Saturday, November 18, 2006

Ausflüge in die Vergangenheit

Berichte aus Jerusalem

Ausflüge in die Vergangenheit
12. November 2006

Nini war zu Besuch. Tobias und Yaara haben mit uns Ausflüge gemacht: In die Vergangenheit Israels.

Zuerst waren wir in Cäsarea, der Stadt, die Herodes zu Ehren von Kaiser Octavian Augustus gebaut hat, eine planvoll angelegte, moderne Stadt. Das war um die Zeitenwende. Die Ruinen legen noch heute Zeugnis ab von der Pracht und Lebensart in dieser Stadt. Herodes hat hier Hof gehalten. Alle vier Jahre hat er große Spiele mit Pferderennen und Tierkämpfen veranstaltet und große Lebensart gezeigt. Später war die Stadt Teil des Byzantinischen Reiches und verlor an Glanz. Einige Jahrhunderte haben Menschen in dieser Stadt gelebt, es wurde aramäisch, lateinisch und griechisch gesprochen. Heiden, Samariter, Juden und Christen haben hier gelebt. Griechische Mosaik-Inschriften im Pflaster einiger Innenhöfe lassen ahnen, wie das Leben in dieser Stadt am Mittelmeer verlaufen ist. Und aus sehr später Zeit ist ein Minarett übrig geblieben. Übrigens: Paulus ist hier dem römischen Statthalter vorgeführt worden, hat auf einem fairen Prozess in Rom bestanden und ist dorthin überführt worden. Das alles ist genug, um die Ruinen und Ausgrabungen unter die bedeutenden historischen Stätten dieser Region einzuordnen.

Aber es geht um mehr. Die Stadt Cäsarea spricht aus der Zeit, in der das Land jüdisch war, wenn auch von Römern beherrscht und von einem Nicht-Juden, Herodes, verwaltet. Es spricht aus der Zeit, in der die Einwohner dieses Landes zur Minderheit wurden und aus der abgelegenen Provinz, die keine eigene, keine jüdische Identität mehr hatte, in alle Himmelsrichtungen wegzogen. Es spricht vom Ende des Alten Israel.

Am nächsten Tag sind wir nach Zikhrov Ya’kov gefahren, das auf einem Hügel über dem Meer liegt. Hier haben Siedler der ersten Alija ein Moschaf gegründet. Sie haben hier getan, was sie in Europa nicht durften: Land gekauft und als Ackerbauern gelebt. Und sie haben eine erfolgreiche Landwirtschaft aufgebaut, die in dieser Region neu war. Das Dorf ist stolz auf eine für das Neue Israel entscheidende Geschichte: Leute haben hier Widerstand gegen die Türken geleistet, junge Frauen haben als Spione gegen das Osmanische Reich gekämpft und sind hingerichtet worden. Jetzt ist das Dorf eine touristische Attraktion, weil hier der Beginn des Neuen Israel dargestellt ist. Die Häuser und Höfe dieser ersten Alija sind noch erhalten, die Synagoge aus der Zeit, als das Dorf ein ansehnlicher Marktflecken wurde. Die Strassen tragen die Namen der Gründer. Sie sind voller Boutiquen und Kaffees. Und der Blick auf die Ebene nach Süden, auf das Hügelland unter dem Karmel und auf das Mittelmeer macht was her. Das Städtchen war voll von Menschen, die wie wir das schöne Wetter und diesen Ausflug in die Geschichte des Neuen Israels genießen wollten.

Zurück in Jerusalem habe ich, zusammen mit allen Freiwilligen vom Ökumenischen Friedensprogramm die Israel-Woche angefangen. Wir waren im Holocaust-Museum. Darüber kann ich nicht berichten, das geht mir zu nahe. Die Gruppe hat sich nach dem Besuch zusammengesetzt und über die Gefühle, die jeder hatte, ausgetauscht. Solange habe ich mich abseits in den Schatten eines Baumes gesetzt. Dieses Stück Geschichte, obwohl ein halbes Jahrhundert alt, ist mir so nahe und so schwer auf der Seele, dass jedes Wort darüber schmerzt.

Danach waren wir in einem kleinen Dorf, nicht weit von der Gedenkstätte. Das Dorf heißt Lifta. Es liegt zwischen den Hügeln, auf denen der Westen Jerusalems ausläuft und die Berge nach hinunter ins flache Land am Meer abfallen. Das Dorf Lifta ist nicht mehr bewohnt. Die Häuser haben keine Fenster und Türen mehr, Bäume wachsen aus Treppen und Terrassen. Die Natur erobert sich diese einstige Ansiedlung zurück. Die Moschee ist von außen nicht mehr zu erkennen. Die Ölmühle, die vor einem Jahr noch zu sehen war, ist vom herab gestürzten Dach begraben. Kein Schild zeigt den Namen des Ortes. Kein Zeichen würdigt diesen Ort der jungen Geschichte des Neuen Israel eines Gedenkens. Eine Schnellstraße führt darüber und der Bus, der uns bringt und abholt, muss einen großen Umweg fahren, um in dieses abgelegene Tal zu finden. Lifta ist ein Dorf, das im Krieg von 1948, den die Palästinenser Al Naqba, das Verhängnis, nennen, von israelischen Truppen erobert worden. Seine Einwohner sind vertrieben worden. Das Land gehört zu Israel. Aber der Besitz an Boden und Gebäuden liegt bei den Bewohnern, die zum Teil noch am Leben sind. Sie wohnen jetzt in Flüchtlingslagern in Israel oder in Jordanien und versuchen, ihre Rechtstitel durchzusetzen. Die Stadt hat Pläne für eine neue Bebauung des Berghanges, auf dem das Dorf und seine Oliventerrassen liegen, immer wieder in die Schublade gelegt. Hat das Dorf Lifta, gegen den Trend, dem alle anderen Dörfer verschwunden sind, noch eine Chance? Kann es wieder zum Leben erwachen? Oder kann es eine Gedenkstätte für das Schicksal vieler Dörfer in Israel werden, wo der Flüchtlinge und Vertriebenen und ihrer Kultur, die sie hier Jahrhunderte lang gelebt haben, gedacht wird? Es gibt Israelis, die genau das wollen, unsere Führerin gehört zu ihnen.

Auf dem Rückweg aus dem Dorf zu der Straße, auf der der Bus wartet, treffen wir am eingefassten Dorfbrunnen einige junge Männer. Sie tragen die Tracht der Orthodoxen Juden und vollziehen ein Reinigungsbad im alten Brunnen von Lifta. Dann laufen sie davon, es sind Hippies, erklärt uns die Führerin, sie wollen nicht, dass wir sehen, in welchem Haus sie wohnen. Es ist eine wunderliche Szene: Die Jungs im schwarzen Habit mit den wehenden weißen Hemdschößen und die hellen Ruinen der Häuser, deren Bewohner hier nicht wohnen dürfen oder die Bäume und Sträucher, die vom Regen ermutigt, grün und stark über Straßen und Balkone wachsen.

Ausflüge in die Vergangenheit sind in diesem Land immer politisch. Sie sollen etwas beweisen oder sie dürfen es nicht.

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