Wasser für den Bauern und einem grünen Kanister mit Wasser für den Esel und, natürlich saß der Bauer oben auf. Schau Dir das Foto an: Da siehst Du den Esel mit der ganzen Last geduldig die Straße lang laufen. Und, guck genau hin: Was siehst Du hinter dem Esel? Eine Tankstelle. Natürlich braucht der Esel keine Tankstelle. Autos halten dort und tanken Benzin. Unser Esel läuft also ganz gleichgültig an der Tankstelle vorbei. Er interessiert sich auch nicht für die Autos, die Taxis, die Männer, die jetzt zum Gebet auf der Straße kommen und interessiert sich auch nicht für die fremden Soldaten, die den Bauern gefragt haben, wo er herkommt und was er in seinem gelben und in seinem grünen Tank hat. Na – weißt Du noch, was in dem einen und in dem anderen Tank ist?
Ich weiß nicht viel von dem Esel, aber wenn Du willst, kann ich für dich raus finden, wo der Esel lebt, wo er arbeitet und wie er die Welt findet, in der er lebt.
Stell Dir mal vor, Ihr hättet kein Auto. Wie würdet Ihr zum Beispiel in Euren Garten kommen? Mit dem Werkzeug und all den Sachen zum Grillen und Trinken? Na? Ihr würdet Euch einen Esel kaufen, oder besser zwei, einen für Paula und Sabine und noch einen für Christof und Emil. Das würde dann viel länger dauern, als jetzt die Fahrt mit dem Auto, aber es wäre einfacher, als zu Fuß laufen und die vielen Sachen zu tragen. Aber der Esel könnte dann, während Ihr den Grill fertig macht und Rasen mäht und euch hinsetzt und esst und trinkt, der Esel könnte währenddessen ganz schön von Eurem Gras und von den Blumen fressen. Die würde er besonders lieben. Ist das eine gute Idee?
Hallo Paula, hörst Du noch zu? Ich weiß, es gibt immer zwei Geschichten, wenn Dein Dassi Dir vorliest. Also sollst Du auch heute in diesem Geburtstagsbrief eine zweite Geschichte sehen.

Jetzt also das Bild von dem Kaktusstrauch. Siehst Du es? Der Strauch selbst ist grün, er hat dicke Zweige und Blätter, man kann gar nicht sagen, ob das Zweige oder Blätter sind. Sie sind dick und vor allem: Sie haben Stacheln. Davon erzähle ich gleich mehr. Der Kaktus hat wunderschöne große gelbe und rote Blüten, deshalb macht er so ein schönes Bild, schöner, als ich es malen kann. Vielleicht kannst Du den Kaktus abmalen?
Wie soll ich anfangen? Bei den Stacheln. Der Mann, der uns durch das verlassene Dorf geführt hat, Yakuub, hat uns erklärt: Überall da, wo wir solche Kaktussträucher sehen, befindet sich ein Dorf der Palästinenser. Da, wo wir waren, war das Dorf verfallen und seine Bewohner sind von den fremden Soldaten vertrieben worden, jetzt haben die alten Leute Enkelkinder in Deinem Alter und die wollen auch gern wieder in das alte Dorf kommen, das dürfen sie aber nicht. Die fremden Soldaten erlauben es nicht. Das Dorf heißt Lifta und ist ganz nahe bei der Hauptstadt von Israel und von Palästina. Die Hauptstadt heißt Jerusalem, den Namen hast Du bestimmt schon von mir gehört, weil ich schon zweimal ganz lange dort war.

Aber zurück zum Kaktus. Dieser Strauch eignet sich gut als Schutz rund um ein Dorf, weil er diese grässlich scharfen Stacheln hat, so lang, wie ein Finger und dünn, wie eine Nähnadel. Kein Tier will von diesem stachligen Strauch essen. Und genau so ist es gemeint, dass alle Tiere, die wilden Tiere, aber auch die Schafe und Ziegen, die draußen vor dem Dorf ihr Gras suchen sollen, abgehalten werden, in das Dorf herein zu kommen, außer, die Bauern machen das Gartentor auf und lassen ihre Schafe und Ziegen herein. Soweit also die spitzen Stacheln.
Und nun zu den Früchten. Mmmm! Sie sind süß, sie sind weich, sie zergehen auf der Zunge und schicken einen feinen Duft durch die Nase und wenn man abbeißt, ist es wie Geburtstag und Weihnachten zusammen. Mann muss sie allerdings schälen, weil auch ihre Schale sehr unangenehm ist, stachlig und voller klitzekleiner Fäden, die sich schnell über die Hände und Arme verbreiten und fürchterlich kitzeln. Hat man die widerspenstige Frucht aber geschält und führt sie sacht in den Mund – mmmm! Aber das hab ich ja schon beschrieben.

Dieser Kaktus hat also zwei große Begabungen: Er schützt das Dorf oder einen Bauernhof mitten in den Feldern vor unwillkommenen Tieren. Und einmal im Jahr gibt er seine Frucht, er gibt sie nicht gern her, darum die Stacheln, aber dann schmeckt diese Frucht wunderbar süß. Der Kaktus hat einen Namen. Hier geht die Geschichte, die ich Dir erzähle, nämlich noch ein Stück weiter. „Sabre“ heißt dieser Kaktus. Und das wird von den Bewohnern der Dörfer und von den fremden Soldaten verschieden ausgesprochen. In der Sprache der Dorfbewohner bedeutet „Sabre“ soviel wie Ausdauer oder Geduld. Sie nennen diesen Strauch so, weil er die heiße Sonne und die Dürre, wenn es monatelang nicht regnet und die Kälte im Winter alles ganz still erträgt und auch mal ein Jahr ganz ohne Regen aushält und wartet, aber dann blüht er wieder und lässt diese wunderbare Frucht wachsen. Die Dorfbewohner lieben ihren „Sabre“, sie möchten auch so sein, stachlig, ausdauernd und mit seinen Wurzeln fest im felsigen Grund verwachsen. Sie möchten die böse Zeit, in der die fremden Soldaten sie aus ihren Dörfern vertrieben haben, geduldig abwarten und eines Tages wiederkommen und ihre verlassenen Häuser wieder herrichten und von den Kaktus-Früchten essen. Das kann man doch verstehen, oder?

Das Wort „Sabre“ wird aber von den fremden Nachbarn, die die Soldaten geschickt haben, nicht nur anders ausgesprochen, es hat auch eine andere Bedeutung. Für sie bedeutet der Name und der Strauch: Sie sind in diesem Land geboren, haben gekämpft, um es sich zu erobern und wollen es für immer behalten. Stachlig wollen sie sein, starke Soldaten gegen die Bewohner der Dörfer und süß, weil sie das Land mit seinen Kaktus- und den anderen Früchten lieben und behalten wollen.
So hat dieser seltsame Strauch, stachlig und süß, seine Bedeutung für die Dorfbewohner und für die fremden Soldaten. Das sieht man dem Foto nicht an, nicht wahr? Ich schicke dir also ein Foto von dem Dorfbewohner mit, der uns die halb zerfallenen Häuser und die Gärten mit Oliven- und Mandelbäumen gezeigt hat und von den Häusern, damit du siehst, wie schön sie einmal waren.

Paula, schläfst Du noch nicht? Du kannst Dir die Geschichte morgen noch einmal vorlesen lassen und die Bilder angucken. Und Du kannst mir auch Fragen stellen. Ich schicke Dir die Antworten, versprochen. Jetzt schicke ich den Brief ab, damit Du ihn bald hast.
Tschüs!
Dein Dassi aus Bethlehem

Geschichten über Kinder

Heiliger Antonius
Er trägt eine braune Kutte mit Kapuze, ein Seil ist durch kleine Schlaufen geführt und locker geknotet, ein dunkelroter Rosenkranz hängt neben den Kordeln herab. Er ist zwei und ein halbes Jahr alt. Er heißt Toni. Wir denken erst, dass er ein Spiel spielt, dass er sich verkleidet hat. Aber seine Tante erklärt uns, was es mit dieser Kutte auf sich hat: Toni trägt sie immer, vor allem, wenn er das Haus verlässt, oder wenn Besuch kommt, so wie jetzt gerade.

Antoinette, eigentlich seine Großtante, hat uns eingeladen und erzählt uns jetzt einiges aus der Geschichte dieses Hauses. Es ist eigentlich kein altes Haus, aber es hat so viele Geschichten gesehen, wie der Palast aus Tausendundeiner Nacht. Das Haus liegt dicht an der Grenze zwischen dem Jerusalemer Stadtgebiet und Bethlehem. Jetzt ist da eine Mauer gebaut, 12 Meter ist sie hoch. Sie geht hier weit in das Bethlehemer Gebiet hinein, ummauert eine Exklave, die Israel für sich reklamiert, das Gelände von Rachels Grab. Antoinettes Haus steht in einer Ecke, von zwei Seiten durch diese Mauer eingezwängt. Die Hälfte ihres Gartens ist für sie nicht mehr erreichbar, sie liegt auf der Jerusalemer, der Israelischen Seite. Weil das hier Grenzgebiet ist, hat das Haus viel vom Krieg, der hier die Geschichte der letzten 60 Jahre geprägt hat, gesehen. Hier wurde 1948 und 1967 gekämpft und wieder mit der ersten und mit der zweiten Intifada. Die Geschichten sind nicht so schön, wie die aus Tausendundeiner Nacht, obwohl es finstere Nachtgeschichten sind.

Das Zimmer, in dem wir sitzen und Tee trinken und Askadinyas essen, frisch vom Baum gepflückt, hat einige Bilder und große Fotos an seinen Wänden hängen. Auf einem ist eine riesige Familie zu sehen. Antoinette benennt uns alle ihre Kinder, Enkel und die ersten Urenkel. Einige Kinder sind zu früh geboren: Kriegskinder, deren Mütter von einer Bombe, die in der Nähe explodiert ist, betäubt worden war, oder von Tränengas überwältigt, das Kind fast verloren haben. Anton ist so ein Kind. Als die Mauer gebaut wurde, haben hier die Soldaten den Palästinensern aufgelauert, die eine Lücke in der Mauer nutzen und zu ihren Arbeitsplätzen laufen wollten. Bei einem Tränengasangriff ist die Mutter zu Fall gekommen und hat das Kind zu früh geboren. Toni ist im Brutkasten aufgezogen worden. Als er schließlich gesund zu seiner Familie in dieses Haus in der Mauerecke zurück konnte, haben die Eltern beschlossen, ihn dem Heiligen Antonius zu weihen. Und das sieht so aus, dass Toni jetzt ein Jahr lang die braune Kutte der Franziskaner trägt. Er trägt sie gern und ist stolz auf sie. Er entwickelt sich gut, aber er ist ängstlich, „als ob er weiß, wie es bei seiner Geburt zugegangen ist“, erklärt die Großtante.

Wir sind im Obergeschoss und sehen uns um, nach Jerusalem hinüber, nach Beit Jalla hinauf und zum Grab der Rachel. Wir sind aber im Blickfeld der Soldaten im Wachturm drüben. Der ist etwa 200 Meter entfernt, hat aber mehrere Videokameras. Jedenfalls hatte ich gerade den Wachturm in meiner Kamera fokussiert, als meine Kollegen mich am Ärmel zurückzogen, weil die Soldaten ihrerseits heftig winkten und bedeuteten, dass wir nicht fotografieren dürften.

Toni wächst also in diesem Haus auf, dessen Garten die Familie kaum mehr benutzt, weil er durch die Mauer und den übrig gebliebenen Bauschutt alle Schönheit verloren hat. Im Hof kann er spielen. Aber Nachbarn hat er kaum, weil die meisten Häuser hier leer stehen, die Bewohner sind „bis auf weiteres“ vertrieben worden. Nur Antoinette ist hier geblieben. Sie hat einen britischen Pass und Schutz. Am 13. Juni wird Toni den Feiertag seines Schutzherrn begehen. Wünschen wir ihm dafür einen schönen Tag und die Hoffnung, dass, so klein er ist, so schutzbedürftig, wie er aufgewachsen ist, er für das stehen wird, wofür sein Patron steht: Für das Wiederfinden verlorener Sachen! Wünschen wir ihm, dass er mit des Heiligen Antonius Hilfe den ganzen Garten, die Mandel- und Askadinyabäume seiner Familie, die Freiheit, sich in seinem eigenen Land bewegen zu können, zurück erhalten wird. Wünschen wir ihm, dass er die staubigen Reste der Mauer in seinem Garten eines Tages seinen Kindern und Enkeln wird zeigen und erklären können, was für finstere Zeiten dieses schöne Land hinter sich hat…

Geschichten über Kinder

Schwarze T-Shirts
Jeden Freitag finden Demonstrationen in den Dörfern um Bethlehem statt. Freitag ist Feiertag. Die Muslime haben am Mittag ihr großes Gebet, die Moscheen sind dann voll. Und die Juden beginnen mit der Dämmerung den Sabbat, in den jüdischen Städten und Jerusalemer Wohnvierteln sind dann die Straßen voll, die frommen Juden, und es gibt viel von ihnen, gehen in die Synagogen. Freitag, Feiertag, arbeitsfrei, Zeit zum Demonstrieren.

Wir sind in Umm Salomone, einem Dorf südlich von Bethlehem. Die Szene ist eingeübt. Soldaten sperren den Ausgang des Dorfes auf die Landstraße ab. Stacheldraht ist quer über die Straße gelegt. Dahinter stehen sie, in ihren Furcht erregenden Kampfanzügen, schwer bewaffnet, breitbeinig in zwei Reihen. Vor dem Stacheldraht viele Kinder, einige Männer, die nachher reden werden. Zwei Fernsehkameras, Reporter, die manchmal plötzlich auf der Seite der Soldaten stehen und ihre Fotos von den Demonstranten schießen werden, von den Soldaten gelitten, weil der Sinn dieses Spiels hier genau der ist: Schrecken zu verbreiten und zu zeigen, wie unerbittlich und unbezwingbar die Soldaten mit Demonstranten fertig werden.

Plötzlich sehen wir Gerangel. Die Kinder haben angefangen, den Stacheldraht, der richtig böse, nicht mit harmlosen Stacheln, sondern mit unzähligen kleinen Klingen besetzt ist, zu sich herüber zu ziehen, zur Dorfseite hin, damit er irgendwann nicht mehr sperrt. Die Soldaten fassen sofort zu und nun ziehen sie von beiden Seiten, die kleinen und die großen Jungs. „Ein Männerspiel!“, sagt Anna, meine schwedische Kollegin. Sie sagt es verächtlich. Irgendwann sind die großen Jungs abgelenkt und merken nicht, dass die kleinen Jungs listig an einer Stelle nachgegeben haben, ein Soldat fällt um, das Gewehr klackert auf der Straße, Unsicherheit bei den großen Jungs, ihre Spielfreude lässt für einen Augenblick nach und die kleinen Jungs ziehen den Stacheldraht schnell auf die andere Straßenseite. Jetzt ist kein Stacheldraht mehr da und die Soldaten werden echt böse, rufen Befehle, ziehen sich einige Meter zurück, bilden eine feste Reihe, breitbeinig, ihre Gewehre im Anschlag. Die kleinen Jungs laufen mit dem Stacheldraht in Richtung Dorf, wie eine lange Schlange ziehen sie ihn hinter sich her, sie lachen. Ich will den weiteren Fortgang nicht berichten. Auch die Reden nicht, die an uns wenige Zuschauer gerichtet sind, auf Englisch und für meinen Geschmack etwas zu pathetisch...
Was hat es mit den schwarzen T-Shirts auf sich? Schwarz steht für die Trauer über die andauernde Naqba, die Katastrophe von Flucht und Vertreibung. Die Zahl 194, mit weißen Buchstaben dargestellt, steht für die UN-Resolution vom Dezember 1948. In ihr ist das Recht der Palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Dörfer festgelegt. Die Zahl 8, in roter Farbe, macht daraus die Jahreszahl 1948, das Jahr der Katastrophe, in der eine halbe Million Palästinenser vertrieben – und danach nie wieder zurück gelassen worden war. 60 Jahre Naqba, 60 Jahre Missachtung der UN-Resolution. Und mit der Errichtung der Sperranlage, die hier weiter gebaut werden soll, werden neue Familien ihres Landes beraubt oder heimatlosl.

Aber warum tragen die kleinen Kinder schwarz, Jungs, die gerade erst in die Schule gekommen sind? Warum werden sie hier gegen die Soldaten aufgestellt? War das denn ihre eigene Idee? An einer Stelle des Demonstrations-Theaters, das hier gespielt wurde, haben einige Jungs plötzlich zwei Finger in V-Form nach oben gereckt, dicht vor die Gesichter der Soldaten, die darauf zum Teil wütend reagiert und nach den kleinen Fingern geschlagen haben, wie man nach einer Fliege schlägt. Ich denke, hier ist das gute Anliegen des Dorfes Umm Salomone, das durch eine Mauer von seinen Feldern und von der Landstraße abgetrennt werden soll, eine Mauer, die die illegalen Siedler der grünen Städte schützen soll, die Israel hier wie eine Perlenkette so anlegt, dass ein weiter Teil Palästinas praktisch an Israel angeschlossen wird – hier ist das gute Anliegen durch die verspielte Art des Protestes verwässert. Und die Kinder werden dafür missbraucht, die kleinen Jungs. Die großen sowieso: Wie dumm müssen die sich vorkommen in diesem unwürdigen Spiel!

Geschichten über Kinder

Milchgesicht
Bin ich noch bei Kindergeschichten?
Sein Gesicht fasziniert mich. Ich stehe ziemlich weit in den vorderen Reihen, wo ich eigentlich nicht sein soll. Das Gerangel um den Stacheldraht ist vorbei: Soldaten und Zivilisten, vor allem die ganz jungen, stehen sich hier gegenüber. Kleine Gespräche, meist von den Zivilisten angezettelt, springen über die unsichtbare Linie, die die Soldaten sichern sollen. Einige Gesichter in den Uniformen sind eisig, oder abweisend. Andere sind gleichmütig, wieder andere wachsam. Aber eines ist dabei, von einem Ansatz eines blonden Bärtchens geschmückt, mit einer Brille, die das verlegene Lächeln der Augen nicht verbergen kann – ein Gesicht, das mehr einem Kind gehört, als einem Soldaten. Er soll Schrecken verbreiten, dieser Soldat, aber das hat er nicht richtig gelernt. Unter ihm spielt gerade ein Kind Soldat, es steht breitbeinig da, hält ein imaginäres Gewehr in den Armen und hat ein fürchterliches Gesicht aufgesetzt. Der Soldat lacht. Lacht er über das Kind? Ist er um sich selbst verlegen?

Ein Gedanke nistet sich bei mir ein: Was macht dieses Land Israel mit seinen Kindern?!

Geschichten über Kinder

Schulweg
Nennen wir sie Hiba. Sie ist 11 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in An Nu’man. Wie ihre Eltern hat sie einen grünen Ausweis, der sie als Palästinenserin definiert. Und wie ihre Eltern wird sie vom Israelischen Staat als illegal in Jerusalem lebend angesehen. Das ganze Dorf gehört zu Palästina, aber Israel hat seine Sperranlage so um das Dorf herum gelegt, dass die etwa 20 Familien jetzt von den besetzten Palästinensergebieten abgeschnitten sind. Zum Einkaufen, Arbeiten, zum Arzt und zu ihren Freunden und Familienangehörigen müssen sie jetzt eine Grenz passieren und eine strenge Kontrolle über sich ergehen lassen. Jedesmal.
Und da sind wir wieder bei Hiba. Jeden Morgen geht sie zur Schule im palästinensischen Nachbardorf Al Khas und mittags kommt sie zurück. Immer muss sie durch die Kontrolle und ist dabei dem guten oder bösen Willen der Soldaten ausgesetzt. Es ist ein kleiner Kontrollpunkt, von drei oder vier Soldaten bemannt, selten von höheren Offizieren besucht. Die Willkür der gelangweilten Soldaten nimmt hier besonders krasse Formen an. Schon vor einem Jahr hatte ich eine ganze Reihe unglaublicher Geschichten gehört, die in einem Fall mit dem Tod eines Dorfbewohners geendet hatten. Und nun stehe ich Hiba gegenüber, während ihr Vater die Geschichte ihrer Einschüchterung, um ein ganz vorsichtiges Wort zu gebrauchen, erzählt. Eine TV-Gruppe ist etwa gleichzeitig mit uns an dem Kontrollpunkt angekommen und mit der Dokumentation der Situation der Schulkinder beschäftigt. Hiba steht dabei, den Blick gesenkt, während ihr Vater redet. Alle anderen Schulkinder, Mädchen und Jungs verschiedenen Alters, stehen um sie herum. Die Kinder halten sich an das strenge Gebot ihrer Eltern, immer zusammen zu gehen, nie jemanden allein zurück zu lassen.

Hiba war eines Morgens von einer Soldatin in der Drehtür eingeschlossen worden. Sie konnte nicht vor und nicht zurück. Die Soldatin kam hinter ihrem schusssicheren Fenster hervor und verlangte von ihr, sie solle laut und deutlich aussprechen, sie sei eine Hure. Noch mehr Vorschläge von Selbstbeschimpfungen hatte die Soldatin für Hiba bereit. Hiba hat sich verweigert. Die Soldatin brachte ihr Bier, das sollte sie trinken. Für Muslime und erst recht für Mädchen in ihrem Alter ist das eine Provokation und Beleidigung. Auch das hat Hiba verweigert. 15 Minuten hielt die Soldatin das elfjährige Mädchen in der engen Drehtür gefangen. Schließlich hat sie es entlassen, aber angedroht, heute Nachmittag werde sie länger festgehalten, falls sie sich immer noch weigere, den Anweisungen der Soldaten zu folgen. Hiba ist an diesem Nachmittag nicht Hause gegangen. Nach der Schule hat sie den anderen Kindern Bescheid gesagt und ist zu ihrem Onkel gegangen, der in Al Khas wohnt. Abends hat ihr Vater sie abgeholt.

Ich weiß nicht, wie sie es schafft, jeden Tag wieder durch die Grenzkontrolle zu gehen, aber einen anderen Schulweg gibt es nicht und zur Schule will sie doch. Ich weiß auch nicht, wie die Angelegenheit, die von den Eltern als Beschwerde vor die Militärbehörde gebracht worden ist, intern geklärt worden ist. Wurde die Soldatin bestraft? Hängt jetzt ein Aushang in dem Wachhäuschen „Du sollst nicht kleine Mädchen belästigen und einschüchtern“? Ich weiß vor allem nicht, ob die Generale und die Minister und die Parteiführer darüber nachdenken, dass die Besetzung Palästinas durch Israel mit jedem Tag, die sie andauert, nicht nur die Besetzten sondern mehr noch den Besatzern, hier den Soldaten und Soldatinnen mehr ihr menschliches Gesicht nimmt.

Saturday, May 17, 2008

60 Jahre Naqba

Gerechtigkeit ist der Schlüssel zur Zukunft

Das kleine Mädchen zeigt nach oben und ruft etwas, ängstlich oder ärgerlich? Ihr großer Bruder beugt sich zu ihr herunter und erklärt etwas. Sie bleibt aufgeregt, aber dann leuchten ihre Augen. Jetzt sehe ich es auch: Ein Bündel schwarzer Luftballons hatte sich im Schlüsselbart verfangen und seinen Weg in den Himmel nicht gefunden. Jetzt hat er sich aber gelöst, steigt auf und wird vom Wind nach Osten getrieben.

Der Schlüssel, ein überdimensionales Exemplar eines altertümlichen Schlüssels liegt auf dem Bogen, der hier symbolisch für das Schlüsselloch und für das Tor zur Gerechtigkeit steht. Es ist ein altertümlicher Schlüssel mit Bart, wie er heute kaum noch irgendwo in Gebrauch ist, auch hier in Palästina nicht. Aber es ist der Schlüssel, der in vielen Wohnungen palästinensischer Flüchtlinge hängt, neben der Tür, vielleicht mit einem Foto von dem Haus, in dessen Haustür er vor der Flucht oder Vertreibung gepasst hatte, dem Heim der Flüchtlingsfamilie. Die Kinder kennen die Geschichte vom Schlüssel und von dem Haus der Familie, dem Eselstall im Hof und den Oliven- und Mandelbäumen im Garten. Die Kinder hier im Aida Flüchtlingslager wachsen mit den Erinnerungen der Großeltern, mit der Geschichte zu diesen Schlüsseln auf.

Wir befinden uns in einem der drei Flüchtlingslager von Bethlehem, dem Aida-Camp. Heute ist der 15. Mai, Naqba-Tag und in diesem Jahr ein besonderer, der 60. Gedenktag der Katastrophe der Palästinenser. Während Israel ausgelassen sein Jubiläum der Staatsgründung feiert, trauert Palästina.

Es war nicht leicht, hierher zu kommen, nicht weil der Weg schwer zu finden war; das Flüchtlingslager ist in einer Viertelstunde Fußweg von unserer Wohnung aus zu erreichen. Sondern weil einige Leute aus der Gruppe, mit der wir verabredet waren, beschlossen hatten, statt zu der Gedenkfeier zu der Demonstration des Widerstandes nach Beit Sahour zu fahren. Dort haben heute früh israelische Siedler, in berechneter Provokation der trauernden Palästinensischen Nation ein Grundstück in Beit Sahour besetzt, das die Israelische Armee vor einiger Zeit geräumt und der Stadtverwaltung von Beit Sahour und Bethlehem übergeben hatte. Ein Park, Spielplätze, ein Gemeindezentrum sollten dort gebaut werden, die Bauschilder standen schon, die EU als Sponsor auf den Schildern. Die Siedler waren bewaffnet, sie sind bei ihren Aktionen immer zum Kampf bereit. Als erstes haben sie die Bauschilder zerstört. Palästinenser, die sich nach der gewaltsamen Besetzung durch die Siedler heute früh dort versammelt hatten, wurden von Israelischer Grenzpolizei abgedrängt. Ein Rechtsanwalt, der sich zum Sprecher des spontanen Protestes gemacht hatte, war verhaftet worden. Wir standen im Büro vom Holy Land Trust und besprachen die Situation. Unser Team der Ökumenischen Begleiter hat sich gegen die Fahrt nach Beit Sahour entschieden und stattdessen wie geplant den Weg ins Aida Flüchtlingslager genommen.

Jetzt fliegen die Luftballons, die „den Himmel über Palästina schwarz färben“ sollen, als Ausdruck der Trauer. Sie fliegen, 21.915 Ballons, vom Wind getrieben, nach Osten. Es ist je einer für jeden Tag der „Naqba“, der Katastrophe. Kinder in schwarzen Hosen und mit der Aufschrift „1948“ auf den schwarzen T-Shirts, kommen aus dem Jugendzentrum, Bündel von Luftballons in den Händen, jeweils einen Zettel tragend mit der Schilderung von Details der Schicksale der Familien hier im Flüchtlingslager. Die Bündel mit ihren Geschichten steigen auf und brechen den blassblauen Himmel auf. Die Erwachsenen schauen ihnen nach, ihre Minen zeigen nicht, was sie denken.

An dieser Stelle muss ich meine ganz eigene Erinnerung an die letzten Luftballons nennen: Vor genau 2 Wochen habe ich Luftballons fliegen sehen, auf der Hochzeit unseres jüngsten Sohnes. Rote Luftballons, von fröhlichen Menschen in den Himmel geschickt, mit kleinen Zetteln und Wünschen für die beiden Hochzeiter. Der Wind trug die Ballons hoch hinauf und aus dem grünen Garten in Babelsberg über Potsdam weg in die Havellandschaft... Was für ein Kontrast zu der Demonstration des Schmerzes, die wir hier im Aida Flüchtlingslager im Palästinensergebiet haben.

Wir werden in den nächsten Tagen immer wieder mit der Frage an sie herantreten: Wie lange glauben sie, wird es brauchen, bis die Gerechtigkeit, von der alle Slogans handeln, sich durchsetzen wird. Gebt uns unsere Häuser wieder! Lasst uns zurückkehren in unsere Dörfer! Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts an Palästinensern gegen die Anerkennung Israels! Gebt uns Gerechtigkeit und ihr werdet Frieden finden! Das sind die Slogans dieser Tage.

Zwei kleine Jungs streiten sich, weil sich ihre Bündel Ballons verhakt haben, sie werden handgreiflich, eine ältere Schwester greift ein und schlägt vor, dass sie ihre verhakten Bündel zur gleichen Zeit los lassen. Das tun sie. Ein dicklicher Junge versucht, mit seinen Ballons hoch zu springen und zu fliegen, was Lachen bei den Umstehenden auslöst. Ein älterer Mann, der mit anderen Männern an einer Mauer lehnt, fängt einen Ballon auf, der schlapp gemacht und abgesunken ist. Verlegen macht er drei Schritte auf die Kinder zu und gibt seinen Fang an sie ab. Unter dem riesigen Schlüssel haben sich die größeren Jungs mit Fahnen versammelt, sie tanzen und singen. Auch eine Doppelreihe Mädchen hat sich zum Tanz bereit gemacht, die Gesichter leuchten, die Fahnen flattern im Wind. Es ist eine große Stimmung. Ich glaube, diese Kinder werden sich noch als Erwachsene an diesen Tag und die Aktion mit den schwarzen Luftballons erinnern. Hoffentlich haben sie dann bessere Aussichten auf ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden, als ihre Eltern es heute haben. Hoffentlich findet der Schlüssel– der die Inschrift trägt: „nicht zum Verkauf“ – seine Tür zur Gerechtigkeit und schließt sie auf.

Monday, August 13, 2007

Zum Israelsonntag, 12. August 2007

Israel braucht Kritiker

Singt Gott das neue Lied, singt laut! Mit diesem Motto aus Psalm 33 sollen wir den diesjährigen Israelsonntag feiern. Ja! Es geht um Gott und wie wir ihn gemeinsam in der Welt bezeugen, Christen und Juden. Gott loben, darin finden wir Gemeinsamkeit. Und was die Gemeinsamkeit stört, darüber dürfen wir streiten.

Der reale Staat Israel
Israel, der reale Staat Israel – Israel muss an diesem Tag thematisiert werden. Dieser Staat Israel ist kein Lob Gottes vor den Völkern. Das Judentum, das dieser Staat Israel nach außen darstellt, schafft Gott keine Freunde, nicht unter seinen Nachbarn und nicht in der Gemeinschaft der Völker. Die Völker kommen heute nicht nach Zion, um seinen Gott zu loben. Ich sage: Dieses Israel braucht Kritiker, keine falschen Freunde, die die Augen vor dem Unheil, in das es läuft, verschließen.

Anders als unsere reformatorischen Väter sehen wir heute „Israel“ nicht als das abgestrafte alte Volk Gottes. Anders als die Protestanten des 19 Jahrhunderts sehen wir „die Juden“ nicht als Objekt christlicher Mission. Wir sehen Israel als Gottes Modell und als Partner für unser Bekenntnis zu Gott in einer gottlosen Welt. Und das reale Israel, wie alle Versuche, einen Gottesstaat auf Erden zu errichten, verdient dabei unsere kritische Aufmerksamkeit.

Engagiertes Hinsehen
Israel braucht Kritik, nicht blinde Zustimmung zu seiner selbstzerstörerischen Politik. Ich schreibe das, nachdem ich zweimal im Friedensprogramm des Weltkirchenrates in Israel/Palästina mitgearbeitet habe, insgesamt ein halbes Jahr lang. Ich war in Jerusalem, in seinem Westen, seinem Osten und seinem Umland, jenseits der Sperranlage, in den abgeschnittenen Vororten und Nachbarstädten. Ich habe das Leiden der Menschen in diesem Land gesehen und sie lieben gelernt. Gott sei Dank!

Ich stand da, wo morgens um 5 Uhr die ersten tausend Männer und einige Frauen darauf warten, durch die Sperre gelassen zu werden, die Israel durch das Land gezogen hat. Ich habe die demütigenden Prozeduren erlebt, denen sie dort unterzogen werden. Ich habe versucht, zu helfen, wenn Palästinenser abgewiesen wurden: Kranke, die in ihre Krankenhäuser in Ostjerusalem, Pilger, die zum Freitagsgebet zur Al Aqsa Moschee oder Menschen, die einfach Arbeit in der Stadt suchen wollten. Ich habe ihre tiefe Frustration zu spüren gekriegt. Und ich habe dort auch Menschen getroffen, die verzweifelt versucht haben, an einen Weg aus diesem Zustandes suchen. Gott sei Dank!



Traumatisiert
Ich habe junge Soldaten gesehen, die dabei von Angst und Aggressivität und Offiziere, die vom Gefühl der Macht geleitet wurden. Ich habe Menschen unter der Belastung leiden sehen, die jede Besatzungsmacht prägt: Väter, die ihre Söhne nicht mehr verstehen und Kinder, die das Schweigen der Väter über ihre Kriegserlebnisse nicht mehr aushalten. Aber ich habe auch Kriegsdienstverweigerer gesehen, die den Mut haben, dafür ins Gefängnis zu gehen. Und Mütter, die sich jeden Morgen aufmachen, um die jungen Soldaten an den Kontrollpunkten auf mindestens faires Verhalten zu verpflichten. Gott sei Dank!

Ich habe Menschen erlebt, die sich gegenüber stehen, die getrennt in einem Land aber in zwei traumatisierten Gesellschaften leben. Menschen die geprägt sind von Angst vor- und Hass gegeneinander; die die Eskalation von Tat und Folge erleben, aber nicht rational zu ihren Anfängen zurück verfolgen; die fatalistisch oder aggressiv in die nächste Runde steigen, weil niemand ihnen den Weg aus dem Trauma weist. Völker, die ihr Trauma kultivieren - und Nachbarn, die sich auf die eine oder die andere Seite stellen? Wo soll da Hilfe herkommen? Aber ich habe auch Menschen erlebt, Israelische Soldaten und palästinensische Freiheitskämpfer, die ausgestiegen sind, die miteinander reden und die dafür werben, dass auch andere aussteigen und miteinander reden. Und Väter und Mütter, die um Gefallene, um Opfer von palästinensischen Selbstmordattentaten und von israelischen Erschießungskommandos trauern; die sich zusammentun: Israelis und Palästinenser, weil Trauer nicht trennen muss, sondern auch einen kann. Diese Menschen zeigen den Weg aus dem Trauma. Es gibt sie. Gott sei Dank!

Israelische Freunde
Ich bin befreundet mit Israelis, die als Führer und Pädagogen im großen Gedächtnis-Mahnmal, in Yad VaShem arbeiten und die sich daneben für eine Gedächtniskultur Israels engagieren, in der auch die Zerstörung von arabischen Dörfern und die Vertreibung von Palästinensern erinnert werden. Befreundet mit Israelis, die sich gegen die Vernichtung der Kultur der Beduinen und ihre Zwangsumsiedlung in Lager einsetzen. Ich habe mit ihnen gemeinsam Chanukka, Schawuot, den 9. Aw oder einfach den Beginn des Sabbat gefeiert – oder neben ihnen gestanden bei ihren Mahnwachen. Es gibt mutige Israelis. Gott sei Dank!

Noch ein Wort zu meinen israelischen Freunden. Sie haben verschiedene politische Ansichten. Sie setzen mit der Kritik bei Konzepten des Zionismus ein oder mit der falschen Entscheidung zur fortdauernden Besatzung der Palästinensergebiete oder bei der Militarisierung der Gesellschaft. Diese Freunde wollen nichts davon hören, dass ich als Deutscher sage: Ich als Deutscher… Nein!, sagen sie, Du musst das Trauma der Deutschen Schuld überwinden, sonst bist du uns nichts nutze! Sie geben mir das Recht, hier als Mitmensch und als Christ zu schreien: Israel braucht Kritik, nicht vornehmes oder ängstliches Wegschauen. Und sie trauen uns das zu, gerade uns Deutschen. Gott sei Dank!

Kommt, lasst uns streiten! Gott loben, das ist unsere, der Juden und der Christen gemeinsame Mission in der Welt. Der Jüdische Staat Israel, der sich nicht vom Trauma seiner langen Vorgeschichte trennen kann, braucht unsere Solidarität. Jerusalem und Israel, die Stadt und das Land der Gotteserfahrungen, die das alte Israel, die die Christenheit, die der Islam dort gemacht haben – sie brauchen unser Gebet. Sie brauchen unsere Kritik.
Denn Gott braucht ein neues Lied.

Vereidigung von Soldaten vor der Klagemauer